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Dr. Christoph Werkmeister

Zur Hemmschwellentheorie bei den Tötungsdelikten – Anmerkung zu BGH NJW 2012, 1524 ff.

Rechtsprechung, Schon gelesen?, Strafrecht, Strafrecht AT

Von Dominik Schnieder
In seinem Urteil vom 22.03.2012 (BGH NJW 2012, 1524 ff.) hatte der Bundesgerichtshof Anlass, sich erneut mit den Anforderungen an den bedingten Tötungsvorsatz auseinander zu setzen. Durch die Studienliteratur und Rechtsprechung geistert dabei immer wieder der Begriff der „Hemmschwellentheorie“. Was darunter zu verstehen ist, erscheint auf den ersten Blick klar: Bei Tötungsdelikten sind höhere Voraussetzungen an den Vorsatz zu stellen (so in aller Schlichtheit: Rengier, BT II, § 4, Rn. 9). Dass dem in dieser Einfachheit nicht so ist, soll im Folgenden dargelegt werden.
I. Sachverhalt
Nachdem es sowohl inner- als auch außerhalb eines Nachtclubs wiederholt zu körperlichen Auseinandersetzungen zwischen dem Angeklagten und seinem späteren Opfer gekommen war, gelang es den Türstehern, den Streit zunächst zu schlichten und die Gruppen zu trennen.
Der Angeklagte, der sich damit nicht abfinden wollte, setzte dem Opfer nach und stach diesem unter dem Ausruf „Verreck‘, du Hurensohn!“  von hinten kommend ein 22 cm langes Messer in den Rücken, wobei er die achte Rippe durchtrennte und mit der Klinge in die Lunge eindrang. Das Opfer befand sich in akuter Lebensgefahr und wäre ohne sofortige Notoperation mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verstorben.
Das LG verurteilte den Angeklagten unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und einem Monat. Die hiergegen gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft war erfolgreich.
II. Erläuterungen
Ansatzpunkt für die Diskussion um die Hemmschwellentheorie ist das voluntative Vorsatzelement beim dolus eventualis. Ist in der Literatur lebhaft umstritten, ob neben das cognitive auch ein voluntatives Element tritt, um insbesondere bewusste Fahrlässigkeit und bedingt vorsätzliches Handeln voneinander abzugrenzen (vgl. Fischer, § 15, Rn. 9 ff.), geht der BGH wie selbstverständlich davon aus:

 „[26] Bedingt vorsätzliches Handeln setzt nach ständiger Rechtsprechung des BGH voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt, ferner dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet“

Doch welche Anforderungen sind nun an das vom BGH vorausgesetzte billigende Inkaufnehmen des Todes zu stellen?
So weist das Gericht selbst darauf hin:

 „[35] Der Hinweis [des LG] auf eine „Hemmschwellentheorie“ entbehrt somit jedes argumentativen Gewichts.“

Vielmehr gelte:

 „[34] Im Verständnis des BGH erschöpft sich die „Hemmschwellentheorie“ somit in einem Hinweis auf § 261 StPO.“

III. Würdigung
1. Anforderungen
Ausgangspunkt für die Bestimmung, ob der Täter mit bedingtem Tötungsvorsatz handelte, muss demnach sein, dass es zwar grundsätzlich, aber nicht ohne weiteres möglich ist, von der Gefährlichkeit einer gewalttätigen Handlung auf das Vorliegen des Vorsatzes zu schließen (Verrel, NStZ 2004, 309).
Vielmehr obliegt es dem erkennenden Gericht, umfassende Feststellungen zum Geschehen zu treffen. Es muss eine Gesamtbetrachtung anstellen, die neben der Tat auch den Täter umfasst [BGH NStZ 2003, 431 (432)]. Einzubeziehen sind insbesondere die Motivation des Täters und sein Nachtatverhalten, Äußerungen vor, bei oder nach der Tat sowie die Tatausführung selbst (so: Trück, NStZ 2005, 233 m.w.N.) – kurz: alle objektiven und subjektiven Tatumstände (Fischer, § 212, Rn. 8).
Die anschließende Gesamtbetrachtung geschieht letztlich durch Hypothesenbildung. Das erkennende Gericht kann die den beweisenden Sachverhalt tragende Hypothese als zutreffend belegen, indem es alle dem konkreten Fall entsprechenden Alternativhypothesen aufstellt und für unvereinbar mit dem relevanten Geschehen erklärt (MüKo-Schneider, § 212, Rn. 11).
Es ist also dazu aufgerufen, Gegenindizien zu suchen, die es ermöglichen können, den Schluss von der äußeren Gefährlichkeit der Tathandlung auf das voluntative Vorsatzelement zu entkräften [Verrel, NStZ 2004, 309 (310)]. Findet es solche Gegenindizien nicht oder können sie den äußeren Schluss nicht wiederlegen, so handelte der Täter bedingt vorsätzlich.
An dieser Stelle wird auch der Hinweis des BGH auf § 261 StPO virulent. Dieser verlangt, dass das Gericht über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung entscheidet. Das zur Entscheidung berufene Gericht muss sich subjektive Gewissheit über die entscheidungserheblichen Tatsachen verschaffen (Joecks, StPO, § 261, Rn. 2), gebildet auf einer rational-objektiven Grundlage [BGH NJW 1999, 1562 (1564)]. Sicheres Wissen an sich kann es dabei nicht geben [vgl. BGH NStZ 1995, 590 (591)]. Doch muss das Gericht auf Grund der ermittelten Hypothesen zu der Überzeugung gelangen, dass kein vernünftiger Zweifel an der den Sachverhalt tragenden Hypothese besteht. Diesen Anforderungen genügte das Landgericht nach Ansicht des BGH im vorliegenden Fall nicht.
Es hätte sich vielmehr:

 „[35]… damit auseinandersetzen müssen, dass schon der festgestellte Handlungsablauf, nämlich das wuchtige und zielgerichtete Stechen eines Messers aus schnellem Lauf in den Rücken eines ahnungslosen Opfers, das Überwinden einer etwa vorhandenen Hemmschwelle voraussetzt.“

2. Kritik
Hinter der Konstruktion, die weitläufig als „Hemmschwellentheorie“ bekannt geworden ist, versteckt sich also mehr als ein glitzernder Name für eine plakative Aussage. Natürlich sind die Anforderungen an den Tötungsvorsatz höher als diejenigen, welche an den Diebstahl einer Cola-Flasche gestellt werden. Doch lässt sich dieses Verhältnis sicher nicht in Zahlen fassen. 10% mehr Tötungsvorsatz – so etwas gibt es nicht.
Die „Hemmschwellentheorie“ ist keine naturwissenschaftliche Gegebenheit, die durch bloßes Erwähnen umfassende Rückschlüsse auf die Wirklichkeit zuließe. Hinter ihr verbirgt sich vielmehr ein komplexes Ausschlussmodell, dessen Grundlage auf umfassenden Tatsachenermittlungen und-würdigungen fußt.
Dass diese Tatsachenermittlung in der Instanzenrechtsprechung häufig zu kurz kommt und mit pauschalen Hinweisen auf ebenjene „Theorie“ übergangen wird, moniert der BGH somit zu Recht [BGH NJW 2012, 1524 (1526 f.)]. Nichtsdestotrotz muss sich auch die Rechtsprechungspraxis des BGH in der Literatur Kritik gefallen lassen. Es wird beanstandet, es hinge teils mehr vom Zufall, denn von der tatrichterlichen Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt ab,  ob das gefällte Urteil nun „revisionssicher“ sei oder nicht. Dabei wird dem BGH sogar eine gewisse Beliebigkeit unterstellt (so etwa Wojtech, NJW-Spezial 2012, 312).
Solch pauschale Aussagen sind sicherlich nicht richtig. Vielmehr sollte es eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein und nicht extra eines Hinweises des BGH bedürfen, dass die Gerichte eine vollständige Sachverhaltsaufklärung und –würdigung zu betreiben haben. Zutreffender Ansatzpunkt für Kritik dürfte aber einerseits die Spruchpraxis des Bundesgerichtshofs sein, andere (niedrigere)  Maßstäbe für Unterlassungsdelikte anzusetzen (für Nachweise der Praxis vgl. Fischer, § 212, Rn. 14). Warum hier eine Unterscheidung zwischen Begehungs- und Unterlassungsdelikten zu treffen sein soll, erscheint nicht ersichtlich [Puppe, NStZ 1992, 576 (577)].
Zudem macht es wenig Sinn, eine höhere „Hemmschwelle“ dann anzunehmen, wenn es um Gegebenheiten geht, die gerade eher für ein Enthemmen sprechen. Alkohol- und Drogenkonsum oder affektive Erregungszustände sollen nach der Praxis des BGH nämlich noch einmal erhöhte Voraussetzungen an die Vorsatzfeststellung stellen [mit Beispielsfällen: Trück, NStZ 2005, 233 (237)].
Der Autor Dominik Schnieder ist Lehrassistent bei Prof. Dr. Schlehofer an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Er promoviert zurzeit bei Prof. Dr. Michael zu einem verfassungsschutzrechtlichen Thema.

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21.05.2012/0 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
Schlagworte: § 211, § 212, hemmschwelle, Mord, StGB, Totschlag
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