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Schlagwortarchiv für: Öffentliches Recht

Miriam Hörnchen

Tätowierungen als Einstellungshindernis im Polizeidienst?

Aktuelles, Examensvorbereitung, Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Startseite, Verwaltungsrecht

Die vom VG Berlin zu beantwortende Frage, ob die Ablehnung einer Bewerbung für den Polizeidienst wegen sichtbarer Tätowierungen rechtswidrig erfolgt, wirft eine Vielzahl examensrelevanter Fragestellungen auf: Aufgrund der Eilbedürftigkeit im Hinblick auf den Einstellungstermin wird diese Frage regelmäßig im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes relevant. Dabei sind dessen besondere Voraussetzungen ebenso zu prüfen wie – wegen des Bezugs zur Hauptsache – auch dessen Zulässigkeit und Begründetheit. Darüber hinaus eröffnet der Fall die Möglichkeit, allgemeine Probleme des Verwaltungsrechts – wie etwa den behördlichen Beurteilungsspielraum – sowie beamtenrechtliche Besonderheiten zu behandeln. (VG Berlin, Beschl. 27.2.2025 – VG 26 L 288/24, n.V.)

I. Der Sachverhalt (verkürzt dargestellt)

Dem Beschluss des VG Berlin lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Antragstellerin (im Folgenden: A) bewarb sich für die vorläufige Zulassung zum Vorbereitungsdienst des gehobenen Dienstes der Kriminalpolizei des Antragsgegners (im Folgenden: B) für den 1.4.2025. Dabei waren der Bewerbung auch Angaben zu etwaigen Tätowierungen beizufügen. A trägt unter anderem auf ihren beiden Handrücken Tätowierungen, die Motive von Rosenblüten sowie Namen ihrer Kinder abbilden und dabei den Großteil des Handrückens bedecken. Zudem finden sich an ihrem Handgelenk Tätowierungen in Form eines Armbands und der Zahl „248“ und an ihren Fingern ein bis drei Punkte und ein kleines Kreuz. Zusätzlich gab A an, dass sie beabsichtige, sich im Dezember 2024 weitere Tätowierungen stechen zu lassen. Die Bewerbung der A wurde jedoch vom B im November 2024 aufgrund der Tätowierungen „auf beiden Handrücken“ abgelehnt. Daraufhin stellte A beim VG Berlin einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz mit dem Ziel, den B zu verpflichten, sie vorläufig zum 1.4.2025 zum Vorbereitungsdienst zuzulassen.

II. Die Entscheidung (dargestellt im Gutachtenstil)

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat Erfolg, soweit dieser zulässig und begründet ist.

1. Zulässigkeit des Antrags

Der Antrag ist zulässig, wenn sämtliche Verfahrensvoraussetzungen erfüllt sind.

a) Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs

Ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch das Verwaltungsgericht setzt zunächst voraus, dass der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist. Das ist dann der Fall, wenn auch für die Streitigkeit der Hauptsache der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist, welcher sich grundsätzlich nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO richtet, es sei denn es greift eine speziellere aufdrängende Sonderzuweisung an das Verwaltungsgericht ein. Vorliegend könnte die aufdrängende Sonderzuweisung nach § 54 Abs. 1 BeamtStG in Betracht kommen, wenn es sich um eine Streitigkeit aus dem Beamtenverhältnis handelt. Eine solche liegt jedenfalls dann vor, wenn der geltend gemachte Anspruch seine Grundlage im Beamtenrecht hat (BVerwG, Urt. v. 24.6.1982 – 2 C 91/81, NJW 1983, 638). A verlangt die Zulassung zum Vorbereitungsdienst für die Laufbahn des gehobenen Dienstes der Kriminalpolizei. Dies findet seine Grundlage in Art. 33 Abs. 2 GG i.V.m. den Vorschriften des Beamtenrechts, insb. der Ernennung nach § 8 BeamtStG.

Folglich ist der Verwaltungsrechtsweg in der Hauptsache nach § 54 Abs. 1 BeamtStG und mithin auch im einstweiligen Rechtsschutz eröffnet.

b) Statthafter Antrag

Die Statthaftigkeit des Antrags richtet sich nach dem Begehren der Antragstellerin, §§ 122, 88 VwGO. A verfolgt das Ziel, dass B sie vorläufig zum Vorbereitungsdienst zum 1.4.2025 zulässt. Zur Verfolgung dieses Begehrens könnte ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 123 Abs. 1 VwGO in Betracht kommen. Dieser müsste statthaft sein.

aa) Kein Ausschluss nach § 123 Abs. 5 VwGO – kein Fall von §§ 80, 80a VwGO

Ein Antrag auf einstweilige Anordnung gem. § 123 Abs. 1 VwGO ist aufgrund der in § 123 Abs. 5 VwGO geregelten Subsidiarität zu den Anträgen nach §§ 80 und 80a VwGO dann ausgeschlossen, wenn er sein Begehren mit diesen Anträgen verfolgen kann. Das ist der Fall, wenn es um eine Vollziehung eines belastenden Verwaltungsaktes geht und somit in der Hauptsache eine Anfechtungsklage einschlägig ist. Dagegen ist § 123 VwGO einschlägig, wenn in der Hauptsache eine Verpflichtungs-, Leistungs- oder Feststellungsklage statthaft ist.

Vorliegend liegt zwar in der Ablehnung der Bewerbung durch B ein belastender Verwaltungsakt vor, jedoch begehrt A nicht die Aufhebung dieser Ablehnung, sondern primär die Zulassung zum Vorbereitungsdienst. Die Zulassung bedarf einer Ernennung nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 BeamtStG, die einen begünstigenden Verwaltungsakt darstellt (VG Berlin, Urt. v. 21.6.2023 – VG 36 K 384/22, BeckRS 2023, 39968 Rn. 18; Stelkens/Bonk/Sachs/Stelkens, 10. Aufl. 2023, § 35 VwVfG Rn. 200). Dadurch, dass das Begehren mithin auf die Verurteilung zum Erlass eines abgelehnten Verwaltungsaktes gerichtet ist, ist in der Hauptsache eine Verpflichtungsklage in Gestalt der Versagungsgegenklage statthaft und mithin liegen keine vorrangigen Fälle des §§ 80, 80a VwGO vor.

Folglich ist der Antrag auf einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO durch § 123 Abs. 5 VwGO nicht ausgeschlossen.

bb) Die zwei Anordnungsformen
  • § 123 Abs. 1 VwGO enthält zwei Anordnungsformen:
    • § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO: die Sicherungsanordnung, die der Sicherung eines bestehenden Zustandes (des „status quo“) vor möglichen künftigen Beeinträchtigungen dient.
    • § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO: die Regelungsanordnung, mit der die Vornahme einer behördlichen Leistung verlangt wird um eine vorläufige Zustandsverbesserung zu erreichen.

A begehrt zum Vorbereitungsdienst zugelassen zu werden. Dieses Begehren kann in der Hauptsache im Wege einer Verpflichtungsklage geltend gemacht werden, da sie die Vornahme einer behördlichen Leistung verlangt. Folglich geht es um eine vorläufige Zustandsverbesserung, wobei die Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO die statthafte Antragsart ist.

c) Antragsbefugnis § 42 Abs. 2 VwGO analog

Für einen Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO ist eine Antragsbefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO analog erforderlich. Die Antragsbefugnis richtet sich wiederum danach, ob die Antragstellerin in der Hauptsache klagebefugt ist. Danach ist A klagebefugt, wenn A geltend macht durch die Ablehnung der Zulassung in ihren subjektiven Recht verletzt zu sein. Dies ist der Fall, wenn nicht von vornherein ausgeschlossen ist, dass der Anspruch auf die Zulassung zum Vorbereitungsdienst besteht.

Es existiert keine Anspruchsgrundlage, die einen Anspruch auf Zulassung zum Vorbereitungsdienst begründet. Vielmehr besteht die Entscheidung zur Zulassung im pflichtgemäßen Ermessen des Dienstherrn (s. hierzu später mehr unter: II. 2. a) bb) (1)). Doch auch wenn kein Anspruch auf einen begehrten Verwaltungsakt besteht, kann mit der Verpflichtungsklage dennoch ein Anspruch auf ermessens- bzw. beurteilungsfehlerfreie Entscheidung der Behörde (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO) verlangt werden. Dadurch, dass A geltend macht, dass B ihre Zulassung trotz ihrer Tätowierungen, hätte zubilligen müssen, ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass B sein Beurteilungsspielraum falsch ausgeübt hat und A demnach ein Anspruch auf eine erneute – beurteilungsfehlerfreie – Entscheidung hat.

A ist mithin klagebefugt und zugleich nach § 42 Abs. 2 VwGO analog antragsbefugt.

d) Richtiger Antragsgegner

Der richtige Antragsgegner ist der Klagegegner in der Hauptsache, welcher sich bei einer Verpflichtungsklage nach § 78 VwGO richtet. Nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO gilt das sog. „Rechtsträgerprinzip“, wonach die Klage (bzw. Antrag) gegen den Rechtsträger der Behörde zu richten ist, die den Verwaltungsakt erlassen (bzw. unterlassen) hat. Die Behörde selbst kommt als Klagegegner nur dann in Betracht, wenn ein Landesrecht dies ausdrücklich bestimmt, § 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO („Behördenprinzip“). Von dieser Möglichkeit hat das Land Berlin keinen Gebrauch gemacht (s. etwa OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 13.2.2023 – OVG 4 N 32/22, BeckRS 2023, 2047 Rn.7), sodass der Rechtsträger der Kriminalpolizei Berlin, mithin das Land Berlin, der richtige Klage- und zugleich Antragsgegner nach § 78 VwGO ist.

e) Die Beteiligte- und Prozessfähigkeit, §§ 61, 62 VwGO

A ist als natürliche Person nach § 61 Nr. 1 Var. 1 VwGO, das Land Berlin als juristische Person nach § 61 Nr. 1 Var. 2 VwGO beteiligtenfähig.

Die Prozessfähigkeit ergibt sich für A aus ihrer Geschäftsfähigkeit, nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO und für B handelt gem. § 62 Abs. 3 VwGO sein gesetzlicher Vertreter. Aus dem Ressortprinzip, Art. 58 Abs. 5 S. 1 VvB folgt, dass das Land Berlin gerichtlich durch das Mitglied des Senats vertreten wird, dessen Ressort betroffen ist. (Für NRW: Aus dem Ressortprinzip, Art. 55 Abs. 2 LVerfNRW folgt, dass das Land NRW durch den Minister vertreten wird, dessen Ressort betroffen ist.

f) Rechtsschutzbedürfnis

Das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis fehlt, wenn die Klage in der Hauptsache schon offensichtlich unzulässig ist. Dies ist bei der Regelungsanordnung etwa dann der Fall, wenn der Antragssteller keinen Antrag bei der Behörde eingereicht hat. Vorliegend hat A eine Bewerbung auf Zulassung bei B eingereicht und andere Anhaltspunkte, die die offensichtliche Unzulässigkeit der Klage in der Hauptsache begründen würden, sind nicht ersichtlich.

g) Zwischenergebnis

Der Antrag auf einstweilige Anordnung in Form der Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO ist zulässig.

2. Begründetheit

Der Antrag nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO ist begründet, wenn die vorläufige Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden, drohende Gewalt zu verhindern oder sie aus anderen Gründen nötig erscheint. Dabei genügt es, wenn die Anspruchstellerin die tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs (Anordnungsanspruch) und die Gründe, die die Eilbedürftigkeit der gerichtlichen Entscheidung bedingen (Anordnungsgrund), glaubhaft macht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).

a) Vorliegen eines Anordnungsanspruchs

Der Anordnungsanspruch ist gegeben, wenn ein Erfolg in der Hauptsache im Wege einer summarischen Prüfung überwiegend wahrscheinlich ist. Dabei ist eine in der Hauptsache einschlägige Verpflichtungsklage begründet, soweit die Ablehnung des Verwaltungsaktes (hier: die Zulassung zum Vorbereitungsdienst) rechtswidrig ist und die A dadurch in ihren Rechten verletzt wird.

Hinweis: Für die Begründetheitsprüfung einer Verpflichtungsklage gibt es zwei Aufbaumöglichkeiten: Der Regelfall ist der „Anspruchsaufbau“ (1. AGL, 2. Formelle Voraussetzungen, 3. Materielle Voraussetzungen) und die Ausnahme ist der sog. „Rechtswidrigkeits- bzw. Ablehnungsaufbau“ (Formelle und Materielle Rechtswidrigkeit des abgelehnten Verwaltungsaktes). Das VG Berlin wählte den Rechtswidrigkeitsaufbau, der sich bei der Prüfung von Beurteilungs- und Ermessensspielräumen anbietet. Dieser Aufbau ist jedoch nicht zwingend.

aa) Formelle Rechtswidrigkeit der Ablehnung der Bewerbung

Mangels Anhaltspunkte im Sachverhalt ist von der formellen Rechtmäßigkeit des Bescheids über die Ablehnung der Bewerbung auszugehen.

bb) Materielle Rechtswidrigkeit der Ablehnung der Bewerbung

Fraglich ist, ob der Bescheid der Ablehnung der Bewerbung materiell rechtswidrig ist.

(1) Bestehen eines Beurteilungsspielraums

Bevor die Frage der Rechtswidrigkeit der Ablehnung der Bewerbung erfolgt, muss geklärt werden, inwieweit die behördliche Entscheidung gerichtlich überprüft werden kann. Eine gerichtliche Überprüfung könnte aufgrund eines bestehenden Beurteilungsspielraums der Behörde beschränkt sein.

Ein solcher wird insbesondere bei beamtenrechtlichen Beurteilungen angenommen. Vorliegend geht es um die Einstellung in den Vorbereitungsdienst für die Laufbahn des gehobenen Dienstes der Kriminalpolizei. Maßgeblich ist hierfür Art. 33 Abs. 2 GG – konkretisiert in der beamtenrechtlichen Vorschrift des § 9 BeamtStG –, der regelt, dass jeder Deutsche nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt hat. Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass diese Vorschriften keinen unmittelbaren Anspruch auf Begründung eines Beamtenverhältnisses gewähren (vgl. BVerfG, Beschl. v. 22.5.1975 – 2 BvL 13/73, BVerfGE 39, 334; BVerwG, Beschl. v. 6.4.2006 – 2 VR 2.05; VG Berlin Urt. v. 21.6.2023 – 36 K 384/22, BeckRS 2023, 39968 Rn. 23).  Vielmehr wird dem Bewerber ein grundrechtsgleiches Recht darauf vermittelt, dass über seinen Antrag auf Zugang zu öffentlichen Ämtern nur nach Maßgabe seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung ermessensfehlerfrei entschieden wird (VG Berlin, Urteil. v. 21.06.2023 – VG 36 K 384/22, BeckRS 2023, 39968 Rn. 23). Demnach steht die Ernennung eines Bewerbers zum Beamten auf Widerruf im pflichtgemäßen Ermessen des Dienstherrn, der innerhalb des ihm durch die verfassungsrechtlichen und beamtenrechtlichen Vorschriften gesetzten Rahmens sowohl den Bedarf an Beamten als auch die aus seiner Sicht maßgebenden Eignungs-, Befähigungs- und Leistungskriterien bestimmen kann (VG Berlin, Beschl. 27.2.2025 – VG 26 L 288/24, S. 3, n.V.).

Von diesem Beurteilungsspielraum erfasst ist auch die – vorliegend maßgebliche – Entscheidung, ob die Voraussetzungen eines Einstellungshindernisses aufgrund des äußerlichen Erscheinungsbildes nach § 7 Abs. 1 S. 2 BeamtStG i.V.m. § 34 Abs. 2 BeamtStG vorliegen. Diese Regelungen lauten wie folgt

§ 7 Abs. 1 S. 2 BeamtStG:

In das Beamtenverhältnis darf nicht berufen werden, wer unveränderliche Merkmale des Erscheinungsbilds aufweist, die mit der Erfüllung der Pflichten nach § 34 Absatz 2 nicht vereinbar sind.

§ 34 Abs. 2 BeamtStG

Beamtinnen und Beamte haben bei der Ausübung des Dienstes oder bei einer Tätigkeit mit unmittelbarem Dienstbezug auch hinsichtlich ihres Erscheinungsbilds Rücksicht auf das ihrem Amt entgegengebrachte Vertrauen zu nehmen (S. 1). Insbesondere das Tragen von […] Tätowierungen im sichtbaren Bereich [kann] eingeschränkt oder untersagt wrden, soweit die Funktionsfähigkeit der Verwaltung oder die Pflicht zum achtungs- und vertrauenswürdigen Verhalten dies erfordert (S. 2). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn Merkmale des Erscheinungsbilds nach Satz 2 durch ihre über das übliche Maß hinausgehende besonders individualisierende Art geeignet sind, die amtliche Funktion der Beamtin oder des Beamten in den Hintergrund zu drängen (S.3).

(2) Beurteilungsfehler

Die Ablehnung der Bewerbung könnte jedoch trotz Beurteilungsspielraum rechtswidrig sein, wenn die Entscheidung beurteilungsfehlerhaft erfolgt ist und mithin die B ihren Beurteilungsspielraum überschritten hat. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass aufgrund der Eignungsbeurteilung, die ein Akt wertender Erkenntnis ist, der gerichtliche Prüfungsmaßstab dahingehend beschränkt ist, dass lediglich überprüft werden kann, ob die Verwaltung den anzuwendenden Begriff verkannt, der Beurteilung einen unrichtigen Sachverhalt zugrunde gelegt, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet oder sachwidrige Erwägungen angestellt hat (VG Berlin, Beschl. 27.2.2025 – VG 26 L 288/24, S. 3, n.V.).

Ein Beurteilungsfehler könnte dahingehend in Betracht kommen, dass die Ablehnung der Bewerbung aufgrund der konkreten Tätowierungen der A unverhältnismäßig ist. Denn bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 2 BeamtStG i.V.m. § 34 Abs. 2 BeamtStG vorliegen ist stets der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten (VG Berlin, Beschl. 27.2.2025 – VG 26 L 288/24, S. 4, n.V.).

Hintergrund ist, dass die Untersagung des Tragens bestimmter Tätowierungen in das durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Persönlichkeitsrecht des Bewerbers eingreift (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.11.2017 – 2 C 25/17 –, juris Rn. 33). Dieser Eingriff reicht auch weiter als derjenige, Dienstkleidung anzulegen und Schmuck vor dem Dienstantritt abzulegen, weil er das auf Dauer angelegte äußere Erscheinungsbild des beim Tragen der Uniform sichtbaren Körperbereichs des Beamten betrifft (BVerwG, Urt. v. 14.5.2020 – 2 C 13.19 –, juris Rn. 11).

Zur Beurteilung, ob eine Ablehnung der Bewerbung auf § 7 Abs. 1 S. 2 BeamtStG i.V.m. § 34 Abs. 2 S. 2 und 3 BeamtStG gestützt werden kann, bedarf mithin einer individuellen Betrachtung der Tätowierung des Bewerbers und ihrer potentiellen Wirkungen im Rahmen der Dienstausübung. Insbesondere bei der Frage, ob die Tätowierungen über das übliche Maß hinausgehen, hat der Dienstherr sich an den Anschauungen zu orientieren, die in der pluralistischen Gesellschaft herrschen und darf sich dabei einem Wandel dieser Anschauungen nicht verschließen. Daher kann er ein gesellschaftlich weitgehend akzeptiertes Aussehen nicht schon deshalb untersagen, weil er es ungeachtet der veränderten Verhältnisse weiterhin für unpassend, unästhetisch oder nicht schicklich hält (OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 8.12. 2022 – 2 B 10974/22 –, juris Rn. 15 m.w.N.).

Nach dem dargelegten Maßstab gelangt das VG Berlin zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen nicht vorliegen und die Entscheidung der B als unverhältnismäßig anzusehen ist. Zur Begründung stützt sich das VG Berlin auf folgende Argumente:

1) Argumente dafür, dass die Tätowierung auf dem Handrücken (wie bei A) nicht über das übliche Maß hinausgehen (§ 34 Abs. 2 S. 3 Hs. 1 BeamtStG):

  • Anerkennung und Verbreitung von Tätowierungen: Bei der Beurteilung der Frage, ob Tätowierungen über das übliche Maß hinausgehen, müsse die heutzutage allgemein große Verbreitung von Tätowierungen beachtet werden. Das VG Berlin nennt eine Statistik des Instituts für Demoskopie Allensbach, die belegt, dass im Jahr 2014 24 % der 16- bis 29-Jährigen eine Tätowierung besaßen. wobei bei Frauen in dieser Altersgruppe der Anteil sogar bei 30 %, in Ostdeutschland (geschlechterübergreifend) bei 41 % lag (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.11.2017 – 2 C 25/17 –, juris Rn. 50). Zudem geht das VG Berlin davon aus, dass die Verbreitung der Tätowierungen – auch im sichtbaren Bereich – zugenommen haben.
  • Größe der Tätowierung: Zwar sei es richtig – wie von B vorgetragen – dass die Tätowierungen einen Großteil des Handrückens bedecken, jedoch im Verhältnis zum Körper nicht von einer derart großen Tätowierung gesprochen werden kann.
  • Keine außergewöhnlichen Motive: Bei den Motiven (Rosenblüten, Namenszüge, Zahl, Armband) handelt es sich nicht um außergewöhnliche Motive, sondern diesen seien weit verbreitet.

2) Argumente dafür, dass die Tätowierungen der A trotz ihrer Sichtbarkeit im vorliegenden Einzelfall nicht geeignet ist, ihre amtliche Funktion im angestrebten Amt als Polizeibeamtin in den Hintergrund zu drängen (§ 34 Abs. 2 S. 3 Hs. 2 BeamtStG):

  • ZWAR überwiegende Sichtbarkeit: Die Tätowierungen auf dem Handrücken sind nicht nur bei einem unmittelbaren Kontakt mit Bürgerinnen und Bürgern erkennbar, sondern bereits aus einiger Entfernung.
  • ABER keine Anhaltspunkte für eine gesteigerte Aufmerksamkeit auf die Tätowierungen: Aufgrund der klaren Erkennbarkeit und unkritischen Inhalte der Motive, ist nicht zu befürchten, dass Bürgerinnen und Bürger eine Interpretation bzw. Projektion der persönlichen Überzeugung der A als Privatperson vornehmen.
    • Namenszüge: Es entsteht der Eindruck, dass es sich um Namen von der A nahestehenden Personen handelt, ohne dass dies dazu führen könnte, dass die amtliche Funktion in den Hintergrund gedrängt wird
  • Gesellschaftliche Akzeptanz, insb. am Standort Berlin
    • Eine negative Bewertung der Tätowierungen von lebensälteren Bürgerinnen und Bürgern sei aufgrund der harmlosen Motive und der zunehmenden Verbreitung von Tätowierungen – insb. am Standort Berlin – nicht zu befürchten und könne keinen Rückschluss dahingehend begründen, dass die amtliche Funktion in den Hintergrund gedrückt werden würde.

Folglich überschreitet die B bei der Entscheidung, dass die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 2 BeamtStG i.V.m. § 34 Abs. 2 BeamtStG vorliegen und mithin zu einer Ablehnung der Bewerbung führen, ihren Beurteilungsspielraum, da diese unzureichend den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit berücksichtigt.

(3) Zwischenergebnis

Folglich ist die Ablehnung der Bewerbung rechtswidrig und verletzt die A in ihren Rechten.

cc) Spruchreife/Anspruchsinhalt

Dadurch, dass sich aus Art. 33 Abs. 2 GG kein unmittelbarer Anspruch auf Begründung eines Beamtenverhältnisses herleiten lässt, sondern vielmehr dem Bewerber ein grundrechtsgleiches Recht darauf vermittelt, dass über seinen Antrag auf Zugang zu öffentlichen Ämtern nach Maßgabe seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung beurteilungsfehlerfrei entschieden wird, ist die Sache noch nicht spruchreif. Eine Ermessensreduzierung auf Null liegt auch nicht vor, da die A bereits im Rahmen des Auswahlverfahrens angegeben hat, dass sie beabsichtige, sich im Dezember 2024 eine weitere Tätowierung stechen zu lassen, dessen Begutachtung von den Behörden noch aussteht. Folge ist nach § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO, dass das Gericht die Behörde verpflichtet unter Beachtung ihrer Rechtsauffassung neu über den Antrag zu bescheiden (sog. „Bescheidungsurteil“). Dabei ist es unerheblich, dass die Neubescheidung nicht von A beantragt wurde, da diese vielmehr als „Minus“ im Antrag zum Vornahmebegehren enthalten ist (Wysk/Bamberger, 4. Aufl. 2025, § 113 VwGO Rn. 105; ebenfalls als „Minus“ zum Antrag bezeichnend: VG Berlin, Beschl. v. 27.2.2025 – VG 26 L 288/24, S. 7, n.V.). Eine vorläufige Neubescheidung ist auch zeitlich vor dem Einstellungstermin (1.4.2025) noch möglich, sodass eine Verpflichtung der Behörde zur vorläufigen Einstellung der A nicht aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes erforderlich ist (s. zu einer Konstellation, in der die Neubescheidung zeitlich nicht mehr möglich war: OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 27.9.2022 – OVG 4 S 29/22, S. 5) (VG Berlin, Beschl. v. 27.2.2025 – VG 26 L 288/24, S. 7, n.V.).

dd) Zwischenergebnis

Folglich hat die Verpflichtungsklage in der Hauptsache mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Erfolg. Ein Anordnungsanspruch kann mithin glaubhaft gemacht werden.

b) Anordnungsgrund

Neben einem Anordnungsanspruch muss ebenfalls ein Anordnungsgrund vorliegen. Dieser ist im Rahmen einer Regelungsanordnung gegeben, wenn die Anordnung nötig ist, um wesentliche Nachteile für A abzuwenden oder drohende Gefahren zu verhindern. Vorliegend würde ein Abwarten des Hauptsachverfahrens bedeuten, dass A nicht zum zeitnahen Einstellungstermin (1.4.2025) eingestellt wird und mithin eine erhebliche, mit ihren Rechten aus Art. 12 GG, Art. 33 Abs. 2 GG nicht vereinbare Ausbildungsverzögerung in Kauf nehmen müsste. Folglich ist die einstweilige Anordnung nötig, um wesentliche Nachteile, die in Form der Ausbildungsverzögerung entstehen würden, erforderlich und mithin Anordnungsgrund gegeben.

c) Keine Vorwegnahme und Überschreitung der Hauptsache

Mit der Verpflichtung, dass B lediglich über die Zulassung zum Vorbereitungsdienst der A erneut entscheiden muss, wird weder die Hauptsache vorweggenommen, noch diese überschritten.

d) Zwischenergebnis Begründetheit

Folglich ist der Antrag nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO begründet.

3. Endergebnis

Der Antrag nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO ist sowohl zulässig als auch begründet.

03.06.2025/0 Kommentare/von Miriam Hörnchen
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Miriam Hörnchen https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Miriam Hörnchen2025-06-03 08:45:032025-06-06 10:50:46Tätowierungen als Einstellungshindernis im Polizeidienst?
Marie-Lou Merhi

Die Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage – ein Grundlagenbeitrag

Aktuelles, Baurecht, Karteikarten, Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Polizei- und Ordnungsrecht, Rechtsgebiete, Verschiedenes

Die Fortsetzungsfeststellungsklage gehört zu den Klassikern im öffentlichen Recht. Insbesondere im Polizei- und Ordnungsrecht hat sie große Relevanz, da polizeiliche Maßnahmen ihrer Natur nach auf kurze Zeit angelegt sind und der Kläger die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer polizeilichen Maßnahme oftmals erst nach deren Erledigung verlangt (Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 18 Rn. 36; Senders, in: Eisentraut, Verwaltungsrecht in der Klausur, § 4 Rn. 62). Allerdings können auch im Baurecht Klausurkonstellationen auftreten, bei denen die Prüfung einer Fortsetzungsfeststellungsklage erforderlich ist. So etwa im Fall einer Klage auf Erteilung einer Baugenehmigung bei späterem Erlass einer Veränderungssperre (W.-R. Schenke/R.P. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, § 113 Rn. 109). Klausurgegenstand kann die Fortsetzungsfeststellungsklage ebenfalls im Kommunalrecht sein. Dies etwa dann, wenn die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer erledigten Aufsichtsmaßnahme vom Kläger begehrt wird (Piecha, in: Eisentraut, Verwaltungsrecht in der Klausur, § 4 Rn. 65 f.). Der Klausurbearbeiter, dem der prozessuale Einstieg in die Klausur durch eine souveräne Zulässigkeitsprüfung gelingt, hinterlässt direkt einen guten ersten Eindruck beim Korrektor.

Angesichts der Besonderheiten, die sich bei jener Klageart bereits in der Zulässigkeit ergeben, widmet sich der nachfolgende Beitrag den Strukturen und Besonderheiten der Zulässigkeitsprüfung nach § 113 I 4 VwGO.

I. Gesetzliche Regelung in § 113 I 4 VwGO

Gesetzlich geregelt ist die Fortsetzungsfeststellungsklage in § 113 I 4 VwGO. Der Beginn der Zulässigkeitsprüfung sollte mit dem sorgfältigen Lesen des Normtextes begonnen werden, aus dem sich viele der Zulässigkeitsvoraussetzungen ableiten lassen. Demnach gilt folgendes:

„Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.“, § 113 I 4 VwGO.

II. Statthaftigkeit, § 88 VwGO

Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist somit statthaft, wenn der Kläger die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines erledigten Verwaltungsaktes begehrt, § 113 I 4 VwGO (So auch Senders, in: Eisentraut, Verwaltungsrecht in der Klausur, § 4 Rn. 3).

1. Vorliegen eines erledigten Verwaltungsaktes

Ausgangspunkt der Statthaftigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage ist somit das Vorliegen eines erledigten Verwaltungsaktes.

Der Begriff des Verwaltungsaktes richtet sich nach § 35 VwVfG und ist insbesondere vom Realakt abzugrenzen, der im Unterschied zum Verwaltungsakt nicht auf Herbeiführung einer Rechtsfolge gerichtet ist (zum Begriff des Verwaltungsaktes ausführlich Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 10 Rn. 420-496).

Der Begriff der Erledigung ist gesetzlich nicht definiert. § 113 I 4 VwGO und § 43 II VwVfG nennen lediglich Beispielfälle. (Senders, in: Eisentraut, Verwaltungsrecht in der Klausur, § 4 Rn. 11 f.). Die Erledigung des Verwaltungsaktes ist dann anzunehmen, wenn die mit dem Verwaltungsakt verbundene Beschwer weggefallen ist und die gerichtliche Aufhebung des Verwaltungsaktes sinnlos wäre. Dies kann aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen der Fall sein (Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 32 Rn. 1422). Dem Klausurbearbeiter sollten dabei insbesondere die folgenden Konstellationen bekannt sein.

Erledigung aus rechtlichen Gründen liegt insbesondere vor:

  • Bei Rücknahme nach § 48 VwVfG oder Widerruf nach § 49 VwVfG des Verwaltungsaktes, § 113 I 4 VwGO, § 43 II VwVfG
  • Bei Eintritt einer auflösenden Bedingung
    • Beispielsweise, wenn der Verwaltungsakt festlegt, dass er im Fall des Eintritts eines bestimmten Ereignisses seine Wirkung verliert (Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 32 Rn. 1422).
  • Bei Fristablauf
    • Exemplarisch, wenn feststeht, dass der Verwaltungsakt nur für eine bestimmt Zeit gilt (Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 32 Rn. 1422).

Erledigung aus tatsächlichen Gründen liegt insbesondere vor:

  • Bei Zeitablauf, § 43 II VwVfG:
    • Beispielsweise erledigt sich das durch Verwaltungsakt bestimmte Verbot, eine bestimmte Demonstration an einem bestimmten Tag abzuhalten, nach Ablauf dieses Tages (Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 32 Rn. 1422).
  • Bei Wegfall des Regelungsobjekts
    • Exemplarisch liegt ein Wegfall des Regelungsobjektes vor, wenn ein Gebäude, wie durch Verwaltungsakt angeordnet, abgerissen wird (Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 32 Rn. 1422).
  • Bei Tod des Adressaten des Verwaltungsaktes, soweit es sich um höchstpersönliche Rechte und Pflichten handelt oder ein Nachfolgetatbestand nicht erfüllt ist. Beispielsweise begründen sich bei der Ernennung zum Beamten höchstpersönliche Rechte und Pflichten, sodass mit dem Tod Erledigung eintritt (Schmidt, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 405).
2. Unmittelbare Anwendung bei Erledigung nach Erhebung der Anfechtungsklage

Nach dem Wortlaut des § 113 I 4 VwGO und dessen systematischer Stellung findet die Fortsetzungsfeststellungsklage dabei nur auf den Fall der Erledigung des Verwaltungsaktes nach Erhebung einer Anfechtungsklage unmittelbar Anwendung (s. dazu Fechner, NVwZ 2000, 121, 122).

Der direkte Anwendungsbereich der Fortsetzungsfeststellungsklage ist somit doppelt begrenzt.

Erstens ist sie in zeitlicher Hinsicht auf die Erledigung nach Klageerhebung und vor einer Entscheidung des Gerichts über die Klage beschränkt (s. dazu Fechner, NVwZ 2000, 121, 122).

Zweitens ist die Fortsetzungsfeststellungsklage unmittelbar lediglich als Fortsetzung einer Anfechtungsklage nach § 42 I Var. 1 VwGO anwendbar. Damit ist die Fortsetzungsfeststellungsklage in direkter Anwendung auf die Konstellationen beschränkt, bei denen der Kläger ursprünglich die Aufhebung eines ihn belastenden Verwaltungsaktes begehrt hat, § 42 I Var. 1 VwGO(Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 18 Rn. 37 – 39).

3. Analoge Anwendung bei Erledigung vor Erhebung der Anfechtungsklage

Allerdings kann es auch zu einer Erledigung des Verwaltungsaktes vor der Klageerhebung kommen. Insbesondere polizeiliche Maßnahmen haben sich regelmäßig bereits erledigt, bevor es zum Verwaltungsprozess kommt (Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 18 Rn. 36, 42).

Die Fortsetzungsfeststellungsklage könnte in diesen Fällen nach § 113 I 4 VwGO analog statthaft sein. Eine Analogie setzt das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke und einer vergleichbaren Interessenlage voraus (Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 365).

a) Planwidrige Regelungslücke

Eine planwidrige Regelungslücke läge vor, wenn keine andere normierte Klageart bei Erledigung vor Klageerhebung einschlägig wäre (Heinze/Sahan, JA 2007, 805, 807; Fechner, NVwZ 2000, 121, 123). Es wäre dann eine in Anbetracht des Art. 19 IV GG nicht zu rechtfertigende Rechtsschutzlücke gegeben (Fechner, NVwZ 2000, 121, 123). An einer planwidrigen Regelungslücke fehlt es somit, wenn der Kläger Rechtsschutz über die allgemeine Feststellungsklage nach § 43 I Var. 1 VwGO erlangen könnte.

Dafür müsste der Kläger die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehren, § 43 I Var. 1 VwGO.

aa) Die allgemeine Feststellungsklage wird dem klägerischen Begehren nicht gerecht

Zwar stellt ein Verwaltungsakt selbst kein festzustellendes Rechtsverhältnis dar (s. dazu ausführlich Heinze/Sahan, JA 2007, 805, 806). Allerdings kommt als festzustellendes Rechtsverhältnis die Berechtigung der Behörde gegenüber dem Adressaten zum Erlass des konkreten Verwaltungsaktes in Betracht (Senders, in: Eisentraut, Verwaltungsrecht in der Klausur, § 4 Rn. 22; Ingold, JA 2009, 711, 713; Schenke, NVwZ 2000, 1255, 1257).

Indes wird eine allgemeine Feststellungsklage nach § 43 I Var. 1 VwGO, gerichtet auf die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens der Berechtigung der Behörde zum Erlass des konkreten Verwaltungsaktes, nicht dem klägerischen Begehren gerecht: Der Kläger begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines erledigten Verwaltungsaktes. Wird die Berechtigung der Behörde zum Erlass des Verwaltungsaktes festgestellt, lässt dies aber keinen zwingenden Schluss auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes zu. Insbesondere könnte der erledigte Verwaltungsakt etwa aufgrund eines Ermessensfehlers gleichwohl rechtswidrig sein (Senders, in: Eisentraut, Verwaltungsrecht in der Klausur, § 4 Rn. 23; Ingold, JA 2009, 711, 714).

bb) Die allgemeine Feststellungsklage würde zu System- und Wertungswidersprüchen im Rechtssystem führen

Entscheidend gegen die Statthaftigkeit der allgemeinen Feststellungsklage spricht zudem folgender Gedanke: Wäre die allgemeine Feststellungsklage statthaft, würde vom Zufall des Erledigungszeitpunkt abhängen, welche Klageart statthaft ist. Im Hinblick darauf, dass die allgemeine Feststellungsklage nach § 43 I Var. 1 VwGO und die Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 I 4 VwGO unterschiedliche Sachentscheidungsvoraussetzungen haben, würde somit dem zufälligen Zeitpunkt der Erledigung ein maßgeblicher Stellenwert für die Abwicklung des Rechtsschutzes zukommen, was zu System- und Wertungswidersprüchen im Rechtsschutzsystem führen würde (W.-R. Schenke/R.P. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, § 113 Rn. 99; Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 32 Rn. 1421; Schmidt, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 445; Schenke, NVwZ 2000, 1255, 1257; Senders, in: Eisentraut, Verwaltungsrecht in der Klausur, § 4 Rn. 23).

cc) Zwischenergebnis

Die allgemeine Feststellungsklage nach § 43 I Var. 1 VwGO ist bei Erledigung vor Klageerhebung nicht statthaft, sodass eine planwidrige Regelungslücke vorliegt.

b) Vergleichbare Interessenlage

Das Vorliegen einer vergleichbaren Interessenlage ergibt sich aus der Erwägung, dass es aus der Sicht des Klägers vom Zufall abhängt, ob die Erledigung des Verwaltungsaktes vor Erhebung der Klage oder erst danach eintritt (Grosche/Wedemeyer, ZJS 2022, 889, 891).

4. Analoge Anwendung bei Erledigung nach Erhebung der Verpflichtungsklage

Denkbar ist allerdings auch, dass sich eine Verpflichtungsklage nach Klageerhebung erledigt. Es kommt somit eine analog Anwendung des § 113 I 4 VwGO auf die Verpflichtungssituation in Betracht. Die entsprechende Anwendung des § 113 I 4 VwGO auf die Verpflichtungssituation ist allgemein anerkannt (Sigrid, in: Fehling/Kastner/Störmer, VwGO, § 113 Rn. 119), sodass längere Ausführungen in einer Klausur nicht erforderlich sind. Es genügt festzustellen, dass eine planwidrige Regelungslücke aufgrund der ansonsten bestehenden Rechtsschutzlücke, die im Hinblick auf Art. 19 IV GG nicht zu rechtfertigen ist, vorliegt (Senders, in: Eisentraut, Verwaltungsrecht in der Klausur, § 4 Rn. 28) und sich die vergleichbare Interessenlage daraus ergibt, dass es für den Kläger keinen Unterschied macht, ob eine Belastung durch einen potentiell rechtswidrigen erledigten Verwaltungsakt oder durch eine ihm potentiell zustehende zunächst versagte oder unterlassene Begünstigung vorliegt (Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 18 Rn. 43; Senders, in: Eisentraut, Verwaltungsrecht in der Klausur, § 4 Rn. 28). Ergänzend kann als Argument angeführt werden, dass der Kläger nicht „um die Früchte seiner bisherigen Prozessführung gebracht werden soll“ (Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO, § 113 Rn. 98). Im Hinblick auf die Prozessökonomie erscheint es angebracht, dem Kläger die Möglichkeit zu geben, die Verpflichtungsklage bei Erledigung nach Klageerhebung als Fortsetzungsfeststellungsklage fortzuführen (Schmidt, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 435).

Zu beachten ist, dass mit einer Verpflichtungsklage der Erlass eines abgelehnten oder unterlassenen begünstigenden Verwaltungsaktes begehrt wird, § 42 I Var. 2  VwGO. Mangels bestehenden Verwaltungsaktes kann die Bestimmung der Erledigung somit nicht wie in der Anfechtungssituation erfolgen (Senders, in: Eisentraut, Verwaltungsrecht in der Klausur, § 4 Rn. 28). Bei der Verpflichtungsklage kommt es entscheidend auf die Erledigung des Klagebegehrens an (Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO, § 113 Rn. 113). Erledigung des Klagebegehrens liegt dabei dann vor, wenn der Verpflichtungsanspruch für den Kläger objektiv sinnlos wird und mit keinen Nutzen mehr für ihn verbunden ist (Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO, § 113 Rn. 113).

5. Doppelte analoge Anwendung bei Erledigung vor Erhebung der Verpflichtungsklage

Problematisch ist die Statthaftigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage zudem im Fall der Erledigung des Klagebegehrens vor Erhebung der Verpflichtungsklage. Es handelt sich um eine Kombination der soeben erläuterten analogen Konstellationen. Zunächst ist hier zu klären, ob § 113 I 4 VwGO analog auf die Verpflichtungssituation Anwendung findet (siehe Prüfungspunkt II.4.) und anschließend ist zu prüfen, ob § 113 I 4 VwGO analog für den Fall der Erledigung vor Klageerhebung anzuwenden ist (siehe Prüfungspunkt II.3.). Im Ergebnis ist von einer doppelt analogen Anwendung des § 113 I 4 VwGO auszugehen (Senders, in: Eisentraut, Verwaltungsrecht in der Klausur, § 4 Rn. 30).

III. Sonstige Sachentscheidungsvoraussetzungen

Merkposten:Bei der Prüfung der nachfolgenden Sachentscheidungsvoraussetzungen sollte der Klausurbearbeiter folgendes im Hinterkopf behalten: Im Fall der Erledigung nach Klageerhebung handelt es sich bei der Fortsetzungsfeststellungsklage um eine Fortsetzung der Ausgangsklage (je nach Fallkonstellation ist die Ausgangsklage eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage). Es müssen deshalb auch die Sachentscheidungsvoraussetzungen der Ausgangsklage gegeben sein (Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 18 Rn. 54). Dies ergibt sich aus der Wertung, dass eine ursprünglich unzulässige Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage nicht allein durch das regelmäßig zufällige Ereignis der Erledigung des streitgegenständlichen Verwaltungsaktes zu einer zulässigen Fortsetzungsfeststellungsklage werden kann (s. dazu auch Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 32 Rn. 1432).

1. Klagebefugnis, § 42 II VwGO analog

Zunächst setzt die Fortsetzungsfeststellungsklage unstreitig voraus, dass der Kläger nach § 42 II VwGO analog klagebefugt ist. Im Fall der Erledigung nach Klageerhebung ergibt sich dies aus der bereits dargestellten Erwägung, dass es sich bei der Fortsetzungsfeststellungsklage um eine Fortführung der Ausgangsklage handelt und somit auch die Sachentscheidungsvoraussetzungen der Ausgangsklage vorliegen müssen (Schmidt, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 411; Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 18 Rn. 54).

Im Fall der Erledigung vor Klageerhebung ergibt sich das Erfordernis aus dem Grund, dass es sich bei der Fortsetzungsfeststellungsklage um einen Rechtsbehelf zum Schutz subjektiver Rechte handelt (Schmidt, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 453).

2. Vorverfahren, § 68 I 1 VwGO analog

Aufgrund der Tatsache, dass die Fortsetzungsfeststellungsklage bei der Erledigung nach Klageerhebung die Ausgangsklage fortsetzt, ist auch für die Fortsetzungsfeststellungsklage die Durchführung eines Vorverfahrens nach § 68 I 1 VwGO erforderlich (Schmidt, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 412). Allerdings ist zu beachten, dass in Nordrhein-Westfalen ein solches Vorverfahren regelmäßig nach § 68 I 2 Hs. 1 VwGO i.V.m. § 110 I JustG NRW entbehrlich ist.

Für den Fall der Erledigung vor Klageerhebung ist es umstritten, ob die erfolglose Durchführung eines Vorverfahrens nach § 68 I 1 VwGO analog erforderlich ist.

Merkposten: Für den Fall, dass das Vorverfahren nach § 68 I 2 Hs. 1 VwGO i.V.m. § 110 I JustG NRW entbehrlich ist, kann im Ergebnis dahinstehen, ob das Vorverfahren erforderlich ist oder nicht!

Zu differenzieren ist zwischen dem unproblematischen Fall der Erledigung nach Ablauf der Widerspruchsfrist nach § 70 I VwGO und dem problematischen Fall der Erledigung vor Ablauf der Widerspruchsfrist nach § 70 I VwGO.

a) Erledigung vor Klageerhebung und nach Ablauf der Widerspruchsfrist

Erledigt sich der Verwaltungsakt nach Ablauf der Widerspruchsfrist nach § 70 I VwGO ist die Fortsetzungsfeststellungsklage unzulässig (Schmidt, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 454). Grund ist, dass der Verwaltungsakt mit Ablauf der Widerspruchsfrist in Bestandskraft erwächst und damit nicht mehr angreifbar ist (Braun, in: Eisentraut, Verwaltungsrecht in der Klausur, § 4 Rn. 38; Schmidt, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 454a).

b) Erledigung vor Klageerhebung und vor Ablauf der Widerspruchsfrist

Problematisch ist, ob die Durchführung eines Vorverfahrens vor Ablauf der Widerspruchsfrist notwendig ist.

Für die Erforderlichkeit der Durchführung eines Vorverfahrens wird angeführt, dass Vorverfahren würde auch nach Erledigung des Verwaltungsaktes zweckmäßig sein, da es zu einer Selbstkontrolle der Verwaltung, zur Entlastung der Verwaltungsgerichte und zum Rechtsschutz des Bürgers beitragen würde (W.-R. Schenke/R.P. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, § 113 Rn. 127). Die Widerspruchsbehörde könne die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes und eine hierdurch bestehende Rechtsverletzung feststellen. Das eine solche Feststellung möglich sei, zeige § 44 V VwVfG (W.-R. Schenke/R.P. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, § 113 Rn. 127). Dagegen spricht allerdings, dass das Widerspruchsverfahren auf die Aufhebung beziehungsweise den Erlass des Verwaltungsaktes gerichtet ist und nicht die Feststellung der Rechtswidrigkeit von (erledigten) Verwaltungsakten zum Gegenstand hat (Schmidt, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 454a). Im Fall der Erledigung besteht die Möglichkeit der behördlichen Aufhebung indes nicht mehr (Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 32 Rn. 1431). Zudem kennt die VwGO einen Fortsetzungsfeststellungswiderspruch nicht (Schmidt, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 454a; Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 32 Rn. 1431).

Im Ergebnis ist bei Erledigung vor Ablauf der Widerspruchsfrist kein Vorverfahren nach § 68 I 1 VwGO statthaft. Ein gleichwohl eingelegter Widerspruch ist unzulässig (Schmidt, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 454a).

3. Klagefrist, § 74 VwGO, § 58 VwGO analog

Es stellt sich weiterhin die Frage der Fristbindung der Fortsetzungsfeststellungsklage.  Im Fall der Erledigung nach Klageerhebung ist die Wahrung der Klagefrist nach §§ 74, 58 II VwGO analog erforderlich. Die unzulässige Ausgangsklage (Anfechtungsklage oder Verpflichtungsklage) kann nicht durch das zufällige Ereignis der Erledigung zu einer zulässigen Fortsetzungsfeststellungsklage werden (Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 32 Rn. 1432).

Für den Fall der Erledigung vor Klageerhebung ist wiederum umstritten, ob die Klagefrist nach §§ 74, 58 II VwGO gewahrt werden muss.

Merkposten: Eine Erörterung des Streitentscheids erübrigt sich, wenn nach dem Sachverhalt die Klagefrist nach §§ 74, 58 II VwGO eingehalten wurde. Ob die Wahrung der Klagefrist erforderlich ist, kann in diesem Fall dahinstehen.

Zu differenzieren ist zwischen dem unproblematischen Fall der Erledigung nach Ablauf der Klagefrist nach §§ 74, 58 II VwGO und dem problematischen Fall der Erledigung vor Ablauf der Klagefrist nach §§ 74, 58 II VwGO.

a) Erledigung vor Klageerhebung und nach Ablauf der Klagefrist nach §§ 74, 58 II VwGO

Hat sich der Verwaltungsakt oder das Klagebegehren vor Ablauf der Klagefrist erledigt, ist die Fortsetzungsfeststellungsklage unzulässig. Der Verwaltungsakt ist bereits bestandskräftig und damit unanfechtbar geworden. Wenn der Kläger es versäumt, fristgerecht eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage einzulegen, ist auch die Fortsetzungsfeststellungsklage unzulässig (Stockebrandt, in: Eisentraut, Verwaltungsrecht in der Klausur, § 4 Rn. 40).

b) Erledigung vor Klageerhebung und vor Ablauf der Klagefrist nach §§ 74, 58 II VwGO

Problematisch ist, ob im Fall der Erledigung vor Ablauf der Klagefrist nach §§ 74 , 58 II VwGO eine Fristbindung nach §§ 74, 58 II VwGO besteht oder das Klagerecht nur durch Verwirkung einzugrenzen ist.

Für das Erfordernis der Fristbindung wird die Rechtsnatur der Fortsetzungsfeststellungsklage als fortgesetzte Anfechtungs- bzw. Verpflichtungsklage angeführt (Stockebrandt, in: Eisentraut, Verwaltungsrecht in der Klausur, § 4 Rn. 41). Gegen die Fristbindung spricht allerdings, dass der Sinn und Zweck des Fristsetzungserfordernisses bei Erledigung des Verwaltungsaktes nicht mehr greift. Der Zweck der Fristsetzung besteht darin, die Bestandskraft des Verwaltungsaktes zu sichern (Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO, § 113 Rn. 149). Der Verwaltungsakt kann allerdings nicht in Bestandskraft erwachsen, weil er sich bereits erledigt hat. Zudem wird die Verwaltung vor einer stark verspäteten Einreichung der Klage durch die Notwendigkeit des Vorliegens eines Feststellungsinteresses und dem Grundsatz der Verjährung geschützt (Stockebrandt, in: Eisentraut, Verwaltungsrecht in der Klausur, § 4 Rn. 41).

Somit ist anzunehmen, dass eine Fristbindung nach §§ 74, 58 II VwGO nicht besteht und als zeitliche Begrenzung des Klagerechts die Verwirkung genügt.

4. Fortsetzungsfeststellungsinteresse, § 113 I 4 VwGO

Nach § 113 I 4 VwGO muss zudem ein „berechtigtes Interesse“ des Klägers an der begehrten Feststellung bestehen. Anders als bei der allgemeinen Feststellungsklage nach § 43 I VwGO genügt das Vorliegen eines anzuerkennenden schutzwürdigen Interesses rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art nicht. Der Rechtsschutz der VwGO ist grundsätzlich darauf gerichtet, gegen aktuell bestehende Rechtsbeeinträchtigungen vorzugehen, Art. 19 IV GG, sodass es im Fall der Erledigung der Belastung besonders zu begründen ist, weshalb ausnahmsweise dennoch eine gerichtliche Überprüfung möglich sein soll (Bühler/Brönnecke, Jura 2017, 34, 37, Valentiner, in: Eisentraut, Verwaltungsrecht in der Klausur, § 4 Rn. 51). Das berechtigte Interesse an der Feststellung wird bei Einschlägigkeit bestimmter Fallgruppen angenommen.

a) Konkrete Wiederholungsgefahr

Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse besteht, wenn eine Wiederholung der erledigten Maßnahme droht (Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 18 Rn. 48).

Voraussetzung ist indes, dass konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die darauf schließen lassen, dass eine erneute Belastung durch einen vergleichbaren und absehbaren Sachverhalt in Betracht kommt (Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 18 Rn. 48).

b) Rehabilitationsinteresse

Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse liegt zudem vor, wenn die begehrte Feststellung, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig war, als Genugtuung oder zur Rehabilitierung notwendig ist, weil der Verwaltungsakt einen objektiv diskriminierenden Charakter hatte und das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen beeinträchtigt hat(W.-R. Schenke/R.P. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, § 113 Rn. 142).

Erforderlich ist, dass dem Verwaltungsakt stigmatisierende Außenwirkung zukommt und diese in der Gegenwart andauert(W.-R. Schenke/R.P. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, § 113 Rn. 142).

c) Vorbereitung eines Amtshaftungs- oder Entschädigungsprozesses

Weiterhin ist zu beachten, dass derjenige, der durch den inzwischen erledigten Verwaltungsakt wirtschaftliche Nachteile erlitten hat und deshalb auf Schadensersatz oder Entschädigung die Zivilgerichte nach Art. 34 3 GG, § 40 II 1 VwGO anruft, ein berechtigtes Interesse daran hat, dass das Verwaltungsgericht vorher die Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsakts feststellt. An diese Feststellung ist das Zivilgericht gebunden, § 121 VwGO (Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 32 Rn. 1427). In diesem Fall liegt somit ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse des Klägers vor.

Voraussetzung ist, dass die Erledigung erst nach Klageerhebung eingetreten ist und die nachfolgende zivilgerichtliche Klage nicht offensichtlich aussichtslos ist (Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 32 Rn. 1427). Für den Fall, dass sich der Verwaltungsakt bereits vor der Klageerhebung erledigt hat, kann der Kläger direkt Klage zum Zivilgericht erheben. Ein berechtigtes Interesse des Klägers einen vorbereitenden Prozess vor dem Verwaltungsgericht zu führen besteht dann nicht (Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 32 Rn. 1427).

d) Schwerer Grundrechtseingriff

Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse ist zudem bei einem schwerwiegenden Grundrechtseingriff anzunehmen. Wichtig ist dabei, dass die Schwere des Grundrechtseingriffs dargelegt wird. Wäre jeder Grundrechtseingriff für das Vorliegen eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses ausreichend, würde die Voraussetzung praktisch leerlaufen, denn bei belastenden Verwaltungsakten liegt grundsätzlich zumindest ein Eingriff in Art. 2 I GG vor (W.-R. Schenke/R.P. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, § 113 Rn. 146).

e) Verwaltungsakte, die sich typischerweise kurzfristig erledigen

Ein berechtigtes Feststellungsinteresse ist zudem zu bejahen, wenn sich der Verwaltungsakt oder das Verpflichtungsbegehren typischerweise so kurzfristig erledigen, dass andernfalls keine gerichtliche Überprüfung in einem Hauptsachverfahren möglich wäre (Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 32 Rn. 1427). Als Beispiel kann man sich den polizeilichen Platzverweis nach § 34 PolG NRW merken (Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 32  Rn. 1427).

IV. Zusammenfassung

Insgesamt stellt die Prüfung einer Fortsetzungsfeststellungsklage den Klausurbearbeiter vor einige Herausforderungen, die allerdings durch ein sorgfältiges Lesen des Normtextes und Verständnis der Grundstruktur der Klage gut zu meistern sind.

Zusammenfassend ergeben sich für die Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage folgende Besonderheiten:

  • Im Rahmen der Statthaftigkeit ist zu prüfen, ob die Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 I 4 VwGO direkt oder analog angewendet wird, wobei im letzteren Fall das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke und einer vergleichbaren Interessenlage darzulegen ist.
  • Im Fall der Erledigung nach Klageerhebung richten sich die übrigen Sachentscheidungsvoraussetzungen nach denen der Ausgangsklage (Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage). Zusätzlich bedarf es nach § 113 I 4 VwGO eines besonderen Feststellungsinteresses.
  • Bei Erledigung vor Klageerhebung ist, solange der Verwaltungsakt noch nicht bestandskräftig geworden ist, streitig, ob ein Vorverfahren nach § 68 I 1 VwGO erforderlich ist und ob eine Fristbindung nach §§ 74, 58 II VwGO besteht. Eines Streitentscheides bedarf es allerdings dann nicht, wenn das Vorverfahren bereits nach § 110 I  JustG NRW entbehrlich ist oder die Frist nach §§ 74, 58 II VwGO eingehalten wurde. Wichtig ist zudem, dass sich das Fortsetzungsfeststellungsinteresse nicht aus dem Interesse des Klägers an der Vorbereitung eines Amtshaftungs- oder Entschädigungsprozesses ergeben kann.
28.03.2025/0 Kommentare/von Marie-Lou Merhi
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Marie-Lou Merhi https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Marie-Lou Merhi2025-03-28 08:01:442025-06-03 08:51:07Die Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage – ein Grundlagenbeitrag
Alexandra Alumyan

Vertrauensfrage im Fokus

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Die Ankündigung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), voraussichtlich am 15. Januar 2025 die Vertrauensfrage zu stellen, bietet Examenskandidaten einen hervorragenden Anlass, sich noch einmal dem Staatsorganisationsrecht zu widmen.

I. Auflösung des Bundestages: Vertrauensfrage

Ob der Regierungskurs des Bundeskanzlers noch von einer parlamentarischen Mehrheit getragen ist, kann der Bundeskanzler mittels der sog. „Vertrauensfrage“ an die Mitglieder des Bundestages feststellen lassen. In der Klausur sind folgende Voraussetzungen zu prüfen:

1. Vertrauensantrag

Den Antrag auf Ausspruch des Vertrauens (Vertrauensantrag) stellt der Bundeskanzler. Dieser kann die Vertrauensfrage nur als solche, oder aber verbunden mit einer Sachfrage stellen, beispielsweise mit einer Gesetzesvorlage, siehe Art. 81 Abs. 1 S. 2 GG (Sachs/Brinktrine, 10. Aufl. 2024, Art. 68 GG Rn. 26 ff.).

2. Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages

Nach der Antragstellung führt der Bundestag eine Abstimmung über den Vertrauensantrag durch. Zwischen dem Antrag und der Abstimmung müssen 48 Stunden liegen, Art. 68 Abs. 2 GG. Die Rechtsfolge des Art. 68 GG knüpft an das Nichtvorliegen einer Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages an.

Wichtig! Der Vertrauensantrag kann nur dann den Grund für die Bundestagsauflösung schaffen, wenn weniger als die Mehrheit der Abgeordneten das Vertrauen aussprechen.

„Mehrheit“ bedeutet hier die absolute Mehrheit im Sinne des Art. 121 GG, sodass es nicht auf die Zahl der Anwesenden, sondern auf die gesetzliche Mitgliederzahl ankommt. Diese beläuft sich derzeit gem. § 1 Abs. 1 S. 1 BWahlG auf 630 Abgeordnete. Mehr als die Hälfte sind somit (630:2+1=) 316 Abgeordnete.

Merkposten: Durch das neue Bundeswahlgesetz sind die § 6 Abs. 4 bis 7 BWahlG (a.F.) entfallen, sodass die Anzahl der Abgeordneten nicht mehr durch Überhang- und Ausgleichsmandate erhöht werden kann.

3. Auflösungsantrag

Erreicht der Vertrauensantrag nicht die Zustimmung der Mehrheit der Bundestagsmitglieder, kann der Bundeskanzler einen Antrag auf Auflösung des Bundestages stellen, Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG. Ob er den Antrag stellt, liegt in seinem pflichtgemäßen Ermessen (Dürig/Herzog/Scholz/Herzog, 104. EL 2024, Art. 68 GG Rn. 45). Der Auflösungsantrag richtet sich an den Bundespräsidenten.

Alternativ kann der Bundeskanzler von der Antragstellung absehen und von seinem Amt zurückzutreten (BeckOK GG/Pieper, 59. Ed. 2024, Art. 68 GG Rn. 32 ff.). Ihm steht auch weiterhin die Möglichkeit offen, als „Minderheitskanzler“ im Amt zu bleiben (v. Münch/Kunig/Kerkemeyer, 7. Aufl. 2021, Art. 68 GG Rn. 50).

4. Ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal: Politische Instabilität

Das Bundesverfassungsgericht hat die Zulässigkeit der Vertrauensfrage jedoch von einem weiteren Merkmal abhängig gemacht: In seiner Entscheidung im Jahr 1983 (Helmut Kohl) forderte das BVerfG das Vorliegen einer materiellen Auflösungslage im Sinne einer „politischen Lage der Instabilität“ (BVerfGE 62, 1, 42 ff.), im Jahr 2005 sprach das BVerfG von der „zweckgerechten Anwendung“ der Vertrauensfrage (BVerfGE 114, 121, 149).

Hintergrund dieser Einschränkung ist, dass das Grundgesetz kein „Selbstauflösungsrecht“ des Bundestages kennt. Eine Selbstauflösung und infolgedessen Neuwahlen sollen nicht durch die „Hintertür“ des Art. 68 GG ermöglicht werden. Neben den formellen Voraussetzungen ist daher auch der Zweck des Art. 68 GG zu berücksichtigen: Die Sicherung der Handlungsfähigkeit der Regierung.

Zielt der Bundeskanzler darauf ab, sich einer tragfähigen Mehrheit zu vergewissern, spricht man von der „echten Vertrauensfrage“. Ist die Frage jedoch darauf gerichtet, die Auflösung herbeizuführen, weil der Bundeskanzler sich einer stabilen Mehrheit nicht mehr sicher sein kann, so handelt es sich um eine „unechte“ bzw. „auflösungsgerichtete“ Vertrauensfrage (Degenhart, Staatsrecht I, 36. Auflage, § 9 Rn. 773).

Dies bedeutet, dass die Vertrauensfrage nur dann gestellt werden darf, wenn sie – dem Zweck des Art. 68 GG entsprechend – der Behebung einer Lage politischer Instabilität dient. Bei der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage ist dabei konkret zu prüfen, ob die Handlungsfähigkeit der parlamentarisch verankerten Bundesregierung verloren gegangen ist. Oder in anderen Worten das BVerfG:

„Der Bundeskanzler, der die Auflösung des Bundestages auf dem Weg des Art. 68 GG anstrebt, soll dieses Verfahren nur anstrengen dürfen, wenn es politisch für ihn nicht mehr gewährleistet ist, mit den im Bundestag bestehenden Kräfteverhältnissen weiter zu regieren. Die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen, daß er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll zu verfolgen vermag.“ (BVerfGE 62, 1, 44).

Dabei ist zu betonen, dass dem Bundeskanzler eine weite Einschätzungsprärogative zusteht und seine Entscheidung dahingehend, ob parlamentarische Handlungsfähigkeit vorliegt, vor dem BVerfG nur der Kontrolle auf grobe und offensichtliche Fehlerhaftigkeit unterworfen werden kann.

5. Rechtsfolge

Bei Vorliegen der Voraussetzungen kann der Bundespräsident binnen 21 Tagen die Auflösung des Bundestages anordnen, Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG. Die Frist beginnt mit dem Abschluss der Abstimmung zu laufen (Dürig/Herzog/Scholz/Herzog, 104. EL 2024, Art. 68 GG Rn. 54).

Aus dem Wortlaut „kann“ ergibt sich, dass es sich um eine Ermessensentscheidung handelt. Der Bundespräsident hat also nach eigenem politischem Ermessen zu entscheiden, ob stabile Regierungsverhältnisse ohne oder erst durch Neuwahlen gesichert werden können (BeckOK GG/Pieper, 59. Ed. 2024, Art. 68 GG Rn. 13 ff.). Er hat sowohl ein formelles Prüfungsrecht als auch ein auf die Evidenzkontrolle beschränktes materielles Prüfungsrecht (Huber/Voßkuhle/Epping, 8. Aufl. 2024, Art. 68 GG Rn. 40). Ihm ist das Auflösungsrecht jedoch vollständig entzogen, sofern der Bundestag in der Zwischenzeit einen neuen Bundeskanzler wählt, Art. 68 Abs. 1 S. 2 GG.

Die Auflösungsanordnung des Bundespräsidenten bedarf der Gegenzeichnung des Bundeskanzlers, Art. 58 S. 1 GG. Erst mit dem Zusammentritt des neuen Bundestages endet das Amt des alten Bundestages, Art. 39 Abs. 1 S. 2, 69 Abs. 2 GG. Innerhalb von 60 Tagen finden die Neuwahlen statt, vgl. Art. 39 Abs. 1 S. 4 GG.

Der Bundespräsident könnte auch gem. Art. 81 Abs. 1 S. 2 i.V.m. S. 1 GG  auf Antrag der Bundesregierung den Gesetzgebungsnotstand erklären. 

II. Abgrenzung zum konstruktiven Misstrauensvotum

Nicht zu verwechseln ist die Vertrauensfrage mit dem konstruktiven Misstrauensvotum, Art. 67 GG. Initiatoren des Misstrauensvotums sind die Abgeordneten, welche bei Erreichen einer Mehrheit im Sinne des Art. 121 GG einen Nachfolger für das Kanzleramt wählen und dem amtierenden Bundeskanzler das Misstrauen aussprechen können, woraufhin der Bundespräsident den Bundeskanzler entlassen und den gewählten Nachfolger ernennen muss. Das Prozessuale ergibt sich aus § 97 GO BT.

III. Ausblick

In einem Zuge hat Bundeskanzler Olaf Scholz die Entlassung von Finanzminister Christian Lindner bekanntgegeben und angekündigt, am 15. Januar 2025 vor dem Bundestag die Vertrauensfrage zu stellen. Dies wäre die 6. Vertrauensfrage in der Geschichte der BRD. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich bereit erklärt, im Falle einer gescheiterten Vertrauensfrage die Auflösung des Bundestages anzuordnen. Ob Bundeskanzler Olaf Scholz der Forderung der Opposition, die Vertrauensfrage nicht erst im Januar, sondern alsbald zu stellen folgt, ist nicht absehbar, ist noch, so der Bundeskanzler, die Verabschiedung mehrerer unaufschiebbarer Gesetzesvorhaben geplant. Unabhängig davon, wann der Bundeskanzler den Vertrauensantrag stellen wird, bietet sich ein solch aktueller Anlass in naher Zukunft als Prüfungsstoff gut an:

Eine mögliche Einbettung in einer Examensklausur könnte über ein Organstreitverfahren erfolgen, so wie in BVerfGE 62, 1: In dem Fall haben Bundestagsabgeordnete einen möglichen Verstoß der Auflösungsanordnung des Bundespräsidenten gegen Art. 68 Abs. 1 GG zum Streitgegenstand erhoben und die Verletzung von Art. 38 Abs. 1 S. 2 i.V.m Art. 39 Abs. 1 GG geltend gemacht.

Man beachte hier in der Zulässigkeit, dass Bundestagsabgeordnete aufgrund ihrer eigenen verfassungsrechtlichen Position (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) antragsberechtigt sind. Schwerpunkt in der Begründetheit wäre die Erschließung des Sachverhalts im Hinblick auf das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 68 Abs. 1 GG, insbesondere der politischen Lage der Instabilität. Vor allem das Missbrauchspotential einer „unechten“ bzw. „auflösungsgerichteten“ Vertrauensfrage kann thematisiert und mit dem Argument relativiert werden, dass der Bundeskanzler auch bei einer bloß künftig drohenden Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse von einer Auflösungslage ausgehen darf und nicht auf den endgültigen Zusammenbruch warten muss, wenn schon vorher der Zweck des Art. 68 Abs. 1 GG berührt ist.

11.11.2024/1 Kommentar/von Alexandra Alumyan
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Alexandra Alumyan https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Alexandra Alumyan2024-11-11 07:41:342024-11-14 09:31:25Vertrauensfrage im Fokus
Micha Mackenbrock

Stadt Essen muss der AfD ihre Stadthalle zur Verfügung stellen

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Die Stadt Essen geriet im Sommer diesen Jahres in den Fokus einer juristischen Auseinandersetzung, als sie einen bereits geschlossenen Mietvertrag mit der AfD für deren Bundesparteitag in der Essener Stadthalle kündigte. Die Stadt begründete ihre Entscheidung mit Bedenken über mögliche rechtliche Verstöße während der Veranstaltung. Die AfD ging daraufhin vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen im Eilverfahren gegen die Kündigung vor und konnte sich mit Verweis auf das Gleichbehandlungsgebot der Parteien durchsetzen. Den Gerichtsbeschluss vom 14.06.2024 – 15 L 888/24 stellt unser Gastautor Micha Mackenbrock vor. Er hat an der Universität Bonn Rechtswissenschaft studiert und das erste Staatsexamen abgeschlossen. Nun ist er Mitarbeiter in einer mittelständigen Anwaltskanzlei und widmet sich seinem Promotionsvorhaben im Bereich Arbeitsrecht.

I. Der Sachverhalt

Die Stadt Essen betreibt eine Stadthalle, die „Grugahalle“. Dort finden Messen, Konzerte, Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und auch politische Veranstaltungen statt. Die Stadt betreibt die Stadthalle dabei nicht unmittelbar, sondern ist „nur“ Mehrheitsgesellschafterin der die Stadthalle vermietenden „Messe Essen GmbH“ (nachstehend nur GmbH genannt). An dieser hält die Stadt insgesamt 80% der Gesellschaftsanteile. Anfang 2023 hatte die GmbH einen Mietvertrag mit der AfD abgeschlossen. Die AfD wollte die Stadthalle für ihren Bundesparteitag am 29. und 30. Juni nutzen.

Doch in der Zeit zwischen dem Abschluss des Mietvertrags und dem geplanten Bundesparteitag wachsen bei der Stadt Essen Zweifel, ob der AfD tatsächlich die Stadthalle zur Verfügung gestellt werden soll.  Schließlich beschloss der Stadtrat im Mai 2024, dass die GmbH den Mietvertrag kündigen soll, falls die AfD eine Bedingung nicht erfüllt: Die AfD soll eine strafbewehrte Selbstverpflichtungserklärung dahingehend abgeben, dass Teilnehmer des Parteitags keine strafbaren Handlungen vornehmen. Damit wollte die Stadt insbesondere verhindern, dass auf dem Parteitag verbotene SA-Parolen gerufen werden. Die AfD gab diese Erklärung nicht ab, woraufhin die GmbH den Mietvertrag kündigte.

Die AfD wandte sich gegen die Kündigung im Eilverfahren vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen. Die Stadt Essen sollte verpflichtet werden sicherzustellen, dass die AfD Zugang zur Stadthalle gewährt bekommt.

II. Die Entscheidung

Das Gericht entschied im Sinne der AfD. ihr ist der Zugang zur Stadthalle gewähren, ohne dass sie zuvor eine strafbewehrte Selbstverpflichtung abgeben muss.

1. Kein Zugangsanspruch nach § 8 Gemeindeordnung NRW

In Betracht kommt ein Anspruch aus § 8 II, IV Gemeindeordnung NRW. Die Stadthalle ist eine kommunale öffentliche Einrichtung im Sinne von § 8 I Gemeindeordnung NRW, denn sie ist ein Gegenstand, der den Einwohnern beziehungsweise einen in der Zweckbestimmung festgelegten Personenkreis durch die Gemeinde für bestimmte öffentliche Zwecke zugänglich gemacht wird. Dass die Stadthalle dabei „nur“ von der GmbH und nicht von der Stadt Essen unmittelbar betrieben wird, ist unbeachtlich: „Auch eine von einer juristischen Person des Privatrechts betriebene Einrichtung kann eine gemeindliche Einrichtung sein. Um eine solche Einrichtung handelt es sich jedenfalls dann, wenn sie tatsächlich zu den von der Gemeinde verfolgten öffentlichen Zwecken zur Verfügung steht und wenn die Gemeinde die öffentliche Zweckbindung der Einrichtung nötigenfalls gegenüber der privatrechtlichen Betriebsgesellschaft durchzusetzen imstande ist. In diesen Fällen wandelt sich der Benutzungsanspruch in einen Verschaffungs- beziehungsweise. Einwirkungsanspruch.“ (VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 14.06.2024 – 15 L 888/24). Demnach würde die Stadt Essen dazu verpflichtet werden, auf die von ihr beherrschte GmbH dergestalt einzuwirken, dass diese der AfD die Stadthalle zur Verfügung stellt (sog. Einwirkungsanspruch).

Der Anspruch nach § 8 II, IV Gemeindeordnung NRW scheitert aber daran, dass der AfD-Bundesverband, welcher Einlass in die Stadthalle begehrt, seinen Sitz in Berlin, und nicht im Gemeindegebiet der Stadt Essen hat.

2. Gleichbehandlungsanspruch der Parteien

Doch auch außerhalb des Anwendungsbereichs von § 8 Gemeindeordnung NRW kann die Gemeinde dazu verpflichtet sein, einer Partei die Stadthalle zur Verfügung zu stellen: Eine solche Pflicht kann sich aus dem Gleichbehandlungsanspruch der Parteien gemäß § 5 I 1 PartG i.V.m. Art. 3 I, III 1, Art. 21 GG ergeben. Die in Rede stehende GmbH hat die Stadthalle in der Vergangenheit regelmäßig an politische Parteien im Sinne von § 2 I PartG vermietet. § 5 I 1 PartG verpflichtet Träger öffentlicher Gewalt dazu, alle Parteien bei der Zurverfügungstellung von Einrichtungen und andere öffentlichen Leistungen gleich zu behandeln. Und auch aus Art. 3 I, III 1, Art. 21 GG ergibt sich für alle politischen Parteien ein Gleichbehandlungsanspruch. Das Recht auf Chancengleichheit einer Partei ist verletzt, „wenn ein Träger öffentlicher Gewalt die Nutzung einer öffentlichen Einrichtung einer Partei verweigert, obwohl er sie anderen Parteien einräumt oder eingeräumt hat“ (VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 14.06.2024 – 15 L 888/24). Demnach wird die Entscheidungsfreiheit einer Gemeinde, ob und wem sie Zugang zu ihren öffentlichen Einrichtungen gewährt, begrenzt.

Abweichungen von der bisherigen Vergabepraxis bedürfen zu ihrer Rechtfertigung eines sachlichen Grundes. Hier wurde in der Vergangenheit die Stadthalle an politische Parteien vermietet, ohne dass diese zuvor eine strafbewehrte Selbstverpflichtungserklärung abgeben mussten. Dem Grunde nach hat somit auch die AfD einen Anspruch dahingehend, dass ihr die Stadthalle bedingungslos vermietet wird.

3. Keine Rechtfertigung für Ungleichbehandlung der AfD
a) Strafbare Äußerungen

Die Stadt Essen begründet ihr Entscheidung damit, dass zu erwarten sei, die AfD könnte die Stadthalle für strafbare Handlungen, insbesondere verbotene SA-Parolen, missbrauchen. An eine derartige Gefahrenprognose seien aber hohe Anforderungen zu stellen, so das VG Gelsenkirchen. Eine Versagung des Zugangs zu einer öffentlichen Einrichtung greift in den Anspruch aus Art. 3 I, III 1, Art. 21 GG ein, sodass eine solche nur dann in Betracht kommt, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine Rechtsverletzung bestehe.

Die hier von der Stadt Essen vorgelegte Prognose genügt dieser Anforderung nicht.  Zwar legt sie mündliche und schriftliche Äußerungen einzelner AfD-Mitglieder vor, welche sich in der Vergangenheit strafbar geäußert haben. Das alleine genüge aber nicht als Anhaltspunkt dafür, dass sich auf dem AfD-Bundesparteitag in der Stadthalle erneut entsprechend geäußert werden würde. Insbesondere habe die Stadt Essen vorab keine Kenntnis von dem Inhalt der für den Parteitag geplanten Reden und könne dahingehend nur Mutmaßungen anstellen.

b) Gegendemonstrationen

Auch die Befürchtung der Stadt, dass es wegen dem Parteitag zu (möglicherweise sogar gewalttätigen) Gegendemonstrationen kommen wird, rechtfertige nicht die Versagung der Zulassung zu einer öffentlichen Einrichtung. Es sei Aufgabe der Polizei- und Ordnungsbehörden, Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren und eingetretene Störungen zu beseitigen, so das VG Gelsenkirchen.

4. Ergebnis

Die AfD hat aus § 5 I 1 PartG i.V.m. Art. 3 I, III 1, Art. 21 GG einen Anspruch gegen die Stadt Essen dahingehend, dass die Stadt auf die von ihr beherrschte GmbH so einwirkt, dass diese der AfD die Stadthalle für ihren Bundesparteitag zur Verfügung stellt, ohne dass diese eine strafbewehrte Selbstverpflichtungserklärung abgeben muss.

III. Einordnung der Entscheidung

Die Entscheidung kam wenig überraschend. Selbst die von der Stadt Essen und der GmbH mit der Sache anvertrauten Rechtsanwaltskanzleien prognostizierten eine gerichtliche Niederlage. Zudem wehrte sich die Stadt Essen im Nachgang nicht gegen den Beschluss des VG Gelsenkirchen und legte keine Beschwerde vor dem Oberverwaltungsgericht NRW ein. Die Stadt Essen und mit ihr viele Menschen hätten sich wohl ein anderes Ergebnis gewünscht. Doch mit dem Beschluss des VG wurde einmal mehr die Gleichbehandlung aller Parteien gestärkt, welche nicht von dem Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig im Sinne von Art. 21 II GG eingestuft worden sind.

04.11.2024/1 Kommentar/von Micha Mackenbrock
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Micha Mackenbrock https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Micha Mackenbrock2024-11-04 09:34:032024-11-14 09:31:49Stadt Essen muss der AfD ihre Stadthalle zur Verfügung stellen
Micha Mackenbrock

BVerwG: Kein Referendariatsplatz für Verfassungsfeinde

Aktuelles, Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht

Rechtsstaatliche Resilienz ist derzeit in aller Munde, schon weil der Gesetzgeber das Bundesverfassungsgericht besser vor Verfassungsfeinden schützen möchte. Der Schutz der staatlichen Rechtspflege vor Extremisten war auch Gegenstand der nachstehend zu besprechenden Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG 2 C 15.23 – Urt. v. 10.10.2024 – 2 C 15.23).

Unser Gastautor Micha Mackenbrock hat an der Universität Bonn Jura studiert und das erste Staatsexamen abgeschlossen. Nun ist er Mitarbeiter in einer mittelständigen Anwaltskanzlei und widmet sich seinem Promotionsvorhaben im Bereich Arbeitsrecht.

I. Der Sachverhalt

Der Kläger Matthias B. hatte in Würzburg Rechtswissenschaften studiert. Nach seinem ersten Staatsexamen wollte er im April 2020 sein Referendariat am OLG Bamberg (Bayern) beginnen. Sein Antrag auf Zulassung zum Referendariat wurde aber vom OLG abgelehnt. Begründet wurde dies mit seiner aktiven Mitgliedschaft bei der als vom Verfassungsschutz rechtsextrem eingestuften Partei „Der III. Weg“. Seine verfassungsfeindliche Gesinnung wurde auch bei von ihm gehaltenen Reden deutlich. Schon zuvor kandidierte Matthias B. für den Landtag für die NPD und war zeitweise in einem mittlerweile verbotenen Kameradschaftsdachverband tätig. Aus alldem können, so der Präsident des OLG Bamberg, geschlossen werden, dass Matthias B. derzeit ungeeignet für die Aufnahme zum Referendariat sei.

In einem anderen Bundesland (Sachsen) wurde Matthias B. nach langem Rechtsstreit jedoch zum Referendariat zugelassen. Der Kläger sei, so der Verfassungsgerichtshof Sachsen, in seinen Rechten verletzt, denn das Referendariat sei Voraussetzung für den Zugang zu den klassischen juristischen Berufen wie Rechtsanwalt, Richter oder Staatsanwalt. In § 7 Nr. 6 BRAO heißt es, dass die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft zu versagen sei, wenn die antragstellende Person die freiheitliche demokratische Grundordnung in strafbarer Weise bekämpft. Ein „strafbares Bekämpfen“ läge im Fall von Matthias B. aber (noch) nicht vor. Die rechtsextreme Gesinnung und sein aktives Handeln im „III. Weg“ reiche nicht aus, um den Tatbestand des § 7 Nr. 6 BRAO zu erfüllen. Für die Ausbildung zum Volljuristen, die durch eine Absolvierung des Referendariats bedingt ist, könnten keine höheren Voraussetzungen gelten, als für die eigentliche Zulassung zur Berufsausübung selbst. Somit sei Matthias B. in Sachsen zum Referendariat zuzulassen.

Daraufhin erhob Matthias B. eine Fortsetzungsfestellungsklage, damit auch seine Ablehnung im Bezirk des OLG Bamberg als rechtswidrig anerkannt wird. Mit diesem Begehren drang er in den ersten Instanzen nicht durch. Nun hatte sich das BVerwG letztinstanzlich mit der Sache auseinanderzusetzen.

II. Die Entscheidung des BVerwG

1. Allgemeine Maßstäbe

Die strengen Anforderungen an die Verfassungstreue im Beamtenverhältnis können nach Auffassung des BVerwG nicht gelten, da der Kläger sein Referendariat in Bamberg nicht als Beamter ableisten würde. Jedoch sind Referendare Teil der staatlichen Rechtspflege, sodass auch für sie Mindestanforderungen bezüglich der Pflicht zur Verfassungstreue gelten müssen. Insbesondere eine aktive Betätigung gegen die Grundwerte der Verfassung stünde einer Aufnahme als Referendar daher entgegen. Die Beteiligten eines Rechtsstreits hätten einen Anspruch dahingehend, „dass niemand an der Bearbeitung ihrer Angelegenheiten mitwirkt, bei dem begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass er verfassungsfeindliche Ziele verfolgt oder aktiv unterstützt“ (Urt. v. 10.10.2024 – BVerwG 2 C 15.23). Daher könnten für Referendare durchaus höhere Anforderungen als für Rechtsanwälte gelten.

2. Im Einzelnen: Aktive Mitgliedschaft bei „Der III. Weg“

Damit stehe schon die aktive Mitgliedschaft des Klägers in der Partei „Der III. Weg“ einer Zulassung zum Referendariat entgegen. Die Parteistruktur liefe auf ein nationalsozialistisches Führerprinzip hinaus. Zudem würden ihre Ziele vom Verfassungsschutz als rechtsextremistisch eingestuft. Das Parteiprogramm basiere auf der Idee der Ungleichwertigkeit von Menschen und der daraus resultierenden rechtlichen Ungleichbehandlung, was nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei.

3. Kein entgegenstehendes Parteienprivileg

Das verfassungsrechtlich gewährleistete Parteienprivileg stehe dem Ausschluss des Klägers vom Referendariat nicht entgegen, so das BVerwG. Art. 21 II, IV GG schütze vor den Rechtsfolgen eines Parteiverbots, nicht aber vor mittelbaren Beeinträchtigungen von Parteimitgliedern: Parteimitlieder können auch schon vor einem erfolgreichen Parteiverbot als Verfassungsfeinde behandelt werden.

Somit hatte die Fortsetzungsfeststellungsklage von Matthias B. keinen Erfolg. Die Versagung der Zulassung zum Referendariat durch das OLG Bamberg war rechtmäßig.

III. Einordnung der Entscheidung

Für Matthias B. selbst hat seine Niederlage vor dem BVerwG keine unmittelbaren Auswirkungen. Er hat das Referendariat mittlerweile in Sachsen erfolgreich abgeschlossen und arbeitet nun als Rechtsanwalt. Dennoch zeigt das Urteil, dass der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat nicht dazu verpflichtet ist, Verfassungsfeinde zu Volljuristen auszubilden. Im Sinne rechtsstaatlicher Resilienz wäre es jedoch auch geboten, wenn die BRAO zukünftig dahingehend angepasst werden würde, dass die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft auch schon bei einer verfassungsfeindlichen Gesinnung versagt werden kann. Das Urteil des BVerwG jedenfalls würde dem nicht entgegenstehen.

21.10.2024/1 Kommentar/von Micha Mackenbrock
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Micha Mackenbrock https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Micha Mackenbrock2024-10-21 12:17:122024-11-11 07:51:38BVerwG: Kein Referendariatsplatz für Verfassungsfeinde
Redaktion

Gedächtnisprotokoll Öffentliches Recht I Mai 2024 NRW

Aktuelles, Examensreport, Nordrhein-Westfalen, Öffentliches Recht, Polizei- und Ordnungsrecht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht, Verschiedenes, Verwaltungsrecht

Wir freuen uns sehr, ein Gedächtnisprotokoll zur ersten Klausur im Öffentlichen Recht des Mai-Durchgangs 2024 in Nordrhein-Westfalen veröffentlichen zu können und danken Laura erneut ganz herzlich für die Zusendung. Selbstverständlich kann juraexamen.info keine Gewähr dafür geben, dass die in Gedächtnisprotokollen wiedergegebene Aufgabenstellung auch der tatsächlichen entspricht. Dennoch sollen Euch die Protokolle als Anhaltspunkt dienen, was euch im Examen erwartet.

Sachverhalt

In der kreisfreien Stadt D in NRW gibt es eine Gesamtschule mit einer gymnasialen Oberstufe (G). Die Schule wird von Schülern unterschiedlichster Religionsangehörigkeit besucht. Schon häufiger kam es zwischen den Schülern zu Spannungen auf Grund der verschiedenen Religionen.

Der 18-jährige A besucht die Oberstufe der G und ist seit kurzem Mitglied einer Glaubensgruppe die der Meinung ist, nur sie würden den christlichen Glauben richtig interpretieren. Dazu gehört, laut ihnen, auch das tägliche 10-minütige verpflichtende Gebet zwischen 12 und 13 Uhr. Dafür müssen sie sich auf den Boden vor einer Wand knien und laut beten. Der A fühlt sich demgegenüber verpflichtet und möchte nicht darauf verzichten oder leise beten.

Deswegen sucht er am 22.5 zum ersten Mal einen leeren Flur der Schule auf, um in der Pause diesem verpflichtenden Gebet nachzukommen. Dabei wird er rasch von anderen Schülern bemerkt. Einige fühlen sich davon provoziert und gestört und tun dies lautstark kund, andere wiederum verteidigen vehement diesen christlichen Glauben und schreien die anderen Schüler an. Der A beteiligt sich nicht an diesen Auseinandersetzungen und erscheint auch pünktlich zum Unterrichtsbeginn. Die Auseinandersetzungen sorgen aber dafür, dass der Unterricht nicht reibungslos abläuft.

Die Schulleiterin L zitiert den A deswegen in ihr Büro und ordnet ihm (formell rechtmäßig) ein Verbot des rituellen Betens auf dem Schulgelände, gem. § 43 III 3 SchulG NRW an, außerdem stellt sie ihm in Aussicht das Verstöße dagegen auch erzieherische Maßnahmen oder Ordnungsmaßnahmen nach sich ziehen können.

Der A lässt sich davon nicht beirren und so sucht er auch am 23.5 wieder einen leeren Flur auf, um dem Gebet nachzukommen. Dabei wird er auch wieder von Schülern bemerkt und wieder kommt es zu Auseinandersetzungen an denen A sich nicht beteiligt. Die L ermahnt den A und verweist ihn auf das Gespräch und den angedrohten Konsequenzen vom 22.5.

Auch am darauffolgenden Tag sucht der A wieder den Flur auf um beten zu können. Noch bevor andere Schüler ihn bemerken können, bemerkt die L ihn und zitiert ihn zusammen mit seiner Klassenlehrerin in ihr Büro. Nach Anhörung des A (§ 53 VI iVm § 123 I SchulG NRW) übergibt L dem A den schriftlichen und begründeten Unterrichtsausschluss für zwei Wochen beginnend ab dem folgenden Montag 27.5.

Der A legt noch am gleichen Tag einen formell rechtmäßigen Widerspruch und auch noch am gleichen Tag einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gegen das Land NRW beim zuständigen Verwaltungsgericht ein.

Laut A würde das Gebetsverbot ihn in seiner Religionsfreiheit aus Art. 4 GG einschränken, außerdem wäre es in Anbetracht der § 2 Abs. 6 Nr. 4 und 7 SchulG NRW Aufgabe der Schule ihm eine freie Religionsausübung zu gewährleisten. Deswegen wäre das Gebetsverbot sowieso rechtswidrig.

Außerdem würde ihn ein Unterrichtsausschluss benachteiligen, da seine Noten aktuell schon nicht gut sind und in Anbetracht der schon in einem Jahr stattfindenden Abiturprüfungen, würde diese harte „Sanktion“ unverhältnismäßig in sein Recht auf Bildung aus Art. 2 und 7 GG, § 1 SchulG NRW eingreifen.

Die G führt dagegen aus, dass sie schon alleine aufgrund der religiösen Neutralität solche rituellen Gebete unterbinden müsse. Deswegen könne das Gebetsverbot gar nicht rechtswidrig sein und wurde deswegen auch rechtmäßig angeordnet. Außerdem könnte sie, wenn der Unterricht gestört wird, nicht mehr ihrer Erziehungs- und Bildungspflicht nachkommen, welche sich aus dem Grundgesetz iVm § 1, § 2 SchulG NRW ergibt.

Frage: Hat der Antrag auf Einstweilige Anordnung des Rechtsschutzes Aussicht auf Erfolg?

Bearbeitervermerk:

– zu prüfen sind NICHT die Landesverfassung NRW, Art. 3 GG

– Aus dem SchulG sind nur die im Sachverhalt genannten Normen zu prüfen, deren Verfassungsmäßigkeit zu unterstellen ist

– unterstellen Sie die Prozess- und Beteiligtenfähigkeit

– Unterstellen Sie, dass der Antrag gegen den richtigen Klagegegner gerichtet ist

03.06.2024/1 Kommentar/von Redaktion
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2024-06-03 13:04:412024-06-03 13:04:46Gedächtnisprotokoll Öffentliches Recht I Mai 2024 NRW
Gastautor

Gewaltsames Blockieren ist nicht Demonstrieren – zum Urteil des BVerwG vom 27.3.2024 – 6 C 1.22

Aktuelles, Öffentliches Recht, Polizei- und Ordnungsrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Versammlungsrecht, Verwaltungsrecht

Wir freuen uns, nachfolgend einen Gastbeitrag von Moritz Augel veröffentlichen zu können. Der Autor ist studentische Hilfskraft am Institut für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn.

Die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG ist ein konstitutiver Bestandteil unseres demokratischen Gemeinwesens. Sie ist eine der zentralen politischen Grundrechte und gewährleistet eine Einflussnahme auf den politischen Prozess und die öffentliche Meinungsbildung. Über die Grenzen der Versammlungsfreiheit hatte das Bundesverwaltungsgericht im Fall einer versuchten Blockade eines AfD-Bundesparteitags zu entscheiden. Diese Entscheidung eignet sich wunderbar, um die Grundzüge des examensrelevanten Versammlungsrechts zu wiederholen. Dabei geht es sowohl um das Verhältnis zwischen dem allgemeinen Polizeirecht und dem spezielleren Versammlungsrecht als auch den Schutzbereich des Art. 8 GG.

I. Der Sachverhalt (Kurzfassung)

Im Jahr 2016 veranstaltete die AfD auf dem Messegelände Stuttgart einen zweitägigen Bundesparteitag, in dessen Vorfeld die Polizei Kenntnis erlangte, dass bis zu 1000 gewaltbereite Personen aus dem linksautonomen Spektrum Zufahrtswege blockieren und Ausschreitungen begehen wollten. Im Zuge dessen blockierte eine Gruppe von circa 500 Teilnehmern einen Kreisverkehr in der Nähe des Messegeländes, errichtete Barrikaden und zündete Pyrotechnik. Daraufhin wurde die Gruppe von der Polizei eingekesselt und zu einer in der Nähe eingerichteten Gefangenensammelstelle verbracht, wo die Personen erkennungsdienstlich behandelt wurden. Anschließend erhielten die Betroffenen einen Platzverweis und wurden zum circa 16 Kilometer entfernten Bahnhof in Esslingen verbracht. Hiergegen wandte sich der Kläger und begehrte die Feststellung der Rechtswidrigkeit des polizeilichen Handelns.

II. Die Entscheidungen der Vorinstanzen

Zunächst soll ein kurzer Blick auf die Entscheidungen der Vorinstanzen geworfen werden. Die unterschiedlichen Urteile des VG Sigmaringen und des VGH Mannheim zeigen, dass neben der Frage der sogenannten Polizeifestigkeit auch die Eröffnung des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG streitig war.

1. VG Sigmaringen, Urt. v. 13.02.2019 – 1 K 4335/17

Das Verwaltungsgericht Sigmaringen gab der Klage statt. Wegen der Sperrwirkung („Polizeifestigkeit“) [hierzu sogleich unter III.1.] des Versammlungsgesetzes habe die Polizei ihre Maßnahmen nicht auf das Polizeirecht stützen dürfen, ohne zuvor die Versammlung nach § 15 Abs. 3 VersG aufzulösen. [Beachte, dass sich einige Bundesländer, darunter auch Nordrhein-Westfalen, mit dem VersG NRW, eigene Versammlungsgesetze gegeben haben. Das Versammlungsrecht ist seit der Föderalismusreform 2006 der Gesetzgebungskompetenz der Länder zugeordnet, jedoch gilt gemäß Art. 125a Abs. 1 GG das Versammlungsrecht des Bundes fort, sofern nicht ein eigenes Versammlungsgesetz erlassen wurde]

2. VGH Mannheim, Urt. v. 18.11.2021 – 1 S 803/19

Das Land Baden-Württemberg ging gegen die Entscheidung des VG Sigmaringen in Berufung. Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim wies die Klage daraufhin in großen Teilen ab. Grund hierfür: Aus Sicht des VGH stellte das Vorgehen der Demonstranten eine sogenannte „Verhinderungsblockade“ dar, die nicht in den Anwendungsbereich des VersG fällt, da es am tatbestandlich vorausgesetzten Zweck der Meinungsbildung fehlt. Die „Verhinderungsblockade“ ist dabei von der „demonstrativen Blockade“ abzugrenzen. Letztere dienen einem Kommunikationsanliegen, welches durch die Blockade lediglich symbolisch verstärkt wird [hierzu sogleich unter III.2.].

III. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts

Am 27.03.2024 urteilte schließlich das Bundesverwaltungsgericht und legte in einer sehr differenzierten Entscheidung die Grundlagen des Versammlungsrechts dar.

1. Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts

Zunächst widmete sich das BVerwG der Frage, inwiefern die handelnden Beamten das Polizeirecht Baden-Württembergs als Ermächtigungsgrundlage für die getroffenen Maßnahmen heranziehen durften. Die sogenannte Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts ist eine Ausprägung sowohl des Grundsatzes des Vorrangs eines speziellen Gesetzes (lex specialis), als auch des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit. Das Versammlungsgesetz geht dem Polizeirecht als Spezialgesetz vor, sodass sich Maßnahmen der Gefahrenabwehr grundsätzlich nach dem Versammlungsgesetz richten müssen. Solange sich eine Person auf einer Versammlung befindet und sich auf die Versammlungsfreiheit berufen kann, ist ein auf das allgemeine Polizeirecht gegründeter Platzverweis unrechtmäßig. Diese Sperrwirkung gilt jedoch nur dann, wenn auch der Schutzbereich des Versammlungsrechts eröffnet ist.

2. Eröffnung des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit für Blockaden

Das Bundesverfassungsgericht definiert die Versammlung im Sinne des Art. 8 GG in ständiger Rechtsprechung als örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Ebenso definiert das Bundesverwaltungsgericht den Versammlungsbegriff des § 1 Abs. 1 VersG.

Enthält eine Veranstaltung sowohl Elemente, die auf eine Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet sind, als auch solche, die diesem Zweck nicht zuzurechnen sind, ist entscheidend, ob eine derart gemischte Veranstaltung ihrem Gesamtgepräge nach eine Versammlung ist. Blockaden bilden insoweit einen Grenzfall, da jedenfalls auch eine Realwirkung (regelmäßig in Form einer Störung) beabsichtigt ist. Eine Blockade unterfällt dem Schutz von Art. 8 GG, wenn mit ihr ein kommunikatives Anliegen verfolgt wird, durch das am Prozess der öffentlichen Meinungsbildung teilgenommen wird. Steht jedoch anstelle der Mitwirkung an der Meinungsbildung die Erzwingung des eigenen Vorhabens im Vordergrund der Blockade, so unterfällt diese nicht dem Schutzbereich des Art. 8 GG (BVerfG, Urt. v. 24.10.2001 – 1 BVR 1190/90, NJW 2002, 1031).

Das bloße Stören einer anderen Veranstaltung genügt jedoch nicht, um eine Verhinderungsblockade anzunehmen. Vielmehr unterfallen nur solche Veranstaltungen nicht dem Versammlungsbegriff, die auf die vollständige Verhinderung einer anderen Versammlung abzielen. Es bedarf mithin einer Abgrenzung zwischen den grundsätzlich zulässigen demonstrativen Blockaden und unzulässigen Verhinderungsblockaden. Anders als der VGH Mannheim ließ es das BVerwG vorliegend genügen, dass mit Transparenten und Sprechchören kollektiv Meinungen geäußert wurden. Der VGH hatte demgegenüber die Auffassung vertreten, dass Meinungsäußerungen die bloß bei Gelegenheit einer Verhinderungsblockade stattfinden, keine Versammlung begründen können. Das BVerwG stellt demgegenüber klar, dass der Versammlungscharakter einer Blockade allenfalls dann verneint werden könne, wenn das kommunikative Anliegen und der Einsatz entsprechender Kommunikationsmittel „in handgreiflicher Weise einen bloßen Vorwand darstellen“ (BVerwG, Urt. v. 27.03.2024 – 6 C 1.22, BeckRS 2024, 5595; Rn. 50).

3. Erfordernis der friedlichen Versammlung

Jedoch gewährleistet Art. 8 Abs. 1 GG, ebenso wie Art. 11 Abs. 1 EMRK, nur das Recht, sich friedlich zu versammeln. Unfriedliche Versammlungen, die von Beginn an und durchgehend einen unfriedlichen Charakter haben, bedürfen vor der Anwendung des Polizeirechts keiner Auflösung nach § 15 Abs. 3 VersG. Unfriedlich ist eine Versammlung, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit stattfinden, wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen und Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten. Es genügt demgegenüber jedoch nicht, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen. Es muss sich zudem um eine kollektive Unfriedlichkeit handeln, das heißt, die Versammlung muss im Ganzen einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nehmen bzw. der Veranstalter oder sein Anhang müssen einen solchen anstreben oder zumindest billigen. Begehen nur einzelne Versammlungsteilnehmer oder eine Minderheit unter ihnen im Verlauf einer Versammlung Ausschreitungen, bleibt der Schutz der Versammlung mit Blick auf die friedlichen Teilnehmer erhalten. Gegen die störende Minderheit ist vielmehr isoliert vorzugehen (Lembke in JuS 2005, 984 (985)).

Blockaden und Besetzungen sind nicht per se als unfriedlich einzuordnen, soweit sie nicht mit aktiven gewalttätigen Handlungen einhergehen (Wapler in Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, § 1 VersG, Rn. 39). Unter anderem wegen des Einsatzes von Pyrotechnik gegen die Polizeibeamten war jedoch die konkrete Versammlung nach Ansicht des BVerwG als unfriedlich anzusehen. Während das VG Sigmaringen und der VGH Mannheim noch die Auffassung vertraten, dass das Versammlungsrecht auch für unfriedliche Versammlungen gelte, stellt das Bundesverwaltungsgericht klar, dass bei erkennbar unfriedlichen Versammlungen unmittelbar nach Polizeirecht vorgegangen werden kann (BVerwG, Urt. v. 27.03.2024 – 6 C 1.22, BeckRS 2024, 5595, Rn. 66). Aus diesem Grund bedurfte es keiner versammlungsrechtlichen Auflösungsverfügung, um unter Anwendung des Landespolizeirechts gegen die Störer vorzugehen.

4. Grenzen des polizeilichen Gewahrsams

Hierbei sind jedoch die Grenzen der Normen des Polizeigesetzes Baden-Württemberg zu wahren. Unter anderem erklärte der VGH Mannheim die Verwehrung eines Toilettengangs sowie die Vorenthaltung von Trinkwasser während der polizeilichen Maßnahme für rechtswidrig. Das Bundesverwaltungsgericht äußerte darüber hinaus Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Dauer des Gewahrsams über fast den ganzen Tag, womit sich nachfolgend nun erneut der VGH zu befassen hat.

IV. Fazit

Die Versammlungsfreiheit umfasst auch demonstrative Blockaden, sofern sie nicht allein der Verhinderung einer anderen Veranstaltung dienen. Kein noch so hehres Ziel erlaubt es jedoch, dabei unfriedlich und gewaltsam vorzugehen. Aus diesem Grund konnte sich die Polizei für das Handeln auf das Landespolizeirecht stützen. Das Urteil hat auch Auswirkungen über den konkreten Einzelfall hinaus: Für friedliche Blockadeaktionen wie etwa das vieldiskutierte „Klimakleben“ dürften mit der Entscheidung letzte Zweifel ausgeräumt sein, dass sie von der Versammlungsfreiheit geschützt sind (so Hohnerlein, becklink 2030351). Das Bundesverwaltungsgericht stärkt damit moderne Protestformen (vgl. hierzu auch die Entscheidung zur Zulässigkeit eines Protestcamps: BVerwG, Urt. v. 24.05.2022 – 6 C 9/20, NVwZ 2022, 1197). An einem lässt das BVerwG jedoch keinen Zweifel: Gewalt ist kein Mittel der politischen Auseinandersetzung und unterfällt daher auch nicht dem Schutz des Art. 8 GG.

14.05.2024/1 Kommentar/von Gastautor
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2024-05-14 09:39:232024-05-14 11:53:28Gewaltsames Blockieren ist nicht Demonstrieren – zum Urteil des BVerwG vom 27.3.2024 – 6 C 1.22
Moritz Augel

Das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten – und der Bundesratspräsidentin?

Aktuelles, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Startseite

Wir freuen uns, nachfolgend einen Gastbeitrag von Moritz Augel veröffentlichen zu können. Der Autor ist studentische Hilfskraft am Institut für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn.

Anstoß einer Debatte rund um den Examensklassiker: Prüfungsrecht des Bundespräsidenten! Tritt das Cannabisgesetz (CanG), welches nach intensiver Debatte am vergangenen Freitag (22.3.2024) nun auch den Bundesrat passierte zum 1. April in Kraft? Nachdem sich im Bundesrat keine Mehrheit zur Anrufung des Vermittlungsausschusses fand, bleibt damit nur noch eine letzte Hürde, die das Gesetz überwinden muss: die Ausfertigung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten gemäß Art. 82 Abs. 1 GG.

Einzelne Abgeordnete der Union, wie etwa Tino Sorge, gesundheitspolitischer Sprecher der Unionsfraktionen im Deutschen Bundestag, fordern, der Bundespräsident solle das Cannabisgesetz nicht unterzeichnen; zu groß sei der Widerstand der Justiz- und Innenminister der Länder. Die Sorge, die etwa auch NRW-Justizminister Limbach sowie Oberstaatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Köln Engel teilen, besteht darin, dass durch die Vielzahl der neu aufzurollenden Verfahren eine Überlastung der Justiz droht.

Weiterhin, so Sorge, stellten sich Fragen hinsichtlich der „äußert kurzen Fristen zwischen der politischen Einigung innerhalb der Koalition, dem Versand des finalen Gesetzespakets an die anderen Bundestagsfraktionen und dem Beschluss im Plenum“. Dieser Vortrag erinnert sehr an das Verfahren vom Bundestagsabgeordneten Heilmann, der mit einer ähnlichen Begründung im vergangenen Jahr erfolgreich einen Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht stellte. Es stellte dabei in Bezug auf das Heizungsgesetz fest, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass durch die erhebliche Beschleunigung des Verfahrens Abgeordnetenrechte nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verletzt werden (BVerfG, Beschl. v. 5.7.2023 – 2 BvE 4/23).

Im vorliegenden Fall des CanG gibt es eine weitere Besonderheit: Bundespräsident Steinmeier befindet sich gegenwärtig im Urlaub, sodass er gemäß Art. 57 GG durch den Bundesratspräsidenten, konkret die Bundesratspräsidentin Schwesig, Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, vertreten wird.

Der Beitrag beschäftigt sich daher neben der grundsätzlichen Frage des Prüfungsrecht auch mit den sich ergebenden Besonderheiten im Falle der Vertretung des Bundespräsidenten.

I. Das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten

Das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten ist ein absoluter Klassiker des Staatsorganisationsrechts. Präziser geht es um die Frage, ob der Bundespräsident ein Recht hat, die Ausfertigung des Gesetzes mit der Begründung zu verweigern, dass dieses verfassungswidrig sei. In der Geschichte der Bundesrepublik hat es immerhin bereits acht Fälle gegeben, in denen es der Bundespräsident abgelehnt hatte, das Gesetz auszufertigen (https://www.bundespraesident.de/DE/amt-und-aufgaben/aufgaben-in-deutschland/amtliche-funktionen/amtliche-funktionen_node.html?cms_submit=Suchen&cms_templateQueryString=Pr%C3%BCfungsrecht). Prominentes Beispiel für eine Ausfertigung trotz heftiger Debatte um die Verfassungsmäßigkeit ist die Entscheidung des Bundespräsidenten Rau, das sog. Zuwanderungsgesetz auszufertigen. Zugleich regte er jedoch an, das Gesetz durch das Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen. Hierbei ging es im Konkreten um das Abstimmungsverhalten des Landes Brandenburg im Bundesrat. Entgegen Art. 51 Abs. 3 S. 2 GG hatte das Land uneinheitlich und damit möglicherweise ungültig abgestimmt. Dennoch hatte der Bundesratspräsident die Stimmen des Landes Brandenburg als Zustimmung gewertet. Das Bundesverfassungsgericht erklärte dies später für unzulässig (BVerfG, Urt. v. 18.12.2002 – 2 BvF 1/02).

Zu einer ungültigen Stimmabgabe kam es auch am vergangenen Freitag bei der Debatte um die Anrufung des Vermittlungsausschusses bezüglich des CanG. Während der sächsische Ministerpräsident Kretschmer (CDU) für die Anrufung des Vermittlungsschusses votierte, widersprachen ihm die Minister Dulig (SPD) und Günther (Grüne). Die Bundesratspräsidentin Schwesig stellte daraufhin zutreffend fest, dass das Land Sachsen damit ungültig abgestimmt habe.

1. Formelles Prüfungsrecht

Grundsätzlich trifft den Bundespräsidenten eine Ausfertigungspflicht, die sich auf den Wortlaut des Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG „werden (…) ausgefertigt“ stützen lässt. (Voßkuhle/Schemmel, JuS 2021, 118 (120)). Ein formelles Prüfungsrecht wird jedoch ebenfalls mit dem Wortlaut des Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG begründet, da ein formell verfassungswidriges Gesetz nicht „nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande“ gekommen ist. Art. 82 GG weist eine Parallele zu Art. 78 GG auf, in welchem das Zustandekommen eines Gesetzes geregelt ist. Durch diesen Artikel wird das Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen, sodass hieraus gefolgert werden kann, dass hinsichtlich der Gesetzgebungskompetenz (Art. 70 ff.), der Beteiligung des Bundesrats (Art. 77 GG) sowie dem Einleitungsverfahren (Art. 76 ff.) ein Prüfungsrecht besteht. Ein solches Recht wird dem Bundespräsidenten nach ganz allgemeiner Auffassung zugestanden. Zum Teil wird diesbezüglich sogar vertreten, dass den Bundespräsidenten eine Pflicht trifft, zu prüfen, ob der Bundestag das Gesetz beschlossen hat, die Rechte des Bundesrats gewahrt wurden und die notwendige Gesetzgebungszuständigkeit bestand (vgl. Brenner in Huber/Voßkuhle, GG, Art. 82, Rn. 25).

2. Materielles Prüfungsrecht

Deutlich umstrittener ist die Frage, ob dem Bundespräsidenten auch ein materielles Prüfungsrecht zukommt.

a) Argumente gegen ein materielles Prüfungsrecht

Gegen ein materielles Prüfungsrecht wird argumentiert, dass der Bundespräsident eine deutlich schwächere Rolle als der Reichspräsident zu Zeiten der Weimarer Republik einnimmt. Dieses Argument kann jedoch nur bedingt überzeugen. Aus der früheren Stellung des Reichspräsidenten in der Verfassung der Weimarer Republik lässt sich nicht unmittelbar eine Aussage für die Rolle des Bundespräsidenten nach dem Grundgesetz herleiten. Darüber hinaus gleichen sich Art. 70 WRV und Art. 82 Abs. 1 GG in ihrem Wortlaut. Unter jenem Art. 70 WRV war jedoch ein materielles Prüfungsrecht des Reichspräsidenten anerkannt (Voßkuhle/Schemmel, JuS 2021, 118 (120)).

Ferner wird ein institutionelles Argument angeführt, das sich auf das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG stützt. Es sei allein dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten zu prüfen, ob ein Gesetz verfassungswidrig ist. Des Weiteren kann der Bundespräsident, sofern er nur einzelne Bestimmungen eines Gesetzes für verfassungswidrig hält, stets nur das gesamte Gesetz aufhalten, was einen besonders intensiven Eingriff in die Gesetzgebungskompetenz darstellen würde. Dagegen lässt sich jedoch anführen, dass die Prüfung des Bundespräsidenten nicht mit der des Bundesverfassungsgerichts vergleichbar ist und zudem eine gerichtliche Kontrolle der Weigerung des Bundespräsidenten im Rahmen der Organklage möglich ist (Voßkuhle/Schemmel, JuS 2021, 118 (120 f.)).

b) Argumente für ein materielles Prüfungsrecht

Für ein materielles Prüfungsrecht wird unter anderem der Amtseid des Bundespräsidenten nach Art. 56 GG angeführt. Darin schwört der Bundespräsident, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes zu wahren und zu verteidigen. Dieses Argument ist jedoch zirkelschlüssig: Den Eid kann der Bundespräsident nämlich nur im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Befugnisse verletzen. Nimmt er also eine Befugnis, die er nicht hat, nicht wahr, so kann darin keine Verletzung des Grundgesetzes liegen; der Eid kann mithin nicht Pflichten begründen, sondern bezieht sich nur auf bestehende Pflichten (Butzer in Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 82, Rn. 169).

Das wohl gewichtigste und am Ende auch überzeugendste Argument für ein materielles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten findet sich in Art. 20 Abs. 3 GG. Demnach sind alle Staatsorgane an die verfassungsgemäße Ordnung gebunden. Würde man annehmen, Art. 82 Abs. 1 GG verpflichte den Bundespräsidenten auch verfassungswidrige Gesetze auszufertigen, so widerspräche dies seiner Verfassungsbindung (Hauck, JA 2017, 93 (94)). Anders: Das Staatsoberhaupt darf nicht zu Verfassungsverstößen gezwungen sein (Brenner in Huber/Voßkuhle, GG, Art. 82, Rn. 27).

Hiergegen wird teilweise eingewandt, dass auch jeder Verwaltungsbeamte an die Verfassung gebunden sei und dennoch ein seiner Meinung nach verfassungswidriges Gesetz anwenden muss (vgl. Meyer, JZ 2011, 602 (605)). Bei der Ausfertigung des Gesetzes nimmt der Bundespräsident jedoch eine legislative Funktion wahr. Ferner bestünden erhebliche Rechtsunsicherheiten, wenn jeder einzelne Verwaltungsbeamte ein aus seiner Sicht verfassungswidriges Gesetz nicht ausführen müsse. Verweigert der Bundespräsident die Ausfertigung, so tritt das Gesetz gar nicht erst in Kraft, sodass hiervon keine Rechtsunsicherheiten ausgehen kann (Hauk, JA 2017, 93 (94)).

Mangels Antragsberechtigung in der abstrakten Normenkontrolle ist auch kein anderes Mittel zur Verhinderung des Inkrafttretens solcher Gesetze, die er für verfassungswidrig erachtet, ersichtlich, als die Ausfertigung zu verweigern.

c) Begrenzung auf Evidenzfälle

Ein größerer Teil der Literatur will das materielle Prüfungsrecht jedoch auf solche Fälle begrenzen, in denen der Verfassungsverstoß schwer und offensichtlich ist (unter vielen: Brenner in Huber/Voßkuhle, GG, Art. 82, Rn. 29). Dies wird damit begründet, dass immerhin auch der Bundestag gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden und wegen seiner unmittelbaren demokratischen Legitimation vorrangig für den Inhalt eines Gesetzes verantwortlich ist. Wenn das Parlament ein Gesetz für verfassungsmäßig erachte, müsse ihm daher ein „Einschätzungsvorrang“ gegenüber dem Bundespräsidenten zukommen (Gröpl, Staatrecht I, § 16 Rn. 1283). Gegen eine solche Beschränkung auf Evidenzfälle wird jedoch angeführt, dass sich hierfür keine Anhaltspunkte im Grundgesetz finden und die Beschränkung auf offenkundige Fälle viel zu vage sei, was sich allein daran zeigt, dass unter Juristen die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes häufig stark umstritten ist (s. zur Kritik u.a. Hauk, JA 2017, 93 (95 f.)).

3. Politisches Prüfungsrecht

Absolut unstreitig ist, dass dem Bundespräsidenten jedenfalls kein politisches Prüfungsrecht zukommt. Weder darf der Bundespräsident die Ausfertigung aus politischen Gründen verweigern, noch unverhältnismäßig lange hinauszögern (Brenner in Huber/Voßkuhle, GG, Art. 82, Rn. 24).

II. Prüfungsrecht bei Verstößen gegen europäisches Unionsrecht ?

Ebenfalls umstritten ist die Frage, ob sich der Prüfungsmaßstab des Bundespräsidenten nur auf das Grundgesetz beschränkt, oder auch auf das Europarecht erstreckt.

Die wohl herrschende Meinung verneint ein europarechtliches Prüfungsrecht (u.v. Brenner in Huber/Voßkuhle, GG, Art. 82, Rn. 31). Hierfür spricht insbesondere der Wortlaut des Art. 82 Abs. 1 GG, der von den „Vorschriften dieses Grundgesetzes“ spricht.

Vertreten wird jedoch auch, dass sich aus Art. 23 Abs. 1 GG iVm. Art. 20 Abs. 3 GG und dem Gebot des europafreundlichen Verhaltens aus Art. 4 Abs. 3 EUV ein europarechtliches Prüfungsrecht ergibt (Schladebach/Koch, JURA 2015, 355 (357 ff.).

Selbst wenn man das Unionsrecht über die Brücke des Art. 23 Abs. 1 GG als Teil der verfassungsmäßigen Ordnung begreift, würde der Bundespräsident im Falle einer Ausfertigung jedoch nicht entgegen seiner Verfassungsbindung handeln, denn eine Unionsrechtswidrigkeit bedingt nicht die Nichtigkeit, sondern lediglich die Unanwendbarkeit eines nationalen Gesetzes aufgrund des Anwendungsvorrangs; das Gesetz bliebe im Übrigen jedoch wirksam (Mann in Sachs, GG, Art. 82, Rn. 16).

III. Das Prüfungsrecht im Falle der Vertretung?

Schwierig ist ferner die Frage, wie sich das Prüfungsrecht in Vertretungsfällen verhält. Teilweise wird vertreten, dass es in Fällen kurzfristiger Verhinderung aus Gründen der Verfassungsorgantreue geboten sei, dass das Gesetz bis zur Rückkehr des Bundespräsidenten „auf dessen Schreibtisch liegen bleibe“ (Mann in Sachs, GG, Art. 82, Rn. 15). Gleiches müsse bei verfassungsrechtlich umstrittenen Gesetzen gelten (Mann in Sachs, GG, Art. 82, Rn. 15). Dies müsse gerade dann gelten, wenn der Bundespräsident ein Gutachten in Auftrag gegeben hat, dass nach Ende des Verhinderungsfall fertig werden wird; hier kann der Bundesratspräsident sich nicht über die bereits begonnene Prüfung hinwegsetzen (Guckelberger, NVwZ 2007, 406 (408 f.). Je größer die Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit sind, desto eher ist angesichts der neutralen Stellung des Bundespräsidenten geboten, dass der Bundesratspräsident seine Rückkehr abwartet (Guckelberger, NVwZ 2007, 406 (409).

IV. Fazit

Das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten wird in formeller und materieller Hinsicht von der überwiegenden Mehrheit angenommen. Umstritten ist jedoch, ob sich das Prüfungsrecht auf Evidenzfälle beschränkt und ob der Prüfungsmaßstab auch das Europarecht umfasst. Nicht zuletzt stellt sich im konkreten Fall des CanG die Frage, wie sich das Prüfungsrecht in Vertretungsfällen verhält. All diese Fragen bieten sich für Examensklausuren an und sind damit für die Ausbildung hochrelevant.

Auch, wenn die Argumente hinsichtlich einer drohenden Überlastung der Justiz nicht gänzlich von der Hand zu weisen sind; immerhin sind nun am Amtsgericht Köln die fünf zuständigen Richter voraussichtlich das ganze Jahr mit der Bearbeitung von Altfällen beschäftigt, die sich aus der Amnestie-Regelung ergeben (https://www.tagesschau.de/inland/cannabis-legalisierung-richter-justiz-100.html), ersetzt die Verfassung eben nicht die Politik. Angesichts der kurzen Zeit, die bis zum 1. April verbleibt, ist daher davon auszugehen das Bundesratspräsidentin Schwesig das CanG stellvertretend für den Bundespräsidenten ausfertigen wird und damit schon zeitnah die Legalisierung von Cannabis folgt.

26.03.2024/2 Kommentare/von Moritz Augel
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Moritz Augel https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Moritz Augel2024-03-26 13:33:592024-10-11 06:56:34Das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten – und der Bundesratspräsidentin?
Dr. Marius Schäfer

Das juristische Staatsexamen im Öffentlichen Recht aus der Perspektive des Prüfers – Teil 4/4

Examensvorbereitung, Fallbearbeitung und Methodik, Für die ersten Semester, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Referendariat, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes

Der Verfasser ist u. a. seit 2013 als Korrektor für den Klausurenkurs bzw. für das schriftliche/gecoachte Probeexamen im Fachbereich Rechtswissenschaften an der Universität Bonn sowie seit 2021 als nebenamtliches Prüfungsmitglied für das Erste und Zweite Juristische Staatsexamen bei dem Landesprüfungsamt für Juristen Rheinland-Pfalz tätig.

Fortsetzung des Artikels vom 23.02.2024.

Klausurbearbeitung im Zweiten Staatsexamen

Die zuvor erläuterten Hinweise gelten selbstverständlich entsprechend für die Klausurbearbeitung auch im Zweiten Staatsexamen. Dennoch gilt es diesbezüglich, auf weitere Besonderheiten einzugehen, welche charakteristisch für verwaltungsgerichtliche oder behördliche bzw. anwaltliche Klausuren im Assessorexamen sind.

Anwaltliche bzw. behördliche Klausur

Die hier inbegriffenen Klausuren haben vor allem einen beratenden Charakter, da zumeist entweder ein Mandant einen anwaltlichen Rat oder aber ein Behördenleiter eine juristische Stellungnahme vom Klausurbearbeiter hinsichtlich des weiteren rechtlichen Vorgehens erwartet. Entsprechend sollte der erste Gliederungspunkt mit der korrekten und einschlägigen Bezeichnung als „Mandantenbegehren“ oder „Arbeitsauftrag“ benannt werden. Unprofessionell wirkt es, wenn in einer behördlichen Klausur vom Mandantenbegehren die Rede ist, obwohl es sich bei dem behördeninternen Vorgesetzen gerade nicht um einen Mandanten handelt. Noch unverständlicher wirkt es auf den Korrektor, wenn die Verwendung des Gutachtenstils im anschließend zu fertigenden Gutachten zu den Erfolgsaussichten eines Antrages, eines Widerspruchs oder einer Klage konsequent ausgelassen und ausschließlich im Urteilsstil begutachtet wird. Gerne vergessen wird, dass Anträge im Assessorexamen häufig zunächst einer Auslegung unterzogen werden müssen. Kaum mehr vernünftige Erläuterungen liest man als Prüfer an der Stelle des zweckmäßigen Vorgehens zu prozess- und kostentaktischen Aspekten, was den Schluss zulässt, dass fast alle Bearbeiter durchweg so gut wie gar nicht zu wissen scheinen, was sie hierzu zu Papier bringen sollen. Ein Mangel in der juristischen Ausbildung zeigt sich zuletzt auch bei der Anfertigung des praktischen Teils in Gestalt eines Bescheides, Widerspruchsbescheides, einer Antrags- bzw. Klageerwiderung oder Klageschrift bzw. Widerspruchserhebung, welcher oftmals nur noch in Eile und unter Verwendung von zu weitgehenden Verweisen auf den gutachtlichen Teil abgefasst wird. Zwar ist dem Korrektor der häufig unmenschliche Umfang einer Klausur durchaus bewusst, doch ändert dies nichts an dem anzuwendenden Bewertungsmaßstab, sodass der Prüfling sein Augenmerk darauflegen sollte, eine möglichst vollständige und lückenlose Klausurbearbeitung fertigzustellen, um zumindest eine praktisch brauchbare Lösung abzuliefern. Dazu gehören nicht zuletzt auch die Nebenentscheidungen, etwa die Entscheidung über die Anordnung der sofortigen Vollziehung (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO), die Entscheidung zum Verwaltungszwang sowie die Kostenentscheidung bei einem Ausgangsbescheid. Es sollten im Ansatz zumindest auch eher selten anzutreffende Klausurgestaltungen bekannt sein, wie z. B. die Anfertigung eines Abhilfe- bzw. Beschwerdebescheides oder Vorlageberichtes. Aufgrund des noch umfangreicheren Inhalts solcher Klausuren im Vergleich zum Ersten Staatsexamen, kommen den Hinweisen des Bearbeitervermerks sowie dem Zeitmanagement eine jeweils noch größere Bedeutung zu, was wiederum eine gewisse Übung zwecks effektiver Zeiteinteilung voraussetzt.

Verwaltungsgerichtliche Klausur

In der Regel dürfte hier ein Urteil anzufertigen sein, bestehend aus dem Rubrum, dem Tenor, dem Tatbestand sowie den Entscheidungsgründen zu sämtlichen Haupt- und Nebenentscheidungen. Zuweilen kann aber auch die Anfertigung eines Beschlusses im vorläufigen Rechtsschutzverfahren verlangt sein. Eher selten gefordert wird das Erstellen eines Vorlage-, Prozesskostenhilfe-, Normenkontroll-, Berufungszulassungs- oder Beschwerdebeschlusses. Auch der Gerichtsbescheid fristet ein eher kümmerliches Dasein in der juristischen Klausurenpraxis, kommt aber durchaus vor. Häufiger als das Erstellen eines Gerichtsbescheids wird aber etwa die Anfertigung eines Urteils nach einem Antrag auf mündliche Verhandlung infolge eines Gerichtsbescheides verlangt. Hier gilt es, die prozessualen Besonderheiten im praktischen Entwurf korrekt einzukleiden. So gehört der Sachverhalt zum Ergehen des Gerichtsbescheides in die große Prozessgeschichte nach dem Beklagtenvorbringen. Darüber hinaus ist zu Beginn der Entscheidungsgründe festzustellen, dass der Gerichtsbescheid aufgrund des rechtzeitigen Antrages auf Durchführung der mündlichen Verhandlung gemäß § 84 Abs. 3 Hs. 2 VwGO als nicht ergangen gilt und deshalb durch Urteil über die Klage zu entscheiden ist. Da diese Klausuren vor allem von Praktikern korrigiert werden, sind die Bewertungsmaßstäbe hier besonders streng, sodass gerade die Formalien der gerichtlichen Entscheidung unbedingt korrekt sein und wenigstens die Ausführungen zum Tenor Sinn ergeben müssen. Nicht vernachlässigt werden sollte der Tatbestand, da es Prüfer gibt, die bei einer lückenhaften Darstellung dessen sodann auch den Entscheidungsgründen insgesamt wegen fehlender Verwertbarkeit eine großzügige Bewertung versagen. Die relevanten Informationen für den Tatbestand lassen sich oft wortwörtlich der Prüfungsakte entnehmen und sollten sachgerecht übernommen werden. Die Entscheidungsgründe müssen ausreichend fundierte aber letztlich zielgerichtete Ausführungen im Urteilsstil enthalten, gerne auch mit aus den einschlägigen Kommentaren abgeschriebenen Passagen. Eine vollständige Entscheidung wissen die meisten Korrektoren zu schätzen, denn speziell bei den verwaltungsgerichtlichen Klausuren kommt es nicht auf den bis ins Kleinste ausgeführten Meinungsstreit, sondern die praktische Brauchbarkeit der Bearbeitung an, angefangen mit der lückenlosen Darstellung von Rubrum bis zur Rechtsmittelbelehrung.

Hinweise für die mündliche Prüfung

Den Schlusspunkt setzt die am Ende der jeweiligen Ausbildung stehende mündliche Prüfung, die schon allein aufgrund des nicht unerheblichen prozentualen Anteils an der Gesamtbewertung keinesfalls unterschätzt werden sollte, obwohl es sich dabei nur um lediglich einen Prüfungstag handelt.

Vorbereitung

Die Protokolle der vorangegangenen Prüfungen zu den namentlich im Voraus bekannten Prüfern sind auf entsprechenden Web-Seiten oder den Studentenvertretungen zu erhalten und helfen dabei, nicht nur die späteren Prüfungsinhalte, sondern auch die Persönlichkeit des Prüfers besser einschätzen zu können. Ratsam kann es sein, sich zudem das berufliche Umfeld des Prüfers anzuschauen, denn was liegt näher für einen Prüfer, als Fälle aus der eigenen Erfahrung heraus in die Prüfung einfließen zu lassen? Handelt es sich z. B. um einen hauptamtlichen Richter, dann sollten wenigstens die einschlägigen Pressemitteilungen seines Gerichtszweiges der letzten Monate Eingang in die Prüfungsvorbereitungen finden – übertrieben bis übergriffig wäre aber etwa der Besuch einer mündlichen Verhandlung dieses Richters.

Vorgespräch

In der Regel führen die Examenskandidaten der Reihe nach vor Beginn der Prüfung ein Gespräch mit dem Prüfungsvorsitzenden, in welchem dem jeweilige Prüfling Gelegenheit gegeben wird, seinen juristischen und vielleicht auch sonstigen Werdegang zu schildern sowie die weiteren Ziele und Wünsche hierfür auch in Bezug auf den anstehenden Prüfungstag zu äußern. Dies dient dazu, dass zumindest der Vorsitzende der Prüfung einen näheren Eindruck der Kandidaten gewinnen kann, um etwa auch im Verlauf der Prüfung besser auf deren Persönlichkeit eingehen zu können. Die Gelegenheit zu diesem offenen Gespräch sollte von jedem Prüfling genutzt werden, um über das persönliche Empfinden im Vorfeld der Prüfung zu sprechen, denn in der Regel sind die Vorsitzenden der Prüfungskommissionen besonders wohlwollende und verständnisvolle Persönlichkeiten. Zudem sei an dieser Stelle angemerkt, dass auch die übrigen Prüfer die jeweiligen Vorpunktzahlen der Examenskandidaten aus den schriftlichen Prüfungen kennen. Die Diskussion um die Fairness der teilweise auch aus dieser Kenntnis heraus entstehenden Bewertungen soll jedoch an dieser Stelle schon allein deswegen nicht dargestellt werden, da diese äußerst selten zu Ungunsten der Kandidaten ausfällt und durch die mündliche Prüfung ohnehin zumeist eine Punktesteigerung eintritt.

Aktenvortrag

Nach dem etwa zehn- bis fünfzehnminütigen Gespräch wird der zu Prüfende alsbald in den Vorbereitungsraum gebeten, um den Kurzvortrag vorzubereiten, sofern dieser von der einschlägigen Prüfungsordnung vorgesehen ist. Die Tendenz zeigt allerdings, dass diese Aktenvorträge allmählich aus den Prüfungsordnungen zum Ersten Staatsexamen verschwinden, was die Vorbereitung auf die mündliche Prüfung erheblich vereinfacht, denn diese beinhaltet ansonsten einen nicht unerheblichen weiteren Übungsaufwand. Spätestens aber zum Zweiten Staatsexamen werden sämtliche Examenskandidaten letztlich unweigerlich mit diesem Prüfungsteil konfrontiert. Wegen der äußerst kurz bemessenen Vorbereitungs- und Vortragszeit ist für den Aktenvortrag noch viel mehr als im Rahmen der schriftlichen Prüfung eine Fokussierung auf die wesentlichen Punkte ausschlaggebend für eine positive Bewertung. Ein strukturiertes Vorgehen erlangt hier also eine noch größere Bedeutung als im Rahmen der schriftlichen Prüfungen, sodass grundsätzlich kurze und prägnante Informationen zu geben sind, während lediglich die problematischen Punkte einer näheren Ausführung bedürfen. Entscheidend für eine positive Beurteilung durch die Prüfungskommission ist, dass man als Vortragender die Prüfer, welche die Prüfungsakte mit Sachverhalt und Lösung zwar bereits Tage zuvor erhalten aber hierzu keine eingehende Prüfung vorgenommen haben dürften, “an der Hand führt“ und in der sehr knapp bemessenen Zeit durch den Sachverhalt und die Lösung in verständlichen und effektiven Worten begleitet. Das Zeitmanagement hierzu lässt sich daher nur durch eine gezielte Vorbereitung erlernen, was sich jedoch wunderbar in Lerngruppen erarbeiten lässt. Die Zeiteinteilung ist eminent wichtig, sodass der Vortrag ungefähr folgendermaßen getaktet werden sollte:

  • Einleitung (0:00-0:30 min.)
  • Sachverhalt (0:30-4:30 min.)
  • Allgemeiner Entscheidungsvorschlag (4:30-4:40 min.)
  • Rechtliche Würdigung (4:40-9:40 min.)
  • Konkreter Entscheidungsvorschlag (9:40-9:55 min.)
  • Abschließender Gruß (9:55-10:00 min.)

Mit einer solchen Einteilung verbleibt dem Vortragenden ein großzügiger Puffer von circa zwei Minuten, denn letztlich gilt die ungefähre Maßgabe, dass ein Vortrag nicht länger als 12 Minuten dauern sollte. Selbstredend ist die Zeiteinteilung nicht der einzige Punkt, auf den ungeachtet des ohnehin wichtigen fachlichen Teils ein Augenmerk zu richten ist. Trotz der allseits angestrebten Objektivität sei aus Sicht eines Prüfers doch zugegeben, dass man sich von einem souveränen Aktenvortrag beeindrucken bzw. von einem sprachlich und strukturell fehlgehenden Kurzvortrag verschrecken lässt. Für den ersten Eindruck wird der Examenskandidaten selten eine zweite Chance erhalten, sodass bereits der Aktenvortrag zumindest mit Blick auf das Auftreten und die groben Punkte stimmen sollte. Nicht zuletzt gehört zu diesem Eindruck, neben einem souveränen und freundlichen Auftreten, auch immer noch eine angemessene Bekleidung.

Teilprüfungen

Sodann werden die Examenskandidaten je vorgesehenem Rechtsgebiet von einem Kommissionsmitglied geprüft. Auf den einzelnen Kandidaten sollen dabei für jedes Rechtsgebiet circa 10 Minuten entfallen, was eine faire Verteilung der Prüfungszeit durch den Prüfer voraussetzt. Sollte die Prüfungsordnung ein Wahlfach vorsehen, wie es häufig im Zweiten Staatsexamen der Fall ist, beginnen die einzelnen Prüfungen in der Regel mit diesem entsprechenden Abschnitt. Dazu sei gesagt, dass es besonders peinlich wirkt und sich der Prüfling an dieser Stelle insofern auch den kompletten Prüfungstag nahezu ruinieren kann, wenn dieser im Wahlfach nicht sattelfest wirkt, etwa weil er noch nicht einmal über eine grobe Übersicht zu den dies beinhaltenden Themen verfügt. Ohne eine angemessene Vorbereitung wird man insbesondere hier auf Unverständnis der Kommissionsmitglieder bei einer schwachen Leistung stoßen. Die allermeisten Prüfer teilen den Kandidaten einen oder mehrere Fälle schriftlich aus bzw. mündlich mit und stellen hierzu ihre mehr oder weniger üblichen Fragen. Gerade bei erfahrenen Prüfern wiederholen sich diese Fälle oft. Gelegentlich fragen einige Prüfer die Kandidaten auch über aktuelle oder datumsspezifische historische Ereignisse aus, sodass sich ein Blick auf eine Reihe unterschiedlicher Pressemedien lohnen kann, um wenigstens kurzzeitig eine (juristische) Allgemeinbildung dem Schein nach vorzuweisen. Die Prüfungsreihenfolge der Kandidaten kann von Prüfer zu Prüfer variieren. Manche Kommissionsmitglieder bevorzugen eine strikte Reihenfolge, während andere einen freien Diskurs präferieren. Über das Studium der Prüfungsprotokolle ist man als Kandidat aber auch hierauf bestens vorbereitet.

Bewertung

Nach jeder Teilprüfung werden die Prüflinge für einen kurzen Zeitraum nach draußen gebeten, in dem die Kommissionsmitglieder über die einzelnen Teilpunkte der vorangegangenen Prüfung beraten. Im Anschluss an die letzte Teilprüfung werden alle Punktzahlen zusammengerechnet und bei Grenzfällen oft noch einmal “ein Auge zugedrückt“, um einen Kandidaten nicht kurz vor einer bedeutsamen Hürde vor einem Punkte- oder Notensprung scheitern zu lassen. Zwar sehen Prüfungsordnungen auch sogenannte Sozialpunkte vor, doch sind diese Fälle, in denen es hierüber zu einer Sonderbewertung gekommen ist, eine absolute Ausnahme. Abgeschlossen wird die Prüfung mit der Verkündung der Prüfungsergebnisse und den herzlichen Gratulationen der Kommissionsmitglieder, verbunden mit den besten Wünschen für die weitere Zukunft der hoffentlich erfolgreichen Absolventen.

Abschließende Worte

Das Erlernen von juristischem Wissen alleine macht aus einem Studenten weder einen guten Juristen noch lässt sich damit allein eine rechtswissenschaftliche Prüfung bestehen. Vielmehr muss dieses Wissen zielgerichtet und sachgerecht angewendet werden und einem Korrektor, der trotz allen Unkenrufen zum Trotz (noch) ein Mensch ist, nahegebracht werden. Solange eine computerbasierte KI Klausuren nicht korrigiert oder mündliche Prüfungen abnimmt, muss es für den Prüfling in erster Linie darum gehen, den menschlichen Korrektor von seinen juristischen Fertigkeiten sach- und zielgerichtet zu überzeugen. Hierfür müssen zumindest die oben dargestellten Grundlagen beachtet werden, ohne die dem Prüfer Zweifel an den Fähigkeiten des Examenskandidaten kommen werden. Immerhin vermag es ein Prüfer aus Fleisch und Blut, sich von der Leistung des Prüflings einen Gesamteindruck zu verschaffen, den es schließlich zu bewerten gilt und welcher bestenfalls zum Positiven ausfällt. Examenskandidaten haben in dem Zusammenspiel mit dem Prüfer einen weit größeren Einfluss auf die Bewertung ihrer Leistung, als ihnen manchmal bewusst ist.

01.03.2024/1 Kommentar/von Dr. Marius Schäfer
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Marius Schäfer https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Marius Schäfer2024-03-01 12:28:302024-03-01 12:28:34Das juristische Staatsexamen im Öffentlichen Recht aus der Perspektive des Prüfers – Teil 4/4
Dr. Marius Schäfer

Das juristische Staatsexamen im Öffentlichen Recht aus der Perspektive des Prüfers – Teil 3/4

Examensvorbereitung, Fallbearbeitung und Methodik, Für die ersten Semester, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Referendariat, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes

Der Verfasser ist u. a. seit 2013 als Korrektor für den Klausurenkurs bzw. für das schriftliche/gecoachte Probeexamen im Fachbereich Rechtswissenschaften an der Universität Bonn sowie seit 2021 als nebenamtliches Prüfungsmitglied für das Erste und Zweite Juristische Staatsexamen bei dem Landesprüfungsamt für Juristen Rheinland-Pfalz tätig.

Fortsetzung des Artikels vom 17.02.2024.

Hinweise zur Prüfung der Begründetheit

In der Regel wird die Klausurbearbeitung mindestens eine Prüfung der Begründetheit eines Antrages oder einer Klage zum Inhalt haben, wobei nicht immer zwangsläufig schematisch exakt, dafür aber ausführlicher argumentiert werden muss, sodass an dieser Stelle die meisten Bewertungspunkte verteilt werden. Immerhin lassen sich auch für den schwerpunktmäßigen Prüfungsbereich der Begründetheit einige typische Examensfehler identifizieren, die es unbedingt zu vermeiden gilt.

Obersatz

Als Einleitung und Hinweis für die weitere Prüfung kommt dem Obersatz gerade an dieser Stelle eine große Bedeutung zu, weil damit dem Korrektor signalisiert werden sollte, was im weiteren Verlauf des Gutachtens geprüft wird. Für die Begründetheit sollte hier der rote Faden beginnen, an dem sich der Korrektor im weiteren Verlauf “entlanghangeln“ kann.

Rechtsgrundlagen

Die wenigen üblicherweise relevanten Rechtsgrundlagen sind Ausgangspunkt der Prüfung einer jeden Begründetheit. Kommen mehrere Rechtsgrundlagen in Betracht, ist im Vorfeld zu prüfen, welche davon im vorliegenden Fall anzuwenden ist, bevor die formelle und materielle Rechtmäßigkeit einer Maßnahme auf Grundlage eben dieser Rechtsgrundlage geprüft wird. Bei belastenden Maßnahmen ist immer ein Wort zum Rechtsstaatsprinzip und als Ausdruck davon zum Vorbehalt des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) zu verlieren. Bei der Anwendung von Rechtsgrundlagen zeigt sich vielfach, dass mit Blick auf die angewendeten Normen zum einen keine korrekte Trennung zwischen der Tatbestandsseite sowie der Rechtsfolgenseite stattfindet, und zum anderen zwischen den einzelnen Tatbestandvoraussetzungen nicht sauber differenziert wird und so folglich keine sachgerechte Subsumtion stattfinden kann.

Prüfungsmaßstab

Noch bevor die Rechtmäßigkeit einer irgendwie gearteten staatlichen Maßnahme geprüft wird, sollte nicht vergessen werden, dass gegebenenfalls zuerst noch der einzelne Prüfungsmaßstab klarzustellen ist, insbesondere bei verfassungsprozessualen Klausuren, z. B. der Hinweis bei der Urteilsverfassungsbeschwerde, dass das BVerfG keine Superrevisionsinstanz ist. Mindestens notwendige Stichworte zum gerichtlichen Prüfungsmaßstab bei einem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO lauten: Eigenständige Interessenabwägung des Gerichts und summarische Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache.

Definitionen

Ein absolutes Muss ist die sichere Kenntnis über die einschlägigen Definitionen oder die Bedeutung gerade von im Verfassungsrecht besonders relevanten Begriffen, denn sonst kann eine fundierte Subsumtion, auf die im Öffentlichen Recht besonderen Wert gelegt wird, nicht erfolgen. Beispielhaft dazu sei die Verhältnismäßigkeitsprüfung angeführt, denn hier ist zunächst zu definieren, wann eine Maßnahme verhältnismäßig ist und was unter den aufgeführten Merkmalen zu verstehen ist. Beispiel:

Eine Maßnahme ist verhältnismäßig, wenn diese zur Erreichung eines legitimen Zieles geeignet, erforderlich sowie angemessen ist. Als legitime Zwecke kommen […] in Betracht. […]. Die Geeignetheit verlangt die Förderung des gewünschten Erfolges und die Möglichkeit der Zweckerreichung. […]. Die Erforderlichkeit einer Maßnahme ist nicht gegeben, wenn der Behörde ein gleich wirksames, aber für den Adressaten weniger und Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belastendes Mittel zur Erreichung des Ziels zur Verfügung steht. […]. Angemessen ist eine Maßnahme, wenn diese den Adressaten bei einer Gesamtabwägung der kollidierenden Rechtsgüter nicht übermäßig oder unzumutbar belastet. […].

Auslegung

Vor allem im Öffentlichen Recht ist stellenweise eine an dem klassischen Auslegungskanon orientierte, methodische Herangehensweise gefragt, wie z. B. bei der Frage nach einem materiellen Prüfungsrecht des Bundespräsidenten. Aus diesem Grunde müssen die Methoden der grammatikalischen, systematischen, historischen und teleologischen Auslegung verinnerlicht werden, denn die weitere Argumentation ist sinnvoll hierauf zu beziehen.

Analogien

Gerade im Hinblick auf Examensklausuren im Bereich des Öffentlichen Rechts können unbekannte Fallkonstellationen und -gestaltungen auftreten, die sich zum Teil nur mit dem Ziehen von vergleichbaren Wertungen oder mit dem Herstellen von Analogien zu regelmäßig bekannten Grundsätzen lösen lassen. Fundierte Ideen können hier Goldwert sein und den Korrektor veranlassen, ins “oberste Bewertungsregal“ zu greifen, da in solchen Fällen auch vieles vertretbar ist. Dennoch schadet es nicht, die Rechtsprechung sogar zu eher exotisch anmutenden Entscheidungen zumindest in groben Zügen zu kennen.

Schwerpunktsetzung

Insbesondere bei Klausuren im Öffentlichen Recht werden Examenskandidaten mit verschiedenen Begehren und Argumenten der beteiligten Personen sowie staatlichen Stellen konfrontiert, welche streng auseinanderzuhalten sind und vollständig im Gutachten wiederzufinden sein sollten. In der Regel lässt sich schon durch eine intensive Lektüre des Sachverhalts und aufgrund des dort ausgeführten Vorbringens der Beteiligten der Schwerpunkt der späteren gutachtlichen Prüfung entnehmen, während irrelevante oder gar irreführende Aussagen eher die Ausnahme bilden. Die dort ausgeführten Rechtsansichten sind zwar nicht eins zu eins zu übernehmen, doch können diese zumindest bei einer Abwägung wertvolle Hilfe leisten. Im Übrigen kommt es auf ein mittels Fallübung antrainiertes Gespür des Bearbeiters an, wo im Einzelnen die jeweiligen Klausurschwerpunkte innerhalb der gutachtlichen Prüfung an entsprechender Stelle zu verorten sind. Schwerpunktsetzung bedeutet damit, unproblematische Punkte kurz aber sachgerecht und vielerorts mit auswendig gelernten Formulierungen abzuhandeln, während die im Sachverhalt aufgeworfenen und noch unklaren Streitfragen ausführlich zu diskutieren sind, dabei allerdings einer eindeutigen Lösung zugeführt werden müssen. Sofern der Sachverhalt vermeintlich wichtige Informationen schuldig geblieben ist, verbietet sich aber eine Sachverhaltsüberdehnung bzw. Sachverhaltsquetschung. Gleichsam sollten bekannte Probleme nicht in die Lösung hineininterpretiert werden, nur um den Korrektor zu zeigen, dass man eben dieses Problem besonders gut beherrscht, obwohl es mit einer sachgerechten Lösung in diesem Falle nichts gemein hat. Keinesfalls schadet es, dem Korrektor eine Gewichtung zu verdeutlichen, etwa indem der Bearbeiter auf ein eher zu vernachlässigendes Problem und dessen geringe Relevanz hinweist, dieses aber ohne aufwendige Diskussion kurz und knapp löst. Diese Methodik findet der Korrektor gerade auch an manchen Stellen innerhalb der Musterlösung zu nicht zielführenden Meinungsstreitigkeiten, die lediglich akademischer Natur sind, vor. Hinsichtlich einer ausgewogenen Schwerpunktsetzung kann zuletzt recht sicher davon ausgegangen werden, dass die meisten Argumentationen auf der Rechtsfolgenseite an Stelle der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu führen sind.

Verfassungsrecht

Mit Blick auf die rechtsgebietsspezifischen Problemfelder lässt sich zunächst zum Verfassungsrecht beschreiben, dass verfassungsrechtliche Prinzipien im Grunde zu jeder Problemstellung im Staats- und Verfassungsrecht eine Rolle spielen dürften. Wer etwa die wesentlichen Inhalte zu den demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht genau kennt, dem fehlen häufig auch wertvolle Argumentationslinien, insbesondere zur Begründetheit eines Antrages. Oftmals geht aus der Erörterung etwa bei einer Verfassungsbeschwerde nicht genau hervor, was im Rahmen des Prüfungsumfanges des BVerfG, welcher im Übrigen nur bei einer Urteilsverfassungsbeschwerde anzusprechen ist, unter der Verletzung spezifischen Verfassungsrechtes zu verstehen sein kann. Insofern gelingt auch die Subsumtion nicht zufriedenstellend. Zu prüfen sind im Rahmen der Begründetheit unbedingt nur die Grundrechte sowie die grundrechtsgleichen Rechte, die den Beschwerdeführer möglicherweise selbst, gegenwärtig und unmittelbar betreffen könnten. Auf die Konnektivität der Beschwerdebefugnis sowie der Grundrechtsprüfung innerhalb der Begründetheit ist stets zu achten. Ebenso ist dies für die Benennung des Beschwerdegegenstandes im Fall einer Urteilsverfassungsbeschwerde zu verzeichnen, denn hier ist vielen Klausurbearbeitern oftmals unklar, dass es sich bei mehreren Exekutiv- und Judikativakten um einen einheitlichen Beschwerdegegenstand handelt, welche jedoch einzeln zu prüfen und an der Stelle des Eingriffs wieder zu thematisieren sind. Mit Blick auf den letzten Punkt ist hervorzuheben, dass die Subsumtion unter den klassischen Eingriffsbegriff leider nur selten gelingt, obwohl dieser immer wieder angeführt wird. Schwierigkeiten bereitet vielen Bearbeitern auch die Maßgabe, dass kollidierendes Verfassungsrecht im Rahmen schrankenlos gewährleisteter Grundrechte dennoch von einer einfach-gesetzlichen Regelung konkretisiert werden muss. Grundrechtskonkurrenzen werden leider nur von wenigen Klausurbearbeitern beherrscht, sodass man sich als Bearbeiter hier ganz besonders von seinen Mitstreitern absetzen kann. Beispielhaft sei hier nur das Verhältnis von Art. 5 GG zu Art. 8 GG angeführt. Ein Grundrecht mit einem spezielleren Schutzbereich verdrängt das Grundrecht, welches einen allgemeinen Schutzbereich bietet. Sofern ein Eingriff in den Schutzbereich eines speziellen Grundrechtes vorliegt, wird dadurch eine Sperrwirkung gegenüber Art. 2 Abs. 1 GG entfaltet. Innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung vernachlässigen viele Bearbeiter oftmals, dass strikt zwischen der Normauslegungs- und der Normanwendungsebene zu unterscheiden ist. Auch die Begriffe „Wechselwirkungslehre“ und „praktische Konkordanz“ sind in diesem Zusammenhang nur selten bekannt. Dass die relevante Maßnahme einen legitimen Zweck verfolgen muss, wird insbesondere von Anfängern nur allzu oft vergessen. In Anbetracht der Häufigkeit, mit der die Verhältnismäßigkeitsprüfung zu leisten ist, ist es daher kaum verständlich, wenn diese nicht sicher beherrscht wird.

Europarecht

Zum Europarecht sollten wenigstens die Grundzüge dessen, wie beispielsweise die Wirkweise einer Richtlinie, die Voraussetzungen der gängigsten Klagearten und Grundfreiheiten sowie die Lissabon-Rechtsprechung, beherrscht werden. Es schadet auch nicht, einen Überblick über die jeweilige Struktur und die Inhalte des EU-Vertrages sowie der EU-Grundrechtecharta zu kennen. Besonders relevant wird das Europarecht allerdings deshalb, weil Einwirkung in andere Rechtsgebiete gerne geprüft werden, was sich exemplarisch bei den europarechtlichen Anforderungen hinsichtlich der Rücknahme eines Bewilligungsbescheides zeigt, sodass das Europarecht selten isoliert zu betrachten ist, sondern auch in andere Rechtsgebiete, wie hier im Falle des allgemeinen Verwaltungsrechtes, einzuwirken vermag.

Staatshaftungsrecht

Das Staatshaftungsrecht ist ebenfalls zumindest in den Grundzügen zu beherrschen, was die Voraussetzungen des Amtshaftungsanspruchs, des enteignenden und enteignungsgleichen Eingriffs, des Folgen-/Vollzugsbeseitigungsanspruchs, der öffentlich-rechtlichen Geschäftsführung ohne Auftrag sowie der öffentlich-rechtlichen culpa in contrahendo einschließt, denn im Examen sind Fallkonstellationen zu eben diesen Ansprüchen nicht gänzlich unüblich, doch lassen sich gerade diese keinesfalls nur allein mit dem Gesetz lösen. Im Hinblick auf die Rechtsfolgen dieser Ansprüche muss zu den einzelnen Anspruchsgrundlagen unbedingt zwischen Schadensersatz und Entschädigung unterschieden werden.

Allgemeines Verwaltungsrecht

Das Gebiet des allgemeinen Verwaltungsrechts ist geprägt von Prinzipien, die in die übrigen verwaltungsrechtlichen Rechtsgebiete hineinspielen, angefangen mit der Lehre vom Verwaltungsakt. Wissenslücken in diesem Bereich wirken sich fatal auf die Bewertung aus und kommen der Missachtung des Abstraktionsprinzips im Zivilrecht gleich. Ein souveräner Umgang mit den Themen zu der VA-Qualität einer Maßnahme, den Nebenbestimmungen, der actus-contrarius-Theorie, der Bekanntgabe oder der Rücknahme bzw. dem Widerruf eines VAs sind unablässig für das Gelingen einer Klausur im Verwaltungsrecht. Zu empfehlen ist eine wiederholte Gesetzeslektüre, um wenigstens eine gesicherte Normkenntnis vorweisen zu können, denn aus der systematischen Anwendung des Gesetzes heraus, lässt sich schon einiges für die Fallbearbeitung gewinnen. Dies zeigt sich etwa auch bei der immer wieder in Klausuren anzutreffenden Fristberechnung, die mittlerweile scheinbar kaum noch von Klausurbearbeitern im Ersten Staatsexamen beherrscht wird, was den Korrektor schockiert und mit völligem Unverständnis bei der Korrektur zurücklässt, obwohl dies eigentlich “im Schlaf“ beherrscht werden sollte.

Besonderes Verwaltungsrecht

Unsicherheiten und erhebliche Wissenslücken zeigen sich insbesondere im Kommunalrecht, da dieses Teilrechtsgebiet relativ selten in Klausuren abgeprüft wird. “Auf Lücke“-Lernen ist riskant und lässt sich in der Klausur gegebenenfalls nur mit einer aufmerksamen Studie der kommunalrechtlichen Regelungen überwinden, die bestenfalls nicht erst in der Klausur zum ersten Mal in Augenschein genommen werden sollten. Oftmals bieten sich vertiefte Kenntnisse gerade im Kommunalrecht an, Analogien zu ziehen, um unbekannte Fallkonstellationen zu exotischen Rechtsgebieten einer sachgerechten Lösung zuzuführen. Jedoch darf man Vergleiche nicht übereifrig bemühen. Beispielsweise ist die Abwägungsfehlerlehre im Bauplanungsrecht nicht mit der allgemeinen Ermessensfehlerlehre zu verwechseln, auch wenn sich hier gewisse Ähnlichkeiten zeigen. Überhaupt ist im Bereich des Baurechtes stets sauber zu differenzieren, vor allem zwischen dem Bauordnungs- und Bauplanungsrecht. Immer wieder zeigen sich auch Schwächen im Bereich der Vollstreckungsvoraussetzungen, obwohl die im Prinzip völlig schematischen Voraussetzungen des Normal- und des Sofortvollzuges sicher auswendig beherrscht werden sollten. Probleme im Zusammenhang etwa mit der Rechtmäßigkeit eines Kostenbescheides sind die mangelnde vollständige Normzitierung im Obersatz sowie Unsicherheiten hinsichtlich des verschachtelten Prüfungsaufbaus. Die Thematik rund um den Kostenbescheid bietet sich auch an, um darauf hinzuweisen, dass den Ermächtigungsgrundlagen im Gefahrenabwehrrecht eine kaum zu unterschätzende Bedeutung zukommt. Die jeweils korrekte Rechtsgrundlage für eingreifende gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen muss hinreichend dargelegt werden, was eine gesicherte Kenntnis von der Materie voraussetzt. Ebenso muss die Abgrenzung von Ersatzvornahme und unmittelbarer Ausführung ausführlich bekannt sein, da Fallkonstellationen zu dieser Thematik nicht selten sind. Die Polizeifestigkeit der Versammlung wird leider häufig missachtet. Aus dem abschließenden Charakter des Versammlungsrechts als speziellem Gefahrenabwehrrecht folgt im Umkehrschluss, dass versammlungsbezogene Eingriffe allein auf der Grundlage des Versammlungsgesetzes und nicht auf der Grundlage des Polizeirechts zulässig sind. Der spezielle Schutz öffentlicher Versammlungen findet dabei seine Rechtfertigung in der grundlegenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit für ein freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen, weshalb entsprechende Freiheitsausübungen einem privilegierenden Sonderrecht unterstellt werden.

Zur Fortsetzung, siehe den Artikel vom 01.03.2024.

23.02.2024/1 Kommentar/von Dr. Marius Schäfer
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Marius Schäfer https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Marius Schäfer2024-02-23 15:39:472024-03-01 12:31:44Das juristische Staatsexamen im Öffentlichen Recht aus der Perspektive des Prüfers – Teil 3/4
Dr. Marius Schäfer

Das juristische Staatsexamen im Öffentlichen Recht aus der Perspektive des Prüfers – Teil 2/4

Examensvorbereitung, Fallbearbeitung und Methodik, Für die ersten Semester, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Referendariat, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes

Der Verfasser ist u. a. seit 2013 als Korrektor für den Klausurenkurs bzw. für das schriftliche/gecoachte Probeexamen im Fachbereich Rechtswissenschaften an der Universität Bonn sowie seit 2021 als nebenamtliches Prüfungsmitglied für das Erste und Zweite Juristische Staatsexamen bei dem Landesprüfungsamt für Juristen Rheinland-Pfalz tätig.

Fortsetzung des Artikels vom 09.02.2024.

Hinweise zur Prüfung der Zulässigkeit und zu prozessualen Besonderheiten

Im weiteren Verlauf sollen die Grundlagen zur Anfertigung einer Klausur im Öffentlichen Recht im Zusammenhang mit dem im Grunde stets zu prüfenden Abschnitt der Zulässigkeit eines wie auch immer gearteten Antrages skizziert werden.

Aufbauschemata

Vielleicht noch mehr als in jedem anderen Rechtsgebiet zählt im Öffentlichen Recht das sichere Beherrschen aller gängigen Schemata zu sämtlichen Antrags- und Klagearten, aber auch zur Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Grundrechtseingriffes oder VAs, zum Normal- und Sofortvollzug, zum Eingriff in eine Grundfreiheit usw., denn hierauf darf in der Klausursituation keine Zeit zum Überlegen verschwendet werden. Überdies frustriert den Korrektor nichts mehr, als dass bereits diese absoluten Basics bei den Bearbeitern nicht sitzen.

Begrifflichkeiten

Zu den unabdingbaren Grundlagen gehört auch eine korrekte Bezeichnung der einschlägigen Begrifflichkeiten. So heißt es etwa „Verwaltungsrechtsweg“ und nicht „Verwaltungsgerichtsweg“, im Eilverfahren „Antragsbefugnis“ sowie „Antragsgegner“ und nicht „Klagebefugnis“ sowie „Klagegegner“. Überdies sind verfassungsgerichtliche Anträge keine Klagen, was stellenweise leider nicht nur juristischen Laien gänzlich unbekannt ist. Soweit dies sachgerecht ist, sollte gerade für sämtliche Anträge verfassungsprozessualer Klausuren eine einheitliche Begrifflichkeit gefunden werden, um ein einheitliches Schema leichter verinnerlichen zu können.

Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs

Nach den sauber formulierten Obersätzen zum Erfolg des Antrags sowie zur Zulässigkeit ist der “Türöffner“ einer jeden verwaltungsgerichtlichen Klausur der Prüfungspunkt zur Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs. Oft trügt hier der erste Eindruck, den der Korrektor bereits beim Lesen dieser ersten Zeilen erhält, nicht. Eine souverän wirkende Standard-Formulierung könnte exemplarisch lauten:

Zunächst müsste der Verwaltungsrechtsweg eröffnet sein. Mangels aufdrängender Sonderzuweisung ist der Verwaltungsrechtsweg gemäß § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO eröffnet für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art, die nicht durch Gesetz einer anderen Gerichtsbarkeit explizit zugewiesen werden (abdrängende Sonderzuweisung). Eine Streitigkeit ist öffentlich-rechtlicher Natur, wenn […].

Deutlich wird anhand des Beispiels, dass in Bezug auf die Sonderzuweisungen klar zu unterscheiden ist und diese nicht zusammen geprüft werden dürfen, denn die abdrängende Sonderzuweisung ist Voraussetzung bzw. Tatbestandsmerkmal der Regelung von § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO, welche erst dann zu prüfen ist, nachdem man aufgrund des Fehlens einer aufdrängenden Sonderzuweisung überhaupt erst zur Anwendung der Vorschrift gelangt. Bekannt sein sollten zumindest § 126 Abs. 1 und 2 BRRG als aufdrängende und § 23 Abs. 1 S. 1 EGGVG sowie § 98 Abs. 2 S. 2 StPO (analog) als abdrängende Sonderzuweisungen. Wenn es darum geht, die Frage zu beantworten, ob eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nicht-verfassungsrechtlicher Art gegeben ist, sollten üblicherweise die Begriffe „modifizierte Subjekttheorie“ und „doppelte Verfassungsunmittelbarkeit“ Erwähnung finden. Beachtet werden sollte auch immer die präzise Nennung aller in Betracht kommenden streitentscheidenden Normen.

Statthaftigkeit

Im Zusammenhang mit der Statthaftigkeit einer Klage oder eines Antrages ist zuallererst auf das Begehren des Klägers oder Antragstellers Bezug zu nehmen, statt unreflektiert auswendig gelernte Sätze zu formulieren, ohne dabei aber weiter auf den Inhalt dessen einzugehen. Ernüchternd ist es für den Korrektor, wenn er lesen muss, dass sich die Statthaftigkeit nach dem Begehren des Klägers oder Antragstellers richtet, der Bearbeiter Ausführungen hierzu aber gänzlich schuldig bleibt. Formulierungsvorschlag:

Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Begehren des Klägers (§§ 88, 86 Abs. 3 VwGO). K begehrt die Aufhebung des Bescheids vom […]. Statthaft könnte demnach eine Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Var. 1 VwGO sein. Dann müsste es sich bei dem Bescheid vom […] um einen Verwaltungsakt i. S. d. § 35 S. 1 VwVfG handeln, d. h. um eine hoheitliche Maßnahme einer Behörde, auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts zur Regelung eines Einzelfalls. […].

Für Eilverfahren gilt:

Die Statthaftigkeit des Antrages richtet sich nach dem Begehren des Antragstellers (§§ 122 Abs. 1, 88, 86 Abs. 1 VwGO). […].

Sofern eine Entscheidung in der Sache für den Antragsteller besonders zeitkritisch ist, sollte man immer auch an den entsprechenden Eilrechtsschutz denken, den Rückgriff hierauf aber auch nicht überstrapazieren. Dennoch ist und bleibt der Eilrechtsschutz weiterhin ein beliebtes Prüfungsthema, mutmaßlich aufgrund der verschachtelten und damit komplizierteren Prüfung. Bei der Ermittlung der statthaften Klageart kann an die Möglichkeit eines Annexantrages nach § 113 Abs. 1 S. 2 und S. 3 VwGO zu denken sein. Häufig wird bei der Ermittlung der statthaften Klageart leider auch die actus-contrarius-Theorie übersehen.

Klage-/Beschwerdebefugnis

Insbesondere an dieser Stelle zeigt sich ein allgemein festzustellendes Phänomen, Theorien unbedacht und teilweise in falschem Zusammenhang anzuwenden, speziell etwa die Adressatentheorie im Rahmen eines Leistungsbegehrens. Bei der Verwendung der Adressatentheorie ist also Vorsicht geboten, weil diese nur dann zur Anwendung gelangen kann, wenn auch eine belastende Maßnahme, wie z. B. ein VA mit der notwendigen Außenwirkung, vorliegt und sich ein Rückgriff bei Verpflichtungs- und Leistungssituationen ohnehin verbietet, da Art. 2 Abs. 1 GG prinzipiell nur ein Abwehr- und kein Leistungsrecht beinhaltet. Sofern der Sachverhalt durchblicken lässt, dass daneben noch speziellere Grundrechte betroffen sein könnten, sind diese ebenfalls zu nennen. Im Falle der Anfechtungssituation sollte sich demnach nicht bloß auf der Adressatentheorie ausgeruht werden. Dies lässt sich mit dem folgenden Beispiel abbilden:

Die Anfechtungsklage ist gemäß § 42 Abs. 2 VwGO nur zulässig, wenn sich aus dem Vorbringen des K die Möglichkeit ergibt, in eigenen Rechten verletzt zu sein. Als Adressat eines belastenden Verwaltungsaktes könnte K zumindest in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) verletzt sein, wobei die Möglichkeit der Rechtsverletzung genügt. Überdies könnte K möglicherweise auch in seinen Grundrechten aus Art. […] GG betroffen sein, […].

Im Übrigen kann wie folgt formuliert werden:

A ist klagebefugt gemäß / analog § 42 Abs. 2 VwGO, wenn die Möglichkeit besteht, dass er durch […] in seinen subjektiven Recht verletzt wird / dass er einen Anspruch auf die begehrte Leistung hat. Ein Anspruch auf […] könnte sich aus § […] / Art. […] ergeben.

Im Rahmen der Klagebefugnis sollte im Übrigen immer auf die jeweils konkretere Normebene (lex specialis) abgestellt werden. Geht es also beispielsweise um das Recht, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen, sollte § 1 Abs. 1 VersammlG genannt werden und nicht nur Art. 8 GG.

Vorverfahren

Nur dann, wenn der Sachverhalt durch explizite Hinweise oder das Vorbringen der Beteiligten durchblicken lässt, dass es an der ordnungsgemäßen Durchführung eines Vorverfahrens fehlt, ist dieser Prüfungspunkt entsprechend ausführlich zu prüfen. Ansonsten genügt der folgende Verweis:

Der Kläger hat ordnungsgemäß ein Vorverfahren i. S. d. §§ 68 ff. VwGO eingeleitet, indem er gegen den Bescheid vom […] form- und fristgerecht am […] Widerspruch erhoben hat (§ 70 VwGO).

Zwar sollten alle Examenskandidaten aus NRW immer die Regelung zum Absehen vom Vorverfahren gemäß § 110 Abs. 1 JustG NRW im Hinterkopf behalten, doch geht der bloße Verweis auf die Vorschrift im Rahmen der allgemeinen Leistungs- sowie der Feststellungsklage fehl, da hier grundsätzlich kein Vorverfahren vorgesehen ist. Die Rückausnahmen nach § 110 Abs. 2 JustG NRW werden an dieser Stelle ebenfalls gerne übersehen. Grundsätzlich reicht die folgende Formulierung aus:

Der Durchführung eines Vorverfahrens bedarf es nach § 68 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 VwGO i. V. m. § 110 Abs. 1 S. 1 JustG NRW nicht.

Nicht vergessen werden darf schließlich, dass ein Vorverfahren auch bei Untätigkeit der Behörde nach § 75 S. 1 VwGO entbehrlich ist. Wenn bereits ein Widerspruchsbescheid ergangen ist, dann möchte der Korrektor keine weitergehenden Ausführungen zur ordnungsgemäßen Einleitung des Vorverfahrens präsentiert bekommen, es sei denn, die Thematik ist im Sachverhalt ausdrücklich als streitig dargestellt, sodass im Übrigen formuliert werden kann:

Der Widerspruchsbescheid vom […] ist dem K am […] zugestellt worden. Von der ordnungsgemäßen Durchführung eines Vorverfahrens i. S. d. §§ 68 ff. VwGO ist mithin auszugehen.

Klage-/Antragsfrist

Darzustellen ist zunächst der Fristlauf nach § 70 Abs. 1 bzw. § 74 Abs. 1 und 2 VwGO, bevor auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe des VAs (vgl. § 41 VwVfG) bzw. der Zustellung des Widerspruchsbescheides (vgl. § 74 VwGO) abzustellen ist. Über die Anwendung der §§ 187 bis 193 BGB (vgl. hierzu § 57 VwGO) ist sodann der Fristbeginn sowie das Fristende darzustellen. Zuletzt ist gegebenenfalls auf Ausnahmen vom Fristlauf, etwa da eine rechtsfehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung vorliegen könnte und insoweit § 58 VwGO zu beachten ist, oder auf eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (siehe § 60 VwGO) einzugehen. Für die Klausurpraxis lässt sich bestätigen, dass eine (endgültige) Verfristung des eingelegten Rechtsbehelfs nur äußerst selten vorkommt und nur dann hilfsgutachtlich weiter zu prüfen ist. Eine beispielhafte kurze Formulierung für den Fall, dass im Sachverhalt für die Fristberechnung relevante Datumsangaben fehlen, stellt sich im Übrigen wie folgt dar:

Die Klage wurde auch innerhalb der Klagefrist gemäß § 74 Abs. 1 VwGO erhoben.

Doch immer dann, wenn der Sachverhalt genaue Datumsangaben im Zusammenhang etwa mit der Bekanntgabe von Bescheiden, der Zustellung eines Widerspruchsbescheides oder aber der Antrags- bzw. Klageerhebung enthält, erwartet der Prüfer eine Darstellung der Fristenthematik. Eine kurze Formulierung in unproblematischen Fällen stellt sich wie folgt dar:

Die Klage müsste auch innerhalb der Klagefrist gemäß § 74 Abs. 1 VwGO erhoben worden sein. Der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom […] wurde dem Kläger mittels Übergabeeinschreiben gemäß § 73 Abs. 3 Satz 2 VwGO i. V. m. § 4 Abs. 1 Alt. 1 und Abs. 2 S. 2 VwZG am […] zugestellt. Die einmonatige Klagefrist gemäß § 74 Abs. 1 VwGO beginnt mithin i. S. v. § 57 Abs. 2 VwGO i. V. m §§ 222 Abs. 2 ZPO, 187 Abs. 1 BGB am […] und endet i. S. v. § 57 Abs. 2 VwGO i. V. m §§ 222 Abs. 2 ZPO, 188 Abs. 2 BGB am […]. Somit ist die Klageerhebung vom […] innerhalb der Frist erfolgt.

Sofern ein Antrag oder eine Klage schon gar keiner Frist unterliegen, sollte dies klarstellend z. B. wie folgt erwähnt werden:

Die allgemeine Feststellungsklage ist nicht fristgebunden.

Ordnungsgemäße Klage-/Antragserhebung

Solange der Sachverhalt keine eindeutigen Informationen dahingehend hergibt, dass es an einer ordnungsgemäßen Klageerhebung mangelt, ist zumeist von dem Vorliegen der erforderlichen Form auszugehen und kurz wie nachfolgend festzustellen:

Laut Sachverhalt erfüllt die Klagschrift die formellen Anforderungen nach den §§ 81 f. VwGO.

Neuerdings zu beachten und bereits in einigen Examensklausuren geprüft wird die Nutzungspflicht für Rechtsanwälte, Behörden und vertretungsberechtigte Personen nach § 55d VwGO zur Übermittlung von vorbereitenden Schriftsätzen und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichenden Anträgen und Erklärungen an das Gericht in elektronischer Form. In diesem Zusammenhang lassen sich zahlreiche Klausurprobleme einbauen. Insbesondere wird hier sicherlich gerne geprüft werden, ob die binnen der Klagefrist vom Rechtsanwalt zunächst schriftlich und erst nach Ablauf der Klagefrist per beA (besonderes elektronisches Anwaltspostfach, über welches nach § 55d VwGO nunmehr zu übermitteln ist) eingereichte Klageschrift fristgemäß in der erforderlichen Form nach § 55a VwGO bei Gericht eingegangen ist. Ferner kann sich etwa die Frage stellen, wie damit umzugehen ist, dass die elektronische Übermittlung per beA vorübergehend aus technischen Gründen nicht möglich war (§ 55d S. 3 VwGO) und ob eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand i. S. d. § 60 VwGO wegen Versäumung der Klagefrist infolge unverschuldeter fehlerhafter Übermittlung in Betracht kommt. Vor diesem Hintergrund empfiehlt sich im Rahmen der Examensvorbereitung eine genaue Lektüre der §§ 55a ff. VwGO sowie des § 60 VwGO.

Zuständigkeit des Gerichts

Selten problematisch dürfte die Zuständigkeit des Gerichts sein, sodass es mit folgender Formulierung z. B. für eine Anfechtungsklage sein Bewenden haben dürfte:

Das angerufene Verwaltungsgericht […] ist nach § 45 VwGO sachlich und gemäß § 52 Nr. 3 S. 1 VwGO örtlich zuständig.

Klage-/Antragsgegner

Völlig unverständlich ist es, wenn den Klausurbearbeitern bei der Nennung des richtigen Klage- oder Antragsgegners Fehler unterlaufen, da lediglich der Rechtsträger der im Streitfall handelnden Behörde zu identifizieren ist. Wenn etwa bei einer Maßnahme der Polizei der Klagegegner im Sinne von § 78 Nr. 1 VwGO in einer kreisfreien Stadt erkannt wird, so lässt sich ein solch schwerwiegender Fehler kaum mehr wiedergutmachen, da sich im Kopf des Korrektors festgesetzt hat, dass der Bearbeiter nicht einmal die einfachsten Grundlagen beherrscht. Eine exemplarische Formulierung auf kommunaler Ebene lautet:

Nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO ist die Klage im Sinne des Rechtsträgerprinzips gegen die Stadt S, deren Behörde den Verwaltungsakt erlassen hat, zu richten.

Im Widerspruchsverfahren oder bei der allgemeinen Leistungsklage ist auf § 78 VwGO jedoch nicht zurückzugreifen, wohl aber auf das aus § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO abgeleitete allgemeine Rechtsträgerprinzip:

Richtiger Klagegegner ist nach dem in § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO zum Ausdruck kommenden allgemeinen Rechtsträgerprinzip die Stadt S als Trägerin der Kommunalverwaltung.

Beteiligten- und Prozess-/Verfahrensfähigkeit

Ein Fehler im Rahmen des Klage- oder Antragsgegners setzt sich bei der Beteiligtenfähigkeit fort, welche rein logisch erst nach der Nennung des Klage- oder Antragsgegners zu prüfen ist. Ebenso seien hier übliche und bestenfalls auswendig beherrschte Formulierungen empfohlen:

P ist als natürliche Person gemäß § 61 Nr. 1 Var. 1 VwGO beteiligten- und gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO prozessfähig. Die Beteiligtenfähigkeit der Stadt S folgt aus § 61 Nr. 1 Var. 2 VwGO. Für sie handelt gemäß § 62 Abs. 3 VwGO der Oberbürgermeister O (z. B. §§ 63 Abs. 1, 62 Abs. 3, 41 Abs. 3, 40 Abs. 2 GO NRW).

P ist als natürliche Person, das Land XY als juristische Person gemäß § 61 Nr. 1 VwGO beteiligtenfähig. P ist gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO, das Land XY gemäß § 62 Abs. 3 VwGO prozessfähig.

Ein beliebter und ärgerlicher Fehler ist es, trotz zutreffender Anwendung des Rechtsträgerprinzips und Bestimmung des richtigen Klagegegners, im weiteren Verlauf für die Beteiligtenfähigkeit auf § 61 Nr. 3 VwGO abzustellen, denn diese Vorschrift gilt nur für Behörden. Bei dem richtigen Klagegegner, mithin dem Rechtsträger der handelnden Behörde, handelt es sich aber gerade nicht um eine Behörde, sondern in aller Regel um eine Gebietskörperschaft, also eine juristische Person des öffentlichen Rechts im Sinne des § 61 Nr. 1 Alt. 2 VwGO.

Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis

Im Kontext der verwaltungsgerichtlichen Klagen kommt es eher selten vor, dass über die im Folgenden dargestellte Formulierung hinaus, weitergehende Ausführungen erforderlich sind:

K wäre nicht rechtschutzbedürftig, wenn er sein Ziel entweder in einem anderen gerichtlichen Verfahren oder ohne Anrufung des Gerichts in gleichwertiger Weise einfacher, umfassender oder schneller erreichen kann oder bereits erreicht hat. Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Mithin ist das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis gegeben.

Die wenigen Fallgruppen, bei denen ausnahmsweise näher erläuternd auf das Vorliegen des allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses einzugehen ist, sollten mehr als nur im Ansatz beherrscht werden. Insbesondere unter dem Stichwort „Fortsetzungsfeststellungsinteresse“ wird eine dezidierte Subsumtion des Sachverhalts unter die vier bekannten Fallgruppen erwartet. Ebenso wird dies stets im Falle des Eilrechtsschutzes relevant, wie dies die folgende Passage exemplarisch verdeutlicht:

Das Rechtsschutzbedürfnis fehlt insbesondere, wenn das Rechtsschutzziel mit den Anträgen nicht erreicht werden kann oder wenn Rechtsschutz zur Wahrung der geltend gemachten Rechte nicht erforderlich ist, weil Schutz auf andere Weise leichter und schneller erreicht werden kann. Dem Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses können die offensichtliche Unzulässigkeit des Rechtsbehelfs in der Hauptsache, die Möglichkeit eines Antrags bei der Behörde auf Aussetzung der Vollziehung und die Möglichkeit zivilgerichtlichen Rechtsschutzes entgegenstehen. […].

Prozessuale Besonderheiten

Oftmals fehlt in diesem Zusammenhang eine auch gedanklich klare Trennung von Haupt- und Hilfsantrag. Unsicherheiten bestehen ferner im Hinblick auf die Voraussetzungen der objektiven Klagehäufung nach § 44 VwGO. Eine beispielhafte Kurzformulierung lautet:

K kann seine Klagebegehren in einer Klage zusammenfassen, da die Voraussetzungen des § 44 VwGO erfüllt sind. Beide Klagen richten sich gegen denselben Beklagten, nämlich […], und stehen in einem sachlichen Zusammenhang. Darüber hinaus ist für beide Klagebegehren dasselbe Gericht zuständig (§§ 45, 52 Nr. 3 VwGO).

In erster Linie sind den Examenskandidaten des Ersten Staatsexamens viele prozessuale Grundlagen nicht bekannt, sodass mit den Kategorien der Streitgenossenschaft oder der Klagehäufung wild umhergeworfen wird, ohne aber sicher zu wissen, was dies prozessual bedeutet. Um solche Peinlichkeiten zu vermeiden, ist es ratsam, die relevanten Normen hierzu vor und nicht während der schriftlichen Prüfung zum ersten Mal zu studieren.

Verfassungsprozessuale Anträge

Die Begrifflichkeiten der einzelnen Sachentscheidungsvoraussetzungen werden hier oft nicht konsequent und dem jeweiligen Antrag entsprechend verwendet, etwa wenn im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle von einer Antrags- bzw. Beschwerdebefugnis die Sprache ist, obwohl hier nur der Antragsgrund Relevanz erhält. Bei einer Verfassungsbeschwerde ist innerhalb des Prüfungspunktes der Rechtswegerschöpfung darauf zu achten, dass gegen Gesetze des Bundes kein Rechtsweg existiert und § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG bei Rechtssatzverfassungsbeschwerden keine Anwendung finden kann. Falsch ist es jedoch, wenn man in diesem Zusammenhang die Formulierung liest: „Mithin ist der Rechtsweg erschöpft.“, denn ein Rechtsweg steht in dem Fall ohnehin nicht offen. Die Zulässigkeit des Organstreitverfahrens ergibt sich nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i .V. m. den §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG. Zu beachten ist dabei insbesondere, dass § 63 BVerfGG den Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG nicht wirksam einschränken kann, sodass sich die Parteifähigkeit der insoweit nicht erfassten Organe und Organteile direkt aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG ergibt. Der Meinungsstreit hierzu ist aber wenigstens zu skizzieren.

Zur Fortsetzung, siehe den Artikel vom 23.02.2024.

17.02.2024/1 Kommentar/von Dr. Marius Schäfer
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Marius Schäfer https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Marius Schäfer2024-02-17 15:57:192024-02-23 15:41:47Das juristische Staatsexamen im Öffentlichen Recht aus der Perspektive des Prüfers – Teil 2/4
Dr. Marius Schäfer

Das juristische Staatsexamen im Öffentlichen Recht aus der Perspektive des Prüfers – Teil 1/4

Examensvorbereitung, Fallbearbeitung und Methodik, Für die ersten Semester, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Referendariat, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes

Der Verfasser ist u. a. seit 2013 als Korrektor für den Klausurenkurs bzw. für das schriftliche/gecoachte Probeexamen im Fachbereich Rechtswissenschaften an der Universität Bonn sowie seit 2021 als nebenamtliches Prüfungsmitglied für das Erste und Zweite Juristische Staatsexamen bei dem Landesprüfungsamt für Juristen Rheinland-Pfalz tätig.

Die juristischen Staatsexamina bleiben, ungeachtet der zahlreichen Stimmen für einen als dringend empfundenen Reformbedarf, eine jeweils nach wie vor nicht leicht zu nehmende Hürde auf dem Weg zur späteren beruflichen Karriere. In Inhalt und Aufbau unterscheiden sich die Prüfungen, welche aus mehreren Klausuren zu den unterschiedlichen Rechtsgebieten sowie einer mündlichen Prüfung bestehen, nur in unwesentlichen Nuancen im Vergleich zu denen von vor zehn Jahren. Eine der bedeutsamsten Änderungen dürfte hier sicherlich die bald flächendeckende Einführung des digitalen Examens sein. In Rheinland-Pfalz können die Aufsichtsarbeiten der zweiten juristischen Staatsprüfung seit Oktober 2021 und die Aufsichtsarbeiten der staatlichen Pflichtfachprüfung ab der Herbstkampagne 2023 elektronisch angefertigt werden. Aber auch andere Bundesländer wie z. B. Sachsen oder Sachsen-Anhalt sowie ab 2024 auch Nordrhein-Westfalen haben diesen Quantensprung in der juristischen Ausbildung gewagt.

So wenig die Prüfungen im Übrigen in den letzten Jahren einer Veränderung unterzogen wurden, erkennen hingegen die Prüfer der juristischen Staatsexamina nahezu durchweg eine klare Tendenz dahingehend, dass das Niveau der angefertigten Aufsichtsarbeiten fortschreitend schlechter zu werden scheint. In einzelnen Klausurdurchgängen mangelt es teilweise geradezu übereinstimmend bereits an den grundlegenden “Skills“ der notwendigen Klausurtechniken, sodass etwa der Aufbau oder Prüfungsschemata, Begrifflichkeiten oder Fristberechnungen, etc. nicht beherrscht werden und sich der Prüfer hin und wieder unweigerlich bei der Frage ertappt fühlt, was der einzelne Bearbeiter in den vielen Jahren des Studierens überhaupt erlernt haben will.

Welche Hintergründe dies neben der freilich unangenehmen Corona-Zeit haben mag, sei an dieser Stelle dahingestellt. Eine Prüfung im öffentlichen Recht erfolgreich zu bestehen, ist jedoch kein “Hexenwerk“, wenn man die Lösung zu den hier zu bearbeitenden Fällen im schriftlichen und mündlichen Examen als Puzzle betrachtet. Das Wissen um die Struktur der Prüfung ist das A und O, welches als Schablone gewissermaßen über jeden Fall gelegt werden sollte, indem der Prüfling nicht nur über einen Gesamtüberblick verfügt, sondern auch die relevanten Schemata sowie Definitionen als jederzeit verfügbares Wissen bereithält. Wenn aber vor lauter Detailkenntnissen der Überblick verloren geht, wird sich dies in aller Regel negativ auf die Bewertung auswirken. Hier gilt: Lieber einen Meinungsstand weniger kennen, dafür aber eine sauber strukturierte Klausur mit prägnanten Obersätzen und einer argumentativ fundierten Subsumtion erstellen. Dies wird den Korrektor sicherlich mehr erfreuen, als die Wiedergabe auswendig erlernter Theorien und Meinungsstände aus Literatur und Rechtsprechung. Die weiter erforderlichen Puzzleteile erhält der Examenskandidat teils explizit als Argumentationsbasis für eine ordentliche Subsumtion in Form von Tatbestandsmerkmalen und Rechtsfolgen durch die relevanten Gesetze und Vorschriften sowie durch die sich aus dem Sachverhält ergebenden Informationen und Vorträge der Beteiligten. Wie das “Zusammenpuzzeln“ bestmöglich gelingen kann, soll in den folgenden Abschnitten ausnahmsweise einmal anhand der Perspektive eines Prüfers geschildert werden, indem der Blick insbesondere auf solche typischen Examensfehler gerichtet wird, die mit der richtigen Vorbereitung in jedem Fall vermeidbar sind.

Perspektive des Prüfers und Bewertungsmaßstab

Um eine Klausur erfolgreich zu absolvieren, lohnt es sich bereits deswegen, zuallererst die Perspektive des Prüfers einzunehmen, da dieser letztlich allein über das „Wohl und Wehe“ der Prüfung zu urteilen hat und hierfür einen meist individuellen, aber doch in der Regel gewöhnlichen Bewertungsmaßstab anwenden dürfte. Zu beachten ist hier, dass dem Korrektor ein Beurteilungs- bzw. Bewertungsspielraum zusteht, welcher nach neuester Rechtsprechung des BVerwG (Beschluss vom 14.12.2023 – 6 B 12.23) sogar so weit gefasst ist, dass bei einer Neubewertung einer Prüfungsleistung eine anderweitige Benotung trotz gleichbleibender Bewertungskriterien als zulässig erachtet wird. Dieser Spielraum ist hinsichtlich solcher Fragen zur Gründlichkeit und Überzeugungskraft der Argumentation weiter gefasst, mit der Folge, dass die Prüfungsbewertung nur dahingehend überprüfbar ist, ob die Wertung so aus dem Rahmen fällt, dass diese Fachkundigen unhaltbar erscheinen muss. Schon allein deshalb sollte die Klausur so aufgebaut und formuliert werden, dass der Korrektor “abgeholt“ und durch die Klausur bis zum Ende “mitgenommen“ wird. Im Einzelnen:

Bewertungsmaßstäbe

Bevor ein Korrektor mit seiner Korrekturtätigkeit beginnt, ist ein intensives Studium der zusammen mit den Klausurbearbeitungen übersendeten Musterlösung obligatorisch, welche so umfassend gestaltet ist, dass man diese selbst in fünf Stunden nicht einmal abschreiben könnte. Deshalb enthält die Musterlösung an einigen Stellen den Hinweis, dass eine derart vertiefte Erörterungsdichte, wie dort zuweilen dargestellt, nicht von den Bearbeitern erwartet werden könne. Daneben zeigt die Musterlösung alternative Lösungswege auf, die bei entsprechender Begründung gleichfalls als vertretbar zu bewerten sind. Dabei ist zu beachten, dass je weiter sich der beschrittene Lösungsweg von dem im Muster dargestellten Ansatz entfernt, die Begründung umso ausführlicher und stichhaltiger zu sein hat, denn ansonsten besteht die Gefahr, dass der Prüfer den vom Klausurbearbeiter beschrittenen Weg im Rahmen seines Beurteilungsspielraums umso bereitwilliger als nicht überzeugend erachtet. Vorangestellt ist der Musterlösung stets eine Auflistung der zu bearbeitenden Problemschwerpunkte, die sich aus dem Sachverhalt ergeben und im Rahmen der Klausurbearbeitung zu meistern sind. Den Fokus auf diese Problemschwerpunkte zu legen, ist letztlich ein ausschlaggebendes Kriterium zum erfolgreichen Bestehen einer Klausur.

Bewertungskriterien

Generelle trennscharfe Bewertungskriterien existieren leider nicht, womit es jedem Prüfer selbst überlassen bleibt, diese auf einer sachlichen Grundlage zu entwickeln. Dennoch gibt es allgemein übliche Standards, welche sich durch die geübte Bewertungspraxis durchgesetzt haben. Grundsätzlich entscheidend für die Bewertung einer Klausur ist, dass der Prüfling bei der Fallbearbeitung ein systematisches Verständnis der Rechtsordnung sowie die Fähigkeit zu methodischem Arbeiten zeigt oder dies immerhin deutlich erkennen lässt. Das bedeutet konkret, dass die Bearbeitung die maßgeblichen Problemschwerpunkte wenigstens ansatzweise erörtern und lösen sollte, damit die Klausur als „bestanden“ bewertet werden kann. Ein Vollbefriedigend lässt sich dann erreichen, wenn alle hauptsächlichen Problemschwerpunkte erkannt und – unter Beachtung des Gutachtenstils sowie einer angemessenen Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt samt überzeugender rechtlicher Argumentation – vollständig gelöst werden. Schließlich müssen für eine noch höhere Bewertung in der Regel alle Problemschwerpunkte sowie sämtliche kleineren Probleme entsprechend erörtert und einer sachgerechten Lösung zugeführt werden. Dieser Maßstab gilt, solange Lücken nicht durch anderweitig positive Ausführungen ausgeglichen werden können bzw. grobe Fehler oder sonstige Unzulänglichkeiten eine negativere Bewertung erforderlich machen.

Bewertungsmatrix

Anhand der Musterlösung sowie dieser Bewertungskriterien entwickeln viele Prüfer eine Lösungsskizze mit integrierter Bewertungsmatrix, welche für die einzelnen Prüfungsabschnitte Teilpunkte festlegt. Eine übliche Aufteilung sieht für die Prüfung der Zulässigkeit circa 5 und für die der Begründetheit in etwa 13 Punkte vor. Die Verteilung der Teilpunkt hängt im Einzelnen jedoch von der Problemdichte der jeweiligen Abschnitte ab. Dieses Vorgehen entspricht der Empfehlung vieler Prüfungsämter, für die Klausurbewertung sinnvolle und abgrenzbare Teileinheiten zu bilden, welche schließlich zu einer Gesamtnote zusammengefügt werden.

Korrekturverfahren

Die Organisation des Korrekturverfahrens wird zwar von den jeweiligen Landesprüfungsämtern vorgegeben, doch dürfte der Ablauf in den einzelnen Ländern überwiegend recht ähnlich gestaltet sein. Verbunden mit der bereits erwähnten Musterlösung erhält der Korrektor von dem entsprechenden Landesjustizprüfungsamt einen Stapel zu jeweils 15 bis 20 Klausuren sowohl für die Erst- als auch die Zweitkorrektur übersendet. Sofern das Prinzip der verdeckten Zweitkorrektur zum Tragen kommt, sind die Klausurblätter ohne Korrekturanmerkungen versehen, während der Bewertungsbogen des anderen Korrektors, mit dem man ein Tandem bei der Korrektur bildet und der oftmals auch zumindest namentlich bekannt ist, ebenfalls nicht enthalten ist. Diese Vorgehensweise verhilft der einzelnen Korrektur zu mehr Gerechtigkeit, da die Noten-Ausschläge von besonders großzügigen oder strengen Korrektoren über den insoweit in seiner Relevanz gestiegenen Stichentscheid ausgeglichen werden können und sich die Zweitkorrektoren nicht mehr bloß an der Bewertung des Erstkorrektors orientieren, der sowohl nach oben als auch nach unten für viele Zweitprüfer eine schwer zu missachtende Tendenz vorgegeben hat. Angewendet wird der Stichentscheid grundsätzlich ab einer Differenz der Bewertung des Erst- und Zweitkorrektors von vier Punkten. Ausschlaggebend ist im Ergebnis allein die Bewertung des Stichkorrektors, der dabei – soweit bekannt – auf die Begründungen der vorangegangenen Korrekturen einzugehen versucht.

Klausurbearbeitung “für den Prüfer“

Mit dem Wissen um diese Bewertungsumstände sollte der Bearbeiter darum bemüht sein, die Klausur zumindest ein Stück weit auch derart für den Prüfer zu schreiben, damit diesem die Bewertung einfach gestaltet und er mit Blick auf die Punktevergabe letztlich wohlgesonnen gestimmt wird. Präsentiert werden sollte dem Korrektor ein anschauliches und übersichtliches Gutachten, das einen verständlichen Lösungsweg aufzeigt und genügend Erörterungen zu Problemstellungen mit den dazugehörigen Schlagworten bietet, welche der Prüfer ohne Weiteres mit einem Haken versehen kann, statt angestrengt darüber nachdenken zu müssen, was mit dieser oder jener Formulierung wohl gemeint sein könnte. Zwar steht sowohl den Prüflingen ein Antwort- als auch den Prüfern ein Bewertungsspielraum zu, doch sollten diese auf beiden Seiten nicht allzu oft ausgereizt werden, um es insgesamt nicht an einer stimmigen Klausur zweifeln zu lassen. Unbedingt sollte es vom Examenskandidaten bewerkstelligt werden, möglichst viele Problemschwerpunkte zu erkennen, diese an den dafür passenden Stellen zu erörtern und schließlich eine fundierte Lösung aufzubereiten, um viele Teilpunkte zu erlangen.

Allgemeine Bemerkungen zur Klausurbearbeitung und -darstellung

Den ersten Eindruck von der Leistung des Examenskandidaten erhält der Prüfer unweigerlich bei der Ansicht der gutachtlichen Bearbeitung an sich, welcher mehr Bedeutung zu kommt, als es so manchem Kandidaten bewusst zu sein scheint. Die Grundlagen und die optimale Vorgehensweise zur Darstellung der äußeren Form sowie zur generellen inhaltlichen Gestaltung der Klausurbearbeitung bilden die folgenden Punkte:

Grundgerüst

Das Grundgerüst der Klausurbearbeitung bildet eine lesbare Schrift sowie ein übersichtlicher Aufbau, etwa indem Überschriften und Absätze verwendet werden. Auf Einschübe am Seitenrand oder gar zwischen den Zeilen sollte unbedingt verzichtet werden. Stattdessen sind fehlende Passagen auf einem weiteren Blatt niederzuschreiben und im Gutachten mit einem Stern kenntlich zu machen. Die zusätzliche Seite kann dann mit einem Buchstaben (z. B. „S. 1a“) beschriftet werden.

Sprachliche Gestaltung

Inhaltlich lebt das Gutachten von sprachlicher Genauigkeit, einer rechtsgutachtlich angemessenen Ausdrucksweise und selbstverständlich auch einer korrekten Rechtschreibung. Unprofessionell wirkt demgegenüber beispielsweise die Verwendung unsinniger Füllwörter, Floskeln oder umgangssprachlichen Formulierungen, wie z. B. „unzweifelhaft“, „völlig klar“ oder „eindeutig“, welche lediglich dazu dienen, argumentative Schwächen zu kaschieren. Außerdem ermüdet es den Korrektor, Wortwiederholungen lesen zu müssen, wenn beispielsweise auf das Wort „problematisch“ inflationär zurückgegriffen wird und in jedem zweiten Satz auftaucht. Eine Argumentation lässt sich im Übrigen nicht mit einem Verweis auf die herrschende Meinung oder Rechtsprechung “ins Blaue hinein“ ersetzen. Es ist ein Irrglaube, anzunehmen, dass Korrektoren solchen bloßen Behauptungen nicht nachgehen und über abwegige Erfindungen nicht verärgert wären.

Schlagworte und Definitionen

Was hingegen stets gut ankommt, ist die sachgerechte Nennung der relevanten Schlagworte, gegebenenfalls samt den dazugehörigen Definitionen, weil es dem Korrektor so erleichtert wird, sich innerhalb des Gutachtens in argumentativer Hinsicht zurecht zu finden, den roten Faden zu erkennen und Passagen positiv abzuhaken.

Gutachtenstil

Des Weiteren sollte sich der sprachliche Stil im Ersten Staatsexamen in angemessener Weise am Gutachtenstil orientieren. Angemessen bedeutet, dass der Gutachtenstil üblicherweise zu verwenden ist und nur da, wo das Ergebnis offenkundig und ohne weitere Erläuterung erkennbar ist, der Urteilsstil zum Tragen kommen darf. Beispiel:

Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für die Entscheidung über Anträge im Rahmen des abstrakten Normenkontrollverfahrens folgt aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i. V. m. § 13 Nr. 6 BVerfGG.

Statt:

Fraglich ist, ob das Bundesverfassungsgericht für den Antrag des XY zuständig ist. Das Bundesverfassungsgericht müsste für Anträge im Rahmen des abstrakten Normenkontrollverfahrens zuständig sein. Hier ergibt sich die Zuständigkeit gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i. V. m. § 13 Nr. 6 BVerfGG. Im Ergebnis ist das Bundesverfassungsgericht für den Antrag des XY zuständig.

Obersätze und Ergebnisse

Die Struktur des rechtswissenschaftlichen Gutachtens sollte an Obersätzen und (Zwischen)ergebnissen ausgerichtet werden und sich dabei streng an der Fallfrage aber auch dem Bearbeitervermerk orientieren, welche den Weg vorgeben, den die Prüfung vom Anfang bis zum Ende zu gehen hat. Während die Fallfrage den Prüfauftrag festlegt, grenzt der Bearbeitervermerk das Prüfprogramm ein. Sofern z. B. die Erfolgsaussichten einer verwaltungsgerichtlichen Klage zu prüfen sind, müssen sowohl der Obersatz als auch der Satz zum Endergebnis hierauf abgestimmt sein (sog. Echo-Prinzip). Die Prüfung beginnt mit folgendem Satz:

Die Klage hat Erfolg, soweit diese zulässig und begründet ist.

Die Prüfung wird zum Ende dementsprechend beispielsweise wie folgt abgeschlossen:

Die zulässige Klage ist begründet und wird Erfolg haben.

Bearbeitervermerk

Schließt der Bearbeitervermerk einzelne Teilprüfungen aus oder unterstellt bereits das Ergebnis weiterer Prüfungsabschnitte, ist dies im Gutachten kurz und prägnant festzustellen. Beispiel:

Ausweislich des Bearbeitungsvermerks ist die formelle Verfassungsmäßigkeit der Regelung anzunehmen.

Sachverhaltshinweise

Freilich kann auch der Sachverhalt wertvolle Hinweise bieten, um die weitere Prüfung etwa wie folgt zu erleichtern:

Der Antrag ist ausweislich des Sachverhalts form- und fristgerecht gestellt worden.

Gesetz und Zitierung

Nicht weniger Schwierigkeiten bereitet manchen Bearbeitern ein adäquater Umgang mit dem Gesetz, was umso gravierender wiegt, weil es das Ziel des Bearbeiters sein muss, Argumentation und Lösung so nah wie möglich am Gesetz zu entwickeln. Die fehlende Normkenntnis der Prüflinge bemerkt der erfahrene Korrektor an der Art und Weise, wie zwischen Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolge oder zwischen mehreren Alternativen bzw. Varianten differenziert wird. In dieser Hinsicht werden Normen oft nicht präzise zitiert, etwa weil der ausschlaggebende Satz oder die einschlägige Alternative bzw. Variante nicht weiter genannt werden. Nicht zuletzt werden Normen zum Teil fortwährend falsch zitiert. Der “Klassiker“ dürfte an dieser Stelle § 35 Abs. 1 VwVfG sein, der in Wahrheit § 35 S. 1 VwVfG lauten müsste. Häufig wird z. B. geschrieben:

Die Statthaftigkeit der Individualverfassungsbeschwerde richtet sich nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i. V. m. §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG.

Letzteres ist nicht ganz korrekt, denn vielmehr müsste wie folgt zitiert werden:

[…] nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i. V. m. den §§ 13 Nr. 8a, 90, 92 ff. BVerfGG.

Schließlich betrübt es den Korrektor, wenn es an einem Normbezug vollständig fehlt, beispielsweise wenn das Rechtsstaatsprinzip ein ums andere Mal bemüht wird, doch dabei nie erläutert wird, dass sich dieses aus Art. 20 Abs. 3 GG ableiten lässt. Eine weitere Unsitte unter Juristen, die einer leider weit verbreiteten Unwissenheit geschuldet ist, ist der sich widersprechende Rückgriff auf das Wort „gemäß“ im Zusammenhang mit der analogen Anwendung von Normen. Die analoge Anwendung einer Norm bedeutet, dass die Regelung lediglich entsprechend zur Geltung kommt, wohingegen eine direkte Anwendung durch die Formulierung „gemäß“ beschrieben wird, was sich denklogisch jedoch ausschließt, weil eine Norm entweder nur direkt oder aber entsprechend angewendet werden kann.

Zur Fortsetzung, siehe den Artikel vom 17.02.2024.

09.02.2024/3 Kommentare/von Dr. Marius Schäfer
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Marius Schäfer https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Marius Schäfer2024-02-09 12:06:382024-02-18 19:03:42Das juristische Staatsexamen im Öffentlichen Recht aus der Perspektive des Prüfers – Teil 1/4
Alexandra Alumyan

BVerfG: § 362 Nr. 5 StPO ist nichtig

Aktuelles, BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Startseite, StPO, Strafrecht, Uncategorized, Verfassungsrecht

Wohl zähneknirschend unterzeichnete Bundespräsident Steinmeier das „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“, um anschließend seine verfassungsrechtlichen Bedenken zu äußern, die sich nunmehr als berechtigt herausstellten:

„[…] Für den Bundespräsidenten ergibt sich keine abschließende Gewissheit über die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes, die die Versagung der Ausfertigung rechtfertigen würde. Angesichts der erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken rege ich allerdings an, das Gesetz einer erneuten parlamentarischen Prüfung und Beratung zu unterziehen“ (Hier zur Wiederholung des Klassikers „Prüfungsrecht des Bundespräsidenten“)


Der Zweite Senat des BVerfG hat durch Urteil vom 31.10.2023 den erst am 30.12.2021 in Kraft getretenen § 362 Nr. 5 StPO für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Bereits vor Verabschiedung des „Gesetzes zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ zweifelte der Gesetzgeber die Verfassungskonformität des § 362 Nr. 5 StPO aus zwei Gründen an: Ein möglicher Verstoß gegen das Mehrfachverfolgungsverbot („ne bis in idem“), gem. Art. 103 Abs. 3 GG, und gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Rückwirkungsverbot, gem. Art. 20 Abs. 3 GG.

Folgender Beitrag widmet sich zunächst den juristischen Grundlagen des Urteils und fasst sodann die wesentlichen Entscheidungsgründe und Argumente des BVerfG zusammen. Die zitierten Randnummern entsprechen der Nummerierung der elektronischen Urteilsveröffentlichung des BVerfG.

I. Verfassungsbeschwerde eines von Mord und Vergewaltigung Freigesprochenen

Anlass, zu dieser Frage Stellung zu beziehen, bot die Verfassungsbeschwerde eines Betroffenen, der im Jahr 1983 von Mord und Vergewaltigung an einer Schülerin freigesprochen wurde. Im Nachhinein tauchten Beweismittel auf, die einen erneuten Tatverdacht begründeten. Deswegen wurde 2022 ein Haftbefehl gegen den Betroffenen erlassen und es drohte eine Wiederaufnahme des vergangenen Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen: Diese Wiederaufnahme stützte sich auf § 362 Nr. 5 StPO, der einen der fünf Wiederaufnahmegründe des § 362 StPO normiert(e) und erst jüngst durch das „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ vom 21.12.2021, in Kraft getreten am 30.12.2021, eingeführt wurde. Gegen die Maßnahme erhob der Betroffene eine Verfassungsbeschwerde, in welcher er die Verletzung seiner Rechte aus Art. 103 Abs. 3 GG und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG rügte.

II. Crashkurs: „ne bis in idem“, § 362 Nr. 5 StPO und das Rückwirkungsverbot

Bevor wir uns den Entscheidungsgründen des BVerfG widmen, frischen wir schnell unser Wissen zu den drei wichtigsten Themen der Entscheidung auf:

1. Grundsatz „ne bis in idem“

Der Grundsatz „ne bis in idem“, welcher seinen Ursprung im römischen Recht hat (lat. nicht zweimal in derselben Sache), statuiert das Verbot mehrfacher Strafverfolgung bzw. das Verbot mehrfacher Bestrafung wegen derselben Tat. Das in Art. 103 Abs. 3 GG normierte grundrechtsgleiche (Prozess-)Recht dient der Rechtssicherheit des Betroffenen, indem es die Strafverfolgung wegen derselben Tat auf einen einzigen Versuch beschränkt (v. Mangoldt/Klein/Starck/Nolte/Aust, 7. Aufl. 2018, GG Art. 103 Rn. 179). Dabei sind mehrere Konstellationen denkbar: So soll ein bereits Bestrafter nicht erneut wegen derselben Tat verfolgt oder bestraft werden können, ebenso wie ein Betroffener, der rechtskräftig freigesprochen wurde, nicht erneut wegen desselben Verdachts belangt werden kann.  Ein Strafverfahren dürfe nicht unendlich lang sein – das Urteil am Ende eines Strafverfahrens hat Zäsurwirkung. Der Grundsatz „ne bis in idem“ solle die materielle Gerechtigkeit zugunsten der Rechtssicherheit zurückdrängen.

2. Regelungsgehalt des § 362 Nr. 5 StPO

Eine Ausnahme von dem Grundsatz bildet der Katalog des § 362 StPO, welcher verschiedene Gründe zur Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Strafverfahrens zuungunsten des Betroffenen auflistet. Der Wiederaufnahmegrund des § 362 Nr. 5 StPO bezog sich auf Straftaten, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht, unverjährbar und damit besonders schwerwiegend sind. Die Wiederaufnahme wäre dann einzuleiten, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht würden, die im damaligen, abgeschlossenen Verfahren keine Berücksichtigung fanden. Die neuen Indizien sollten ferner eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine Verurteilung (wegen der benannten Delikte) in der neuen Hauptverhandlung mit sich bringen. Ziel der Wiederaufnahme nach Nr. 5 war es, durch Beseitigung des Freispruchs materielle Gerechtigkeit herzustellen und die strafverfahrensrechtliche Entscheidung zu korrigieren.

3. Rückwirkungsverbot

Das Rückwirkungsverbot findet seine gesetzliche Verankerung in Art. 103 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG. Das Verbot dient dem Vertrauensschutz des Bürgers, welcher sich darauf verlassen können soll, dass die Rechtslage, die er seinem Handeln zugrunde gelegt hat, sowie die Rechtsfolgen, die sich aus seinem Handeln ergeben haben, nicht rückwirkend geändert werden.

Allerdings ist zwischen der „echten Rückwirkung“ und der „unechten Rückwirkung“ zu unterscheiden, denn nur erstere unterfällt dem Rückwirkungsverbot, während letztere verfassungsrechtlich unbedenklich und damit auch zulässig ist.

Eine echte Rückwirkung liegt vor, wenn sich das neue Gesetz auf bereits abgeschlossene Sachverhalte belastend auswirkt: Ein in der Vergangenheit liegender Sachverhalt wurde nach der alten Rechtslage in der Weise X behandelt und wird nunmehr rückwirkend durch das neue Gesetz in der Weise Y behandelt und es treten andere, den Betroffenen belastende Rechtsfolgen ein, die bei Fortgeltung der alten Rechtslage nicht eingetreten wären. Aufgrund des erreichten Grades der Abgeschlossenheit des Sachverhalts entsteht ein schutzwürdiges Vertrauen in die abschließende Wirkung der Rechtslage. Ausnahmsweise ist eine echte Rückwirkung zulässig, z.B., wenn aufgrund der Unklarheit und Verworrenheit der Rechtslage erst gar kein Vertrauen entstehen konnte; wenn ein nur unbedeutsamer Eingriff in den abgeschlossenen Sachverhalt entsteht; oder wenn zwingende Gründe des Allgemeinwohls keine andere Entscheidung zulassen können.

Von einer unechten Rückwirkung hingegen spricht man, wenn sich das Gesetz auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte auswirkt, die schon vor Inkrafttreten des Gesetzes in Gang gesetzt worden sind. Zwar sind auch hierbei Fälle denkbar, in denen eine unechte Rückwirkung zu unverhältnismäßigen Ergebnissen führen kann, allerdings ist im Grundsatz zunächst von ihrer Zulässigkeit auszugehen.

Beispiel: Wenn etwa eine Neuerung des JAG veränderte Examensvoraussetzungen für das Jurastudium vorsehen würde, so darf keine „echte“ Rückwirkung dahingehend erzeugt werden, dass denjenigen, die ihr Staatsexamen bereits haben, der Abschluss aberkannt wird, weil sie die neuen Voraussetzungen nicht erfüllen. Diese sind aufgrund der Abgeschlossenheit des Sachverhalts („fertiges Staatsexamen“) schutzwürdig und sollen auf die Verbindlichkeit der alten Rechtslage vertrauen können. Anders sieht es allerdings für diejenigen aus, die zwar das Jurastudium begonnen haben, das Staatsexamen aber noch nicht unmittelbar ansteht: Hierbei handelt es sich um einen bereits begonnenen Sachverhalt („auf dem Weg zum Staatsexamen“), der noch nicht abgeschlossen ist. Die betroffenen Studenten können ihr Verhalten noch anpassen und nach der neuen Rechtslage ausrichten, sodass eine Änderung der Rechtslage keinen unzulässigen Eingriff darstellt, die Rückwirkung ist in diesem Fall eine „unechte“!

III. Entscheidungsgründe des Bundesverfassungsgerichts

1. Verstoß gegen das Mehrfachverfolgungsverbot, Art. 103 Abs. 3 GG

In seiner Entscheidung tenoriert das BVerfG, dass Art. 103 Abs. 3 GG („ne bis in idem“) dem Prinzip der Rechtssicherheit Vorrang vor dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit verleiht und diese grundgesetzliche Entscheidung absolut wirke. Dies bedeute, so das BVerfG, dass Art. 103 Abs. 3 GG einer Abwägung mit anderen Verfassungsgütern nicht zugänglich sei. Das Gericht spricht insofern von einer Abwägungsfestigkeit.

Arg. 1: Systematik

Diese Wertung ergebe sich bereits aus der systematischen Nähe zu Art. 103 Abs. 2 GG, welcher gegenüber dem Gesetzgeber das ausdrückliche und ausnahmslose Verbot, rückwirkende Strafgesetze zu erlassen, statuiert. Das Verbot des Art. 103 Abs. 2 GG wirke absolut, weswegen ein gleichlaufendes Verständnis des Art. 103 Abs. 3 GG als gleichermaßen absolutes Verbot angebracht sei (vgl. Rn. 84).

Arg. 2: Telos der Norm

Art. 103 Abs. 3 GG dient der Rechtssicherheit des Einzelnen in Bezug auf die Endgültigkeit eines strafgerichtlichen Urteils (s.o.). Das dahingehend entwickelte Vertrauen würde ausgehebelt werden, wenn es stets der freien Abwägung zugunsten des Strafanspruchs des Staates zugänglich wäre und damit nicht mehr endgültige, sondern nur noch vorläufige Wirkung hätte. Art. 103 Abs. 3 GG diene zugleich dem Schutz der Freiheit und der Menschenwürde des Betroffenen, welcher im Rahmen eines faktisch unendlichen Prozesses sonst zu einem „bloßen Objekt der Ermittlung der materiellen Wahrheit herabgestuft“ werden würde (Rn. 88). Dabei sei zu beachten, dass gerade das Strafrecht einer der intensivsten Bereiche staatlicher Macht darstelle und der Staat sich mit der Einführung des Art. 103 Abs. 3 GG eine Selbstbeschränkung auferlegt habe, die er einzuhalten hat.

Arg. 3: Rechtsfrieden

Ein weiteres Argument stelle der Rechtsfrieden dar. In der Gesellschaft bestehe das „vom Einzelnen unabhängige Bedürfnis an einer endgültigen Feststellung der Rechtslage“ (Rn. 89) – die moderne Rechtsordnung hat sich zur Befriedigung eben jenes Bedürfnisses gegen die Erreichung des „Ideals absoluter Wahrheit“ (Rn. 89), und vielmehr für die relative Wahrheit entschieden. Eine Erforschung der Wahrheit „um jeden Preis“ beabsichtige das Strafrecht nicht. Im Sinne des Rechtsfriedens seien daher auch unrichtige Entscheidungen in Kauf zu nehmen. Dem Geltungsanspruch eines Urteils entspreche es nicht, stets die Möglichkeit zu eröffnen, den Urteilsspruch anzuzweifeln – ansonsten würde das Vertrauen in die Effektivität der Streitentscheidung durch die Rechtsprechung, mithin der Rechtsfrieden, beeinträchtigt werden (vgl. Rn. 89).

Arg. 4: Belange der Opfer und der Angehörigen

Zu denken ist allerdings auch an die Belange der Opfer der mutmaßlichen Täter und der Angehörigen, deren Interesse an der Verfolgung der Straftat zunächst als hoch erscheinen dürfte. Ihr Anspruch auf effektive Strafverfolgung gegen den Staat folgt aus der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 und S. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG. Durch dieses Leistungsgrundrecht sollen eine Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und ein allgemeines Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt ausgeräumt werden. Allerdings steht dies im Konflikt mit der seelischen Belastung der Opfer bzw. der Hinterbliebenen, welche aufrechterhalten bleibt, wenn ein Strafprozess wegen des „grundsätzlich stets möglichen Auftauchens neuer Tatsachen oder Beweismittel faktisch nie ende“ (Rn. 134). Die Interessen und das Wohlbefinden der Opfer und der Angehörigen können daher, laut BVerfG, nicht zugunsten der Zulässigkeit der Wiederaufnahme i.S.d. Nr. 5 herangezogen werden.

Im Übrigen merkt das BVerfG an, dass der Anspruch auf eine effektive Strafverfolgung nicht den Anspruch auf ein bestimmtes Ergebnis, etwa eine Verurteilung, beinhaltet. Dem Staat obliegt jedenfalls das effektive Tätigwerden. Solange eine Verfolgung erfolgt und der durchgeführten Strafverfolgung oder dem Strafverfahren keine schwerwiegenden Mängel anhaften, so ist dem Staat kein Vorwurf zu machen; auch nicht, wenn das Verfahren mit einem Freispruch endet.

2. Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot, Art. 103 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG

Regelungsgegenstand des § 362 Nr. 5 StPO bildeten sowohl Strafverfahren, die vor Inkrafttreten, wie auch nach Inkrafttreten der Norm ihren Abschluss in Form eines Freispruchs gefunden haben (Rn. 148). Freispruch bedeutet, dass der dem Verfahren zugrundeliegende Tatverdacht sich nicht bestätigen konnte, und er schließt das Strafverfahren mit eben diesem Aussagegehalt ab. Ein Strafverfahren, das durch einen rechtskräftigen Freispruch beendet ist, stellt einen in der Vergangenheit liegenden, abgeschlossenen Sachverhalt dar. Sofern auf Grundlage des § 362 Nr. 5 StPO ein Verfahren, das vor Inkrafttreten der Norm abgeschlossen wurde, wiederaufgenommen würde, entfielen die Rechtswirkungen des Freispruchs und es läge eine echte Rückwirkung vor. Die Wiederaufnahmeregelung des § 362 Nr. 5 StPO verstoße mithin gegen das Rückwirkungsverbot. Eine Ausnahme von der Unzulässigkeit der echten Rückwirkung liegt, laut BVerfG, jedenfalls auch nicht vor.


IV. Sondervotum zur Vereinbarkeit mit dem Grundsatz „ne bis in idem“

Im Sondervotum äußern zwei Richter des BVerfG ihre abweichende Meinung zur Unvereinbarkeit des § 362 Nr. 5 StPO mit dem Grundsatz „ne bis in idem“.

1. Art. 103 Abs. 3 GG einschränkbar

Zunächst sei, laut Sondervotum, Art. 103 Abs. 3 GG abwägungsoffen. Der Grundsatz „ne bis in idem“ sei zwar eine Grundentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit, doch könne er ausnahmsweise unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durchbrochen werden. Dies zeigt etwa das Vorliegen anderer, verfassungskonformer Wiederaufnahmegründe (wie § 362 Nr. 1-4 StPO).

Ferner sei Art. 103 Abs. 3 GG zwar vorbehaltlos, nicht aber schrankenlos gewährleistet und unterliegt damit zumindest den verfassungsimmanenten Schranken: Dass ein Grundrecht oder grundrechtsgleiches Recht gar nicht eingeschränkt werden kann, bliebe eine Ausnahme und erfordere eine unmittelbare Ableitbarkeit aus dem Grundrecht der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG. Eine taugliche verfassungsimmanente Schranke wäre etwa die staatliche Schutzpflicht gegenüber seinen Bürgern aus Art. 2 Abs. 2 S. 2, 3 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG, die sich konkretisieren lässt auf das rügefähige Recht auf wirksame Verfolgung schwerster Straftaten.

2. Vergleich zu anderen Wiederaufnahmegründen

Die Wiederaufnahmegründe der § 362 I Nr. 1-4 StPO zeigen, dass das Vertrauen in den Bestand rechtskräftiger Entscheidungen bei Vorliegen schwerer Verfahrensmängel, bei Verstößen gegen rechtsstaatliche Grundanforderungen im Verfahren oder bei einem glaubwürdigen Geständnis des Freigesprochenen sehr wohl weichen kann. Diesen Wiederaufnahmegründen liegt sinngemäß zugrunde, dass niemand wegen eines nachträglich bekannt gewordenen Defizits die „Früchte einer strafbaren Handlung genießen“ können soll (Rn. 13). Insbesondere durch die Einführung des in Nr. 4 benannten Wiederaufnahmegrundes sollte vermieden werden, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsordnung dadurch erschüttert werden kann, dass sich ein Straftäter im Nachhinein seiner Straftat ohne Konsequenzen berühmen könnte. Nicht weniger problematisch verhalte es sich im Falle der von Nr. 5 erfassten Sachverhalte, dass jemand, der wegen schwersten Verbrechen dringend verdächtigt wird, endgültig straflos bliebe (Rn. 14).

Durch das Beibehalten der Nr. 1-4 stünde nun eine unklare Wertentscheidung im Raum, wie das Sondervotum anhand von zwei Beispielen veranschaulicht (Rn. 15): Ein Freigesprochener, der von einer nicht notwendigerweise durch ihn selbst gefälschten Urkunde profitiert hat, müsste eine erneute Strafverfolgung dulden – ein Freigesprochener hingegen, der wegen Mordes verdächtigt und erst Jahre später durch ein molekulargenetisches Gutachten überführt wird, bliebe straflos. Oder: Ein Täter gesteht ein Kriegsverbrechen und kann nach einem Freispruch erneut angeklagt werden, nicht aber sein ebenfalls freigesprochener Komplize, der sich von einem Geständnis fernhält und damit vor einer erneuten Strafverfolgung geschützt bleibt.

3. Unverjährbarkeit

Der Gesetzgeber habe für einige Straftaten durch die Regelung ihrer Unverjährbarkeit eine Entscheidung zugunsten der lückenlosen Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs getroffen, weswegen sich, laut Sondervotum, die Frage aufdränge, weshalb sich diese Wertentscheidung nicht auch durch Beibehalten der Nr. 5 widerspiegeln kann. Das Anliegen des Strafrechts, eine schuldangemessene Bestrafung schweren Unrechts zu verfolgen, verschärfe sich, je schwerer das Verbrechen und je erdrückender die neuen Tatsachen und Beweismittel sind.

4. Völkerrecht

Ferner sei eine Einschränkung des Mehrfachverfolgungsverbots auch aus dem Völkerrecht bekannt, wie Art. 4 Abs. 2 7. ZP-EMRK und die ausnahmsweise auch belastende Auslegung des Art. 14 VII IPbpR zeigen (Rn. 29).

5. Rechtsstaat

Zu Zeiten des Nationalsozialismus erfuhr der „ne bis in idem“-Grundsatz erhebliche Einbußen, die aber heute nicht mehr zu befürchten seien, zumal der Grundsatz heute in einem rechtsstaatlich abgesicherten Rahmen eingebunden ist. Schon tatbestandlich war eine Mehrfachverfolgung nur unter strengen Bedingungen möglich: Das in Nr. 5 genannte Verbrechen musste als vollendete Tat in täterschaftlicher Begehung vorliegen, während der Betroffene ein Freigesprochener gewesen sein muss, (d.h. ein zu mild Verurteilter war aus dem Täterkreis ausgeschlossen). Während das Sondervotum betont, dass die Verhältnismäßigkeit der Vorschrift im Einzelnen diskutabel sein kann, so ist jedenfalls die Möglichkeit zuzugestehen, § 362 I Nr. 5 StPO verfassungskonform auszulegen und ggfs. eine Korrektur auf Rechtsfolgenseite vorzunehmen. Ein Missbrauch dieser Möglichkeit droht in dem Rechtsstaat, der die BRD geworden ist, nicht mehr.


V. Fazit

Im Hinblick auf die Verfassungswidrigkeit des § 362 Nr. 5 StPO war sich – im Ergebnis ­– der ganze Senat einig, da sich jedenfalls ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot aufdrängte. Spannend ist, dass sich bei der Diskussion um den Verstoß gegen das Mehrfachverfolgungsverbot sehr antagonistische Auslegungen offenbarten. Das uneinstimmig ergangene Votum verdeutlicht, dass die Frage um die zu treffende Wertentscheidung zwischen der materiellen Gerechtigkeit auf der einen Seite und der Rechtssicherheit auf der anderen Seite keine einfache war. Das Urteil ruft jedoch zu Recht in Erinnerung, dass gerade in einem Rechtsstaat dem staatlichen Strafanspruch klare Grenzen zu setzen sind – selbst in den Fällen, in denen der Ausgang eines formell wie materiell nicht zu beanstandenden Strafverfahrens dem gesellschaftlichen Gerechtigkeitsgefühl widersprechen mag.

07.02.2024/4 Kommentare/von Alexandra Alumyan
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Alexandra Alumyan https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Alexandra Alumyan2024-02-07 19:05:412024-02-13 16:06:04BVerfG: § 362 Nr. 5 StPO ist nichtig
Gastautor

BVerfG zur teilweisen Ungültigerklärung und Wiederholung der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag in Berlin

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Wir freuen uns, nachfolgend einen Gastbeitrag von Sören Hemmer veröffentlichen zu können. Der Autor studiert Rechtswissenschaften an der Universität Bonn

A.   Einleitung

Mit Urteil vom 19.12.2023 entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Urt. v. 19.12.2023 – 2 BvC 4/23, BeckRS 2023, 36480) über die Wahlprüfungsbeschwerde der CDU/CSU-Bundestagsfraktion bezüglich des Beschlusses des Bundestages vom 10.11.2023, mit dem die Bundestagswahl in Berlin teilweise für ungültig erklärt und eine Wiederholung angeordnet wurde. Nicht nur setzt sich die Entscheidung inhaltlich erheblich von der des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin (VerfGH Berlin, Urt. v. 16.11.2022 – 154/21, NVwZ 2023, 70) ab, der in einem weitgehend parallelen, wenn auch nicht identischen Fall, für die Wahl zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen eine vollständige Wahlwiederholung annahm. Es werden auch einige Fragen behandelt, die so oder so ähnlich KandidatInnen im Examen begegnen könnten. Daher sollen die wesentlichen Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts folgend im Stile einer Klausurbearbeitung dargestellt werden.

B.   Der Sachverhalt (leicht abgewandelt)

Am 26.09.2021 fand in Berlin die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag statt. Zugleich wurden dort die Wahlen zum 19. Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen abgehalten, sowie über einen Volksentscheid abgestimmt, sodass bis zu sechs Stimmen auf fünf verschiedenen Stimmzetteln abzugeben waren. Für die Bundestagwahl waren 2.468.919 Personen wahlberechtigt, die sich auf 2256 Wahlbezirke bzw. 1507 Briefwahlbezirke in zwölf Wahlkreisen verteilten. Zudem wurde am Wahltag der Berlin-Marathon ausgerichtet und es galten diverse besondere Abstands- und Hygienevorschriften in Reaktion auf die gegenwärtige Corona-Pandemie.

In Vorbereitung der Wahl führte die Landeswahlleitung im Juli 2020 eine Simulation mit 750 WählerInnen mit je sechs Stimmen durch und empfahl auf dieser Grundlage, Wahllokale für maximal 750 WählerInnen einzurichten. Dem wurde Rechnung getragen, wobei erwogen wurde, dass ein Teil der Wahlberechtigten nicht oder per Briefwahl teilnehmen würde. Insgesamt wurde die Zahl der Wahlbezirke so im Vergleich zur Bundestagswahl 2017 um 477 erhöht, wobei die Wahl damals nur mit einem Volksentscheid und keinen weiteren Wahlen zusammenfiel. Ferner stellte die Landeswahlleitung einen „idealtypischen Aufbau“ eines Wahllokals mit zwei Wahlkabinen als Orientierung vor.

Schon am Wahltag wurde von langen Warteschlangen vor diversen berliner Wahllokalen berichtet. Zum Teil wurde auch noch lange nach 18 Uhr und damit nach der Veröffentlichung erster Ergebnisprognosen gewählt. Im Nachgang der Wahl wurden zahlreiche Wahleinsprüche beim Bundestag eingelegt. Diese bezogen sich u.a. auf eine unzureichende Ausstattung der Urnenwahllokale mit Stimmzetteln und Wahlkabinen, die Ausgabe nichtamtlicher Stimmzettel, die Ausgabe von Stimmzetteln anderer Wahlkreise, Unterbrechungen der Wahlhandlung, Wartezeiten, zu frühe Öffnungen oder zu späte Schließungen und die Zulassung nicht wahlberechtigter Personen. Auch die Landeswahlleitung musste in einer Stellungnahme vom 11.01.2022 einräumen, dass es bei der Durchführung der Wahl in einigen Wahlbezirken erhebliche Mängel gegeben habe, die vor allem auf die außerordentliche Belastung durch die Verbindung von drei Wahlen und einem Volksentscheid und erschwerende Umstände der Pandemie und des Marathons zurückzuführen seien. Insbesondere haben die Straßensperrungen zur Durchführung der Sportveranstaltung dazu geführt, dass Nachlieferungen von Stimmzetteln nach Bedarf im Verlauf des Wahltags nicht wie geplant erfolgen konnten.

Daraufhin erklärte der Bundestag mit Beschluss vom 10.11.2022 die Abgabe beider Stimmen für die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag in insgesamt 431 Wahlbezirken für ungültig und ordnete die Wiederholung der Wahl in diesem Umfang an. Dem lag folgende Begründung zugrunde:

Als Wahlfehler festzustellen sei, dass

  • Stimmzettel anderer Wahlkreise Berlins ausgegeben worden sind. Das verstoße gegen § 39 Abs. 1 S. 2 BWahlG.
  • Wahlhandlungen aufgrund fehlender Stimmzettel erst nach 8 Uhr aufgenommen, zwischenzeitlich unterbrochen oder vor 18 Uhr abgebrochen wurden. Darin liege ein Verstoß gegen § 47 Abs. 1 BWahlO.
  • Stimmzettel über den Tag ausgingen. Damit sei gegen § 49 Nr. 3 BWahlO verstoßen worden.
  • es nicht hinreichend viele Wahlräume und Wahlkabinen gegeben habe. Damit liege ein Verstoß gegen § 43 Abs. 1 S. 3 BWahlO vor.

Auch seien lange Wartezeiten zu beobachten gewesen. Das stelle an sich keinen Wahlfehler dar, könne aber in einen solchen umschlagen, wenn das Warten die Stimmabgabe unzumutbar macht. Insofern seien Wartezeiten vorliegend ein weit verbreitetes Problem gewesen. Es könne von den Wartezeiten auf eine unzureichende Zahl aufgestellter Wahlkabinen geschlossen werden. Dies nahm der Bundestag im Einzelnen auch im Fall einer 30-minütiger Wartezeit im Wahlbezirk 75 01 118, unbestimmt langer Wartezeit iVm einem Verweis auf nicht näher dargelegte „chaotische Zustände“ im Wahlbezirk 75 01 317 und Warteschlangen aus mehreren Dutzend Personen im Wahlbezirk 75 01 722 an. Ferner sei gemäß § 60 S. 2 BWahlO die Stimmabgabe auch nach 18 Uhr an sich ausdrücklich und unabhängig von etwaigen veröffentlichten Ergebnisprognosen möglich, könne aber ebenfalls ein Indiz für weitere Wahlfehler sein.

Die Wahlfehler seien auch mandatsrelevant, denn insgesamt seien 327 Wahlbezirke betroffen. Hinsichtlich dem Zweitstimmenergebnis hätten bereits 802 Stimmen genügt, damit die SPD ein weiteres Mandat erhalten hätte. Bezüglich dem Erststimmenergebnis sei eine Mandatsrelevanz derweil nur für Wahlfehler in den Wahlkreisen 76 und 77 anzunehmen. Hier hätten 26 % bzw. 19 % der NichtwählerInnen ihre Stimme für die Erstunterlegenen abgeben müssen, um zu einer Mandatsverschiebung zu führen. Es sei nicht fernliegend, dass dies ohne die festgestellten Wahlfehler eingetreten wäre. In Wahlkreis 80 hätte es dagegen einer entsprechende Stimmabgabe von 46 % der NichtwählerInnen bedurft. Diese Differenz sei zu hoch, um sie den Wahlfehlern in Rechnung zu stellen. In allen weiteren wahlfehlerbetroffenen Wahlkreisen wäre eine Stimmabgabe von je über 100 % der NichtwählerInnen für die Erstunterlegenen erforderlich, um eine Mandatsverschiebung zu erreichen. Eine Mandatsrelevanz der Wahlfehler müsse daher von vorne herein ausscheiden.

Dort, wo mandatsrelevante Wahlfehler festgestellt wurden, sei die Wahl ungültig und müsse daher wiederholt werden. Die grundsätzliche Beschränkung auf wahlfehlerbehaftete Wahlbezirke entspreche dabei dem aus dem Demokratieprinzip folgenden Gebot des geringstmöglichen Eingriffs. Hingegen folge aus § 44 Abs. 2 BWahlG iVm § 4 BWahlG a.F., dass die Wahl zwingend als Zweistimmenwahl zu wiederholen sei – selbst wenn sich Wahlfehler mandatsrelevant nur auf das Zweitstimmenergebnis ausgewirkt haben. Schließlich seien neben den 327 mandatsrelevant wahlfehlerbehafteten Wahlbezirken auch 104 weitere, an sich wahlfehlerfreie Wahlbezirke für ungültig zu erklären. Dies folge aus dem Umstand, dass Wahlbezirke mitunter über gemeinsame Briefwahlbezirke verknüpft seien.

Dabei verzichtete der Bundestag auf eine umfängliche Auswertung der nach Maßgabe von § 72 Abs. 1 BWahlO iVm Anlage 29 angefertigten Niederschriften. Soweit sie in den Blick genommen wurden habe sich gezeigt, dass die Niederschriften oftmals keine hinreichenden Informationsquellen darstellten. Von einem Schweigen der Niederschriften könne daher nicht auf das Nichtvorliegen von Wahlfehlern geschlossen werden. Vor diesem Hintergrund erschienen auch weitere Ermittlungen nicht zielführend. Stattdessen sollte das Geschehen iRd Bundestagswahl zügig und effizient einer Klärung zugeführt werden.

Wären die Niederschriften weiter ausgewertet worden, hätte dem Bundestag bekannt werden können, dass:

  • Wahlhandlungen in drei weiteren Wahlbezirken erst um 8:55, 8:59 bzw. 9:20 Uhr aufgenommen wurden.
  • es in vier weiteren Wahlbezirken zu Unterbrechungen mangels Stimmzetteln kam.
  • in einem bereits aus anderem Grund für ungültig erklärten Wahlbezirk nichtamtliche Stimmzettel verwendet wurden.
  • bis zu acht nicht für die Bundestagswahl wahlberechtigte Personen Stimmzettel einwerfen konnten.
  • es in vier weiteren Wahlbezirken zu Wartezeiten von über einer Stunde kam.

Ferner wurde erst nach der mündlichen Verhandlung bekannt, dass innerhalb des Wahlkreises 81 Wahlbriefe mit dem Ziel gleichmäßiger Arbeitsbelastung und beschleunigter Feststellung des Wahlergebnisses auf andere Briefwahlbezirke umverteilt wurden. Betroffen sind dabei 1080 Briefe aus für ungültig erklärten Bezirken.

Gegen den Beschluss des Bundestages erhebt die Bundestagsfraktion C Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht. Sie rügt die Rechtswidrigkeit des Beschlusses in verschiedener Hinsicht. Zunächst seien auch Wartezeiten als selbstständige Wahlfehler zumindest dann anzuerkennen, wenn diese daraus resultieren, dass die Auswahl und Ausstattung der Wahlräume nicht hinreichend darauf ausgerichtet war, die Wahl möglichst zu erleichtern. Auch die Zulassung zur Wahl teils weit nach 18 Uhr sei ein Wahlfehler. Insofern haben hier nicht mehr Personen gewählt, die gemäß § 60 S. 2 BWahlO „aus Platzgründen“, sondern aus Gründen der fehlerhaften Wahldurchführung um 18 Uhr in Warteschlagen vor dem Wahllokal warteten. Die Norm sei daher nicht anwendbar. Ganz grundsätzlich müsse ferner angenommen werden, dass es noch zu weiteren, unbekannt gebliebenen Wahlfehlern gekommen sei. Die Wahl habe an flächendeckenden und grundsätzlichen Problemen gelitten. Diese bis ins Letzte aufzuklären stehe auch entgegen, dass die Niederschriften die wahlprüfungsrelevanten Vorfälle nicht hinreichend ablesen ließen. Hier sei dann aber eine Darlegungslast des Staates anzunehmen. Mängeln der staatlichen Wahlorganisation und -dokumentation sei effektiv und auch präventiv entgegenzutreten. Alles andere schaffe nur Anreize, Wahlfehler schlecht/nicht aufzuzeichnen. Auch hinsichtlich der Mandatsrelevanz sei der Beschluss des Bundestags in zweifacher Hinsicht verfehlt. Zum einen habe der Bundestag einen grundsätzlich zu strengen Maßstab angelegt, der dem Umstand, dass es sich hier um besonders schwere, demokratiebelastende Wahlfehler handelte, nicht hinreichend Rechnung trage. Eine Wahlwiederholung über an sich und in ihrer Wirkung konkret festgestellte Wahlfehler hinaus sei mit Blick auf § 40 Abs. 3 BüWG auch nicht ohne (landesrechtliches) Beispiel. Auf der anderen Seite sei dort, wo nur hinsichtlich der Zweitstimme eine Mandatsrelevanz festzustellen ist, die Wahl auch nur diesbezüglich für ungültig zu erklären und zu wiederholen. Das folge aus dem Gebot des geringstmöglichen Eingriffs und widerspreche auch nicht § 44 Abs. 2 BWahlG.

Hat die Beschwerde der C-Fraktion Aussicht auf Erfolg? Es ist davon auszugehen, dass der Beschluss des Bundestages nicht zu beanstanden ist, soweit im Sachverhalt nichts vorgetragen ist.

C.   Die Entscheidung (leicht abgewandelt)

Die Beschwerde der C-Fraktion hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und soweit sie begründet ist.

I.   Zulässigkeit

Die Beschwerde ist zulässig, wenn die Sachurteilsvoraussetzungen vorliegen.

(zum Prüfungsaufbau und den Voraussetzungen im Einzelnen s. Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Auflage 2020, § 36).

1.   Zuständigkeit des BVerfG

Die Wahlprüfung ist zunächst Sache des Bundestags (Art. 41 Abs. 1 S. 1 GG). Gegen dessen Entscheidung ist jedoch die Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 41 Abs. 2 GG iVm §§ 13 Nr. 3, 48 BVerfGG vorgesehen. Insofern besteht eine Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts.

2.   Beschwerdeberechtigung

Die C-Fraktion ist als solche gemäß § 48 Abs. 1 BVerfGG beschwerdeberechtigt.

Hinweis: Eine subjektive Betroffenheit iS zumindest der Möglichkeit der Verletzung subjektiver Rechte von BeschwerdeführerInnen bedarf es bei der Beschwerde gegen die Entscheidung über die Gültigkeit der Wahl nicht. Etwas anderes gilt jedoch, wenn gerade die Feststellung einer subjektiven Rechtsverletzung begehrt wird (BVerfGE 160, 129 (138 f.); Walter, in: Walter/Grünewald, BVerfGG, 15. Ed. 01.06.2023, § 48 Rn. 21).

3.    Beschwerdegegenstand

Die C-Fraktion wendet sich gegen den Beschluss des Bundestages vom 10.11.2022, mit dem die Bundestagswahl in Berlin teilweise für ungültig erklärt wurde. Damit besteht ein zulässiger Beschwerdegegenstand gemäß § 48 Abs. 1 BVerfGG.

4.   Form, Frist

Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten seit der Beschlussfassung schriftlich erhoben und begründet worden, sodass die Form- und Fristanforderungen gemäß §§ 23 Abs. 1, 48 Abs. 1 BVerfGG gewahrt sind.

5.    Rechtsschutzbedürfnis

Die C-Fraktion ist auch rechtsschutzbedürftig.

Hinweis: Das Bundesverfassungsgericht betrachtet eine Wahlprüfungsbeschwerde mit Ablauf der Legislaturperiode grundsätzlich für erledigt (BVerfGE 22, 277 (280 f.); 34, 201 (203)). Ausnahmsweise entscheidet es jedoch auch danach noch in der Sache, wenn ein entsprechendes öffentliches Interesse besteht. Die (zulässige) Beschwerde ist von daher zwar eine Voraussetzung für die Befassung des Bundesverfassungsgerichts, hat allerdings nur eine Anstoßfunktion (BVerfGE 122, 304 (305 ff.); zum Ganzen Misol, in: Barczak, BVerfGG, 1. Aufl. 2018, § 48 Rn. 56 ff.).

6.   Zwischenergebnis

Die Beschwerde ist zulässig (Rn. 101).

II.    Begründetheit

Die Beschwerde müsste begründet sein. Das ist der Fall, soweit der gegenständliche Beschluss des Bundestages formell oder materiell rechtswidrig ist.

„Die Wahlprüfung dient der Feststellung der ordnungsgemäßen Zusammensetzung des Parlaments und dem Schutz des subjektiven Wahlrechts der Bürgerinnen und Bürger […]. Sie ist zunächst Sache des Deutschen Bundestages“ (Rn. 103).

„Gegen die Entscheidung des Bundestages ist die Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht zulässig (Art. 41 Abs. 2 GG, § 48 BVerfGG). Dieses überprüft den angegriffenen Beschluss des Bundestags in formeller und materieller Hinsicht (vgl. BVerfGE 89, 243 <249>; 121, 266 <289>). Zudem hat das Gericht, insoweit über den Prüfungsumfang der Wahlprüfungsentscheidung des Deutschen Bundestags hinausgehend (vgl. BVerfGE 160, 129 <145 Rn. 47>), die Verfassungsmäßigkeit der anzuwendenden Vorschriften zu prüfen, sofern es darauf ankommt […]. Es ist nicht auf eine Vertretbarkeitskontrolle beschränkt, hat aber die Entscheidungsspielräume zu beachten, die das einfache Recht dem Deutschen Bundestag einräumt“ (Rn. 109).

Maßgeblich sind damit regelmäßig die Normen des WahlPrüfG, des BWahlG, der BWahlO und die Wahlgrundsätze nach Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG (Morlok in Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 41 Rn. 15).

1.   Formelle Rechtswidrigkeit

Der Beschluss des Bundestags könnte formell rechtswidrig sein. Insofern könnte die Entscheidung, die Niederschriften zur Bundestagswahl nicht auszuwerten, einen Verfahrensfehler darstellen. Die Wahlprüfung des Bundestags steht zwischen Anfechtungs- und Offizialprinzip. Er wird nur tätig, wenn und soweit die Gültigkeit der Wahl mit einem Einspruch gemäß § 2 WahlPrüfG gerügt wurde, ist dann aber verpflichtet, den so umrissenen Anfechtungsgegenstand von Amts wegen zu erforschen und alle dabei auftauchenden rechtserheblichen Tatsachen zu berücksichtigen (BVerfGE 66, 369 (378 f.)). Hier könnte es zu der gebotenen Sachverhaltsaufklärung gehört haben, die im Zuge der Durchführung der Wahl angefertigten Niederschriften umfänglich zu durchleuchten.

Dagegen wird vorgetragen, die Niederschriften seien nicht verwertbar gewesen. Die nach einem bestimmten Muster (§ 72 Abs. 1, Anlage 29 BWahlO) erstellten Niederschriften seien lückenhaft und die Gestaltung der Anlage 29 BWahlO nicht hinreichend auf die hier im Raum stehenden Wahlfehler ausgerichtet. Doch

„auch wenn nicht davon auszugehen ist, dass aus dem Schweigen der Niederschriften auf das Nichtvorliegen von Wahlfehlern geschlossen werden kann (vgl. BTDrs. 20/4000, S. 57), ist es umgekehrt nicht ausgeschlossen, dass die Durchsicht der Niederschriften zur Feststellung des Vorliegens weiterer Wahlfehler geführt hätte. Bei einer Auswertung der Niederschriften hätte die Möglichkeit bestanden, einzelne, bisher nicht erfasste wahlfehlerrelevante Vorgänge aufzudecken“ (Rn. 126).

Indem der Bundestag die Niederschriften nicht auswertete, sah er in nicht verfahrensfehlerfreier Weise von weiteren Ermittlungen ab (vgl. § 5 Abs. 3 WahlPrüfG). Der Beschluss des Bundestages ist dahingehend formell rechtswidrig, mangels entgegenstehender Hinweise ansonsten rechtmäßig. Soweit im Weiteren auf die vom Bundestag nicht hinreichend berücksichtigten Niederschriften zu rekurrieren sein mag, ist es dem Bundesverfassungsgericht unbenommen entsprechende Ermittlungen zur Aufklärung des tatsächlichen Wahlgeschehens selbst anzustellen (Rn. 129 f.).

2.    Materielle Rechtswidrigkeit

Der Beschluss des Bundestags könnte materiell rechtswidrig sein. Das ist dann der Fall, wenn Wahlfehler nicht oder fälschlicherweise festgestellt, deren Mandatsrelevanz fehlerhaft beurteilt oder eine falsche Rechtsfolge bestimmt wurde (vgl. Rn. 131).

a)   Wahlfehler

Fraglich ist, ob der Bundestag das Vorliegen von „Wahlfehlern“ richtig bewertet hat.

„Ein Wahlfehler liegt immer dann vor, wenn die Regelungen des Bundeswahlgesetzes und der Bundeswahlordnung (vgl. BVerfGE 130, 212 <224>) und die diese prägenden Wahlgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt sind. Daneben können Verstöße gegen sonstige Vorschriften einen Wahlfehler begründen, soweit sie mit einer Wahl in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Relevant sind alle Normwidrigkeiten, die den vom Gesetz vorausgesetzten regelmäßigen Ablauf des Wahlverfahrens zu stören geeignet sind. Diese können während der Wahlvorbereitung […], der Wahlhandlung […] und bei der Feststellung des Wahlergebnisses auftreten. Lediglich Sachverhalte, die bei Gelegenheit einer Wahl auftreten, ohne in einem auch nur mittelbaren Bezug zum Wahlvorgang und dessen Ergebnis zu stehen, sind zur Begründung eines Wahlfehlers ungeeignet (Rn. 141)“.

Dabei prüft das Bundesverfassungsgericht nicht nur, ob die wahlrechtlichen Vorschriften zutreffend angewandt worden sind, sondern auch, ob sie mit den Vorgaben der Verfassung im Einklang stehen (Rn. 134). Bei Unaufklärbarkeit ist vom Nichtvorliegen eines Wahlfehlers auszugehen (Rn. 279).

(1)   Wahlvorbereitung
(a)   Auswahl und Ausgestaltung der Wahlräume

Wahlfehler könnten in der Auswahl und Einrichtung der Wahlräume unterlaufen sein. Weder das BWahlG, noch die BWahlO machen konkrete Vorgaben zu der Zahl von Wahlkabinen. Der Wahlraum soll jedoch gemäß § 46 Abs. 1 S. 3 BWahlO nach den örtlichen Verhältnissen so ausgewählt und eingerichtet werden, dass allen Wahlberechtigten, insbesondere Menschen mit Behinderungen und anderen Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigungen, die Teilnahme an der Wahl möglichst erleichtert wird. Dahinter steht auch die Verwirklichung der Wahlgrundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG. Dies könnte vorliegend in der Vorsehung der Wahlkabinenzahl missachtet worden sein, indem den Umständen der konkreten Wahl nicht hinreichend Rechnung getragen wurde.

Die Landeswahlleitung gab zur Orientierung einen idealtypischen Aufbau eines Wahllokals mit zwei Wahlkabinen aus. Bei einer Wahlzeit von 10 Stunden (8 bis 18 Uhr, § 47 Abs. 1 BWahlO), 2256 Wahllokalen und 2.468.919 Wahlberechtigten stünden so selbst bei einer realistisch prognostizierten Wahlbeteiligung von 75 % und der Annahme einer Briefwahlbeteiligung von 50 % nur 2,9 Minuten Bruttozeit (Herantreten bis Verlassen der Wahlkabine) pro Person bei zwei Wahlkabinen je Wahllokal, 4,4 Minuten bei drei Wahlkabinen je Wahllokal zur Verfügung. Dem steht – durch das Zusammenfallen der Bundestagswahl mit der Wahl zum Abgeordnetenhaus, der Bezirksverordnetenversammlung und einem Volksentscheid – die Abgabe von bis zu sechs Stimmen auf fünf inhaltlich und gestalterisch verschiedenen Stimmzetteln gegenüber. Im Vergleich zu 2017 verdoppelten sich damit die maximal abzugebenden Stimmen, während die Zahl der Wahlbezirke nur um knapp 27 % erhöht wurde. Hinzu kommt die unterschiedliche Größe des Einzugsbereichs der Wahllokale. Je nachdem konnte sich die zur Verfügung stehende Zeit noch verkürzen. Aus alldem ergibt sich, dass

„keine tragfähigen Überlegungen angestellt oder umgesetzt [wurden], wie der einzelne Wahlraum eines jeden Wahlbezirks für die absolute Zahl oder jedenfalls die Zahl der zu erwartenden Wahlberechtigten unter den Bedingungen einer Mehrfachwahl mit sechs Entscheidungsmöglichkeiten auf fünf inhaltlich verschiedenen und unterschiedlich gestalteten Stimmzetteln auszustatten gewesen wäre“ (Rn. 182).

Damit wurde schon in der Wahlvorbereitung gegen § 46 Abs. 1 S. 3 BWahlO verstoßen (Rn. 157 ff., 181 ff.).

Hinweis: Denkbar ist es, an dieser Stelle auch schon auf das Geschehen am Wahltag selbst Bezug zu nehmen und zu erörtern, ob und wo dies Rückschlüsse auf Wahlfehler in der Vorbereitung zulässt, die der Einschätzung des Bundestages widersprechen. Dann müssten freilich sämtliche Ausführungen zur Wartezeit und Stimmabgabe nach 18 Uhr auch schon hier angebracht werden (vgl. u. C) II. 2. a) (2) (e), (f)).

(b)   Übergabe von Stimmzetteln

Die Gemeindebehörde übergibt gemäß § 49 Nr. 3 BWahlO den Wahlvorstehern eines jeden Wahlbezirks vor Beginn der Wahlhandlung amtliche Stimmzettel in genügender Zahl. Diese Vorgabe kann nicht zugunsten anderweitiger Überlegungen logistischer Effizienz der Nachlieferung von Stimmzetteln nach Bedarf über den Wahltag hinweg überwunden werden. Aus den Niederschriften gehen vier von dem Beschluss des Bundestages nicht erfasste Fälle verschiedener Urnenwahlbezirke aus drei Wahlkreisen hervor, in denen im Verlauf des Tages die Stimmzettel ausgingen. Auch insofern liegen Wahlfehler vor (Rn. 187).

(2)   Wahlhandlung
(a)   Aushändigung von Stimmzetteln anderer Wahlkreise

Wird mit einem Stimmzettel, der für einen anderen Wahlkreis gültig ist, gewählt, so ist die Erststimme gemäß § 39 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, S. 2 Hs. 2 BWahlG ungültig. Vorliegend sind 495 derartige Fälle und damit Wahlfehler dokumentiert (Rn. 191).

(b)   Unterbrechungen der Wahlhandlung

Wird das Wahllokal während der Wahlhandlung (vgl. § 31 S. 1 BWahlG, § 54 BWahlO) oder Ermittlung des Ergebnisses (vgl.§§ 67, 54 BWahlO) vorübergehend geschlossen, stellt dies einen Verstoß gegen die Öffentlichkeit der Wahl und damit einen Wahlfehler dar (Rn. 164). Von der Schließung des Wahllokals sind bloße Unterbrechungen bei fortbestehender öffentlicher Zugänglichkeit zu unterscheiden. Insofern dauert die Wahl gemäß § 47 Abs. 1 BWahlO jedoch von 8 bis 18 Uhr. Unterbrechungen, verspätete Öffnungen oder verfrühten Schließungen führen daher zu Wahlfehlern (Rn. 161, 194).

In den Niederschriften dokumentiert sind drei Fälle der Aufnahme von Wahlhandlungen in Urnenwahlbezirken um 8:55 Uhr, 8:59 Uhr und 9:20 Uhr und weitere vier Fälle von Unterbrechungen mangels Stimmzetteln (s.o.) und damit Verstöße gegen § 47 Abs. 1 BWahlO, die im Beschluss des Bundestages keine Berücksichtigung finden und so über ihn hinausgehend als Wahlfehler festzustellen sind (Rn. 212 ff.).

(c)   Verwendung anderer als amtlicher Stimmzettel

Zu wählen ist zwingend mit amtlichen Stimmzetteln (§ 34 Abs. 1 BWahlG, § 56 Abs. 1, 6 S .1 Nr. 6 BWahlO), sodass die Verwendung von anderem einen Wahlfehler begründet. Ein solcher Verstoß konnte jedoch nur in einem, bereits aus einem anderen Grund für ungültig erklärten Fall festgestellt werden (Rn. 196).

(d)   Zulassung nicht wahlberechtigter Personen

Gemäß § 56 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 BWahlO ist zurückzuweisen, wer nicht in das Wählerverzeichnis eingetragen ist und keinen Wahlschein besitzt. Aus den Niederschriften geht hervor, dass in bis zu acht Fällen Personen, die zwar für die Bezirksverordnetenversammlung (vgl. §§ 1, 22a LWahlG Berlin), nicht aber für die Bundestagswahl (vgl. § 12 BWahlG) wahlberechtigt waren, einen Stimmzettel für letztere erhalten und eingeworfen haben. Dahingehend sind Wahlfehler festzustellen (Rn. 162, 197).

(e)   Wartezeiten

Fraglich ist, ob – zumindest ab einer gewissen Schwelle – Wartezeiten als solche einen Wahlfehler begründen können.

Hierfür spricht, dass unzumutbar lange Wartezeiten Wahlberechtigte von der Ausübung des Wahlrechts abhalten können und zwar nicht erst beim Anstellen in der Warteschlange, sondern bereits bei der Annäherung an das Wahllokal, beim Sichtbarwerden der Warteschlange oder durch Bekanntwerden von Informationen über Wartezeiten über persönliche Kontakte oder Medien (Rn. 199).

Jedoch machen weder das BWahlG, noch die BWahlO

„Vorgaben zum Umfang einer zumutbaren Wartezeit. Aus der Formulierung ,möglichst erleichtern‘ in § 46 Abs. 1 Satz 3 BWahlO lässt sich eine bestimmte zumutbare Wartezeit nicht entnehmen“ (Rn. 163).

Auch aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG folgt nicht das Recht, die eigene Stimme

„am Wahltag jederzeit an jedem Ort ungehindert abgeben zu können, sondern nur die gleiche Möglichkeit zur Stimmabgabe für jeden Wahlberechtigten. Die Unwägbarkeit eines gleichzeitigen Zustroms einer Vielzahl von Wahlberechtigten zur selben Zeit kann für alle betroffenen Personen mehr Wartezeit mit sich bringen, ohne dass dadurch ein Wahlfehler begründet wird“ (Rn. 163).

Wartezeiten als solche sind daher keine Wahlfehler. Daraus folgt hingegen noch nicht, dass diese für die Feststellung von Wahlfehlern gänzlich unbeachtlich sind. Insofern ist zu differenzieren, ob eine Wartezeit nur das Resultat eines punktuellen, außerordentlich großen Andrangs oder einer unzureichenden Planung und Vorbereitung ist (Rn. 163).

„Besonders lange Wartezeiten indizieren […] regelmäßig eine unzureichende Ausstattung der Wahlräume mit Wahlkabinen und/oder Stimmzetteln und damit das Vorliegen eines Verstoßes gegen § 46 Abs. 1 Satz 3, § 49 Nr. 3 BWahlO. Als zeitliche Grenze dürfte dabei – unter Berücksichtigung des Umstands, dass in Berlin bis zu sechs Stimmen auf fünf unterschiedlichen Stimmzetteln abgegeben werden konnten – eine Wartezeit ab einer Stunde anzusehen sein. Kürzere Wartezeiten dürfte eine vergleichbare Indizwirkung nicht zukommen, da nicht auszuschließen ist, dass trotz einer für den reibungslosen Ablauf der Wahl grundsätzlich ausreichenden Ausstattung eines Wahllokals aufgrund eines punktuell hohen Andrangs zeitweise Wartezeiten bis zu einer Stunde entstehen können. Überschreitet die Wartezeit aber den Zeitraum von einer Stunde, dürfte dies nicht mehr mit dem besonderen Andrang während sogenannter Stoßzeiten erklärbar sein, sodass von einer unzureichenden Ausstattung des betreffenden Wahllokals auszugehen ist“ (Rn. 201).

Dies zugrunde gelegt ist festzustellen, dass – von dem Beschluss des Bundestages nicht erfasst – in vier Urnenwahlbezirken aus drei Wahlkreisen Wartezeiten von jeweils über einer Stunde aus den Niederschriften hervorgehen, sodass das Vorliegen von Wahlfehlern gemäß §§ 46 Abs. 1 S. 3, 49 Nr. 3 BWahlO anzunehmen ist (Rn. 212 ff.).

Andererseits lies der Bundestag in einem Fall bereits eine Wartezeit von 30 Minuten, in einem anderen Fall unbenannt lange Wartezeiten und nicht näher beschriebene „chaotische Zustände“ und in einem dritten Fall Warteschlangen aus „mehreren Dutzend Leuten“ ohne weitere Angaben genügen, um für die entsprechenden Wahlbezirke das Vorliegen von Wahlfehlern anzunehmen. Aus dem Gesagten folgt, dass dies nicht aufrechterhalten werden kann (Rn. 225 ff.).

(f)   Stimmenabgabe nach 18 Uhr

Die Stimmenabgabe nach 18 Uhr könnte einen Wahlfehler darstellen. Gemäß § 47 Abs. 1 BWahlO dauert die Wahl von 8 bis 18 Uhr. Eine spätere Wahlhandlung verstößt grundsätzlich gegen diese Vorschrift. Jedoch sieht § 60 S. 2 BWahlO vor, dass auch nach Ablauf der Wahlzeit zuzulassen ist, wer vor Ablauf der Wahlzeit erschienen und sich im Wahlraum oder aus Platzgründen davor befindet. Fraglich ist jedoch, ob derartige Fälle hier angenommen werden können. Zum Teil waren um 18 Uhr noch lange Warteschlangen vor den Wahllokalen festzustellen. Zumindest denkbar erscheint der Standpunkt, dass diese Personen sich nicht „aus Platzgründen“, sondern aufgrund von Wahlfehlern vor dem Wahllokal befanden. Die Ausnahme des § 60 S. 2 BWahlO wäre damit nicht einschlägig, die Zulassung entsprechender WählerInnen ein Verstoß gegen § 47 Abs. 1 BWahlO (Rn. 53). Ein derart enges Verständnis von § 60 S. 2 BWahlO iSe Kausalitätsprüfung des Anstehens vor dem Wahllokal geht aus der Norm jedoch nicht hervor.

„Die Formulierung ,aus Platzgründen davor‘ in § 60 Satz 2 BWahlO nimmt Bezug auf die räumlichen Gegebenheiten im Wahllokal, die dazu führen können, dass ein Wahlberechtigter nicht in dem, sondern vor dem Wahlraum warten muss. […] Ein Warten aus Platzgründen vor dem Wahlraum ist anzunehmen, wenn die räumliche Kapazität des Wahllokals erschöpft ist. Entscheidend setzt § 60 Satz 2 BWahlO voraus, dass die betroffene Person ,vor Ablauf der Wahlzeit‘ erschienen ist. Dies ist der Fall, wenn sie vor 18 Uhr am Wahllokal eingetroffen ist“ (Rn. 167).

„Auch eine Stimmabgabe nach 18 Uhr begründet als solche […] keinen Wahlfehler. Ein solcher liegt grundsätzlich nur dann vor, wenn die Wahlberechtigten nicht rechtzeitig vor dem Ablauf der Wahlzeit erschienen und trotzdem zur Wahl zugelassen worden sind. Derartige Fälle sind nicht ersichtlich. Davon zu unterscheiden ist die Frage, inwieweit Öffnungszeiten der Wahllokale über das Ende der Wahlzeit hinaus als ausreichendes Indiz für das Vorliegen sonstiger Wahlfehler angesehen werden können. […] Die Öffnung eines Wahllokals über 18:30 Uhr hinaus setzt voraus, dass zum Zeitpunkt des Endes der Wahlzeit um 18 Uhr eine nicht geringe Zahl an Wahlberechtigten zwar am Wahllokal eingetroffen ist, aber an der Wahl noch nicht teilnehmen konnte. […] Es liegt nahe, in diesem Fall einen Verstoß gegen § 46 Abs. 1 Satz 3, § 49 Nr. 3 BWahlO anzunehmen. Deshalb wird im Folgenden davon ausgegangen, dass eine Verlängerung der Öffnungszeiten eines Urnenwahllokals über 18:30 Uhr hinaus das Vorliegen eines Wahlfehlers indiziert“ (Rn. 202 ff.).

Über den Beschluss des Bundestags hinaus ist demnach festzustellen, dass in je zwei Wahlbezirken aus zwei Wahlkreisen Wahlhandlungen erst zwischen 18:31 Uhr und 19:40 Uhr endeten. Ein Verstoß gegen §§ 46 Abs. 1 S. 3, 49 Nr. 3 BWahlO ist somit indiziert (Rn. 212 ff.).

(g)   Veröffentlichung von Prognosen um 18 Uhr trotz geöffneter Wahllokale

Ein Wahlfehler könnte auch in einem Verstoß gegen § 32 Abs. 2 BWahlG vorliegen, indem um 18 Uhr eine erste Prognose des Wahlergebnisses veröffentlicht wurde, obwohl noch in diversen Wahllokalen Wahlhandlungen durchgeführt wurden. Danach ist die Veröffentlichung von Ergebnissen von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe über den Inhalt der Wahlentscheidung vor Ablauf der Wahlzeit unzulässig. Das „Ende der Wahlzeit“ ist jedoch nach § 47 Abs. 1 BWahlO auf 18 Uhr bestimmt, sodass sich auch § 32 Abs. 2 BWahlG dahin richtet. Die Zulässigkeit von späteren Wahlhandlungen nach § 60 S. 2 BWahlO ist davon zu unterscheiden. Die Veröffentlichung der Prognose um 18 Uhr verstieß demnach nicht gegen § 32 Abs. 2 BWahlG. Zwar kann es hier zur Beeinträchtigung der Gleichheit der Wahl kommen, wenn einige WählerInnen ihre Stimmen bereits in Kenntnis erster Prognosen abgeben. Dies rechtfertigt sich jedoch im Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl, sodass die Normen auch nicht verfassungsrechtlich zu beanstanden sind (Rn. 168, 205).

Hinweis: Neben der Wahlgleichheit ist auch die Wahlfreiheit betroffen (Thum, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 32 Rn. 9).

(h)   Dokumentation

Mögen die Niederschriften aufgetretene Wahlfehler bei der Bundestagswahl 2021 nicht in der gewünschten Eindeutigkeit und Lückenlosigkeit dokumentiert haben, beruht dies nicht auf Verstößen gegen § 72 BWahlO, sodass dies selbst keine weiteren Wahlfehler begründet. Die Lückenhaftigkeit iSe bloßen Schweigens bildet auch keine Grundlage, um auf anderweitige Wahlfehler zu schließen (Rn. 170 ff., 230 f.).

(i)   Umverteilung von Wahlbriefen

Aus den §§ 74, 75 BWahlO folgt, dass Wahlbriefe briefwahlbezirksscharf und nicht nur wahlkreisscharf auszuzählen sind, sodass erfolgte Umverteilungen Wahlfehler begründen (Rn. 291).

Zwar hat sich der Bundestag mit diesen Vorgängen der Umverteilung nicht befasst, maßgeblich ist jedoch für die Zugänglichkeit eines Sachverhalts für das Bundesverfassungsgericht nicht, ob der Bundestag ein Vorkommnis als Wahlfehler gewertet hat, sondern ob dieser zu dem Gegenstand der Entscheidung des Bundestags gehört (Rn. 134).

(3)   Zwischenergebnis

Der Bundestag hat die in Betracht kommenden Wahlfehler weitgehend zutreffend bestimmt, hat jedoch die Wahlfehlerhaftigkeit in 15 Urnenwahlbezirken übersehen und ist bezüglich drei Urnenwahlbezirken fälschlicherweise zu dem Ergebnis des Vorliegens von Wahlfehlern gekommen (Rn. 131, 210). Ferner sind die Wahlfehler im Zusammenhang mit der Umverteilung von Wahlbriefen in Wahlkreis 81 in dem Beschluss nicht zur Geltung gekommen (Rn. 289).

b)   Mandatsrelevanz

Die Wahlfehler müssten mandatsrelevant sein, um eine Auswirkung auf die Gültigkeit der Wahl zu haben. Andernfalls könnte nur eine (subjektive) Rechtsverletzung festgestellt werden (§ 48 Abs. 3 BVerfGG). Mandatsrelevant ist ein Wahlfehler, wenn er Einfluss auf die Verteilung der Sitze im Parlament haben kann. Eine bloß theoretische Möglichkeit eines Kausalzusammenhangs genügt dafür nicht. Vielmehr muss es sich im Rahmen der allgemeinen Lebenserfahrung um eine konkrete und nicht ganz fernliegende Möglichkeit handeln, dass sich ein Wahlfehler entsprechend ausgewirkt hat (Rn. 235).

(1)   Zweitstimmenergebnis

Der Bundestag nahm an, dass die bereits von ihm festgestellten Wahlfehler in 327 Wahlbezirken mandatsrelevant bezüglich des Zweitstimmenergebnisses waren. Dafür könnte sprechen, dass die SPD landesweit nur 802 weitere Stimmen benötigt hätte, um einen zusätzlichen Sitz im Bundestag zu erlangen. So könnte es nahe liegen,

„dass die mehr als einstündigen Wartezeiten, die Unterbrechungen der Wahlhandlungen, die verspäteten Öffnungen beziehungsweise die vorübergehenden oder vorzeitigen Schließungen von Wahllokalen dafür ursächlich waren, dass Wahlberechtigte nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht haben“ (Rn. 246).

Ebenso könnte es dann nahe liegen, dass sich in dieser Gruppe von Nichtwählenden 802 Personen finden ließen, die andernfalls ihre Zweitstimme für die SPD abgegeben hätten. Eine Mandatsrelevanz wäre so bereits auf Grundlage der vom Bundestag festgestellten Wahlfehler festzustellen (Rn. 246).

Fraglich ist jedoch, ob derartige Erwägungen eines potenziellen Wahlverhaltens von NichtwählerInnen zulässig sind. So ist zumindest theoretisch denkbar, dass sämtliche Wahlberechtigte, die von den Wahlfehlern betroffen sein konnten, sich ohnehin dafür entschieden hatten der Wahl fernzubleiben oder niemand von ihnen die SPD hätte wählen wollen. Eine Voraussage des hypothetischen Wahlverhaltens iRd Wahlprüfung könnte dann gegen das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1, 2 S. 2 GG) verstoßen. So könnte es gerade dem Wesen der regelmäßig wiederkehrenden Wahlen zum Erhalt der demokratischen Legitimation der Abgeordneten gegenüber dem Volk und der damit verbundenen Möglichkeit der Wählenden, ihre Wahlentscheidung bei jeder Wahl zu erneuern oder zu verändern, entsprechen, dass sich das Stimmverhalten im demokratischen Prozess jeder verfassungsrechtlich tragfähigen Voraussage entzieht (VerfGH Berlin, Urt. v. 16.11.2022 – 154/21, NVwZ 2023, 70 (79); Rn. 243).

Andererseits ist aufzuklären, welches Auswirkungen Wahlfehler auf das Wahlergebnis gehabt haben können.

„Es entspricht nicht der Lebenswirklichkeit anzunehmen, dass die Stimmen aller Wählerinnen und Wähler, die aufgrund von nicht parteibezogenen Wahlfehlern an einer Wahl nicht oder nicht unbeeinflusst teilgenommen haben, nur auf eine Partei entfallen wären. Dem Verfassungsgerichtshof ist zwar zuzugestehen, dass eine exakte Übertragung der Wahlergebnisse oder Prognosen auf die Gruppe der Nichtwählerinnen und Nichtwähler nicht in Betracht kommt. Vielmehr ergeben sich daraus nur Orientierungspunkte, die in die Bewertung der Wahrscheinlichkeit der Auswirkung eines Wahlfehlers auf die Zusammensetzung des Parlaments einfließen können. Bei der Prüfung, ob nach der allgemeinen Lebenserfahrung die konkrete Möglichkeit einer Beeinflussung der Mandatsverteilung durch den festgestellten Wahlfehler besteht, ist daher das potentielle Wahlverhalten zwar nicht im Sinne einer exakten Übertragung der Wahlergebnisse, wohl aber im Sinne einer groben Orientierung zu berücksichtigen“ (Rn. 244).

Angesichts der geringen Zahl der benötigten Stimmen für die SPD, um eine Veränderung der Sitzverteilung herbeizuführen, kann schon auf Grundlage der vom Bundestag festgestellten Wahlfehler eine Mandatsrelevanz bezüglich der Zweitstimmen festgestellt werden. Das gilt erst recht mit Blick auf die vom Bundestag übersehenen und insofern als Bewertungsgrundlage hinzukommenden Wahlbezirke, in denen wegen verspäteten Öffnungen Wartezeiten, Unterbrechungen und späten Schließungen ebenfalls Wahlfehler anzunehmen sind und wird nicht durch den Wegfall von drei fälschlicherweise als wahlfehlerbehaftet einbezogenen Bezirken erschüttert. Die insoweit vom Bundestag festgestellten und übersehenen Wahlfehler sind damit mandatsrelevant für das Zweitstimmenergebnis (Rn. 246).

Etwas anderes könnte sich jedoch für die Wahlfehler der Zulassung nicht wahlberechtigter Personen ergeben.

„Insgesamt handelt es sich dabei um acht dokumentierte Fälle […]. Selbst wenn diese Personen alle zugunsten einer Landesliste gestimmt hätte und deren Gesamtstimmenzahl dementsprechend zu verringern wäre, hätte dies für die Sitzverteilung keine Bedeutung“ (Rn. 247).

Eine Mandatsrelevanz ist dahingehend zu verneinen.

Auch die Auszählung von Wahlbriefen in falschen Briefwahlbezirken, jedoch dem richtigen Wahlkreis, hat auf die Sitzverteilung im Bundestag keinen Einfluss, sodass auch diese Wahlfehler – für sich betrachtet – nicht mandatsrelevant sind (Rn. 303).

(2)   Erststimmenergebnis

Fraglich ist, inwieweit die festgestellten Wahlfehler auch für das Erststimmenergebnis mandatsrelevant sind. Das ist jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn die Stimmendifferenz zwischen den beiden am besten abschneidenden KandidatInnen größer ist als die Zahl der NichtwählerInnen. Damit kommt eine Mandatsrelevanz nur noch für die Wahlkreise 76, 77 und 80 in Betracht, wo es einer entsprechenden Stimmabgabe von 26 %, 19 %, respektive 46 % der NichtwählerInnen bedurft hätte, um eine Mandatsverschiebung herbeizuführen. Der Bundestag beurteilte hingegen nur in den ersten beiden Fällen die Wahlfehler für mandatsrelevant. Insofern ist zu erkennen, dass es nicht der allgemeinen Lebenswahrscheinlichkeit entspricht, dass sämtliche NichtwählerInnen dieser Wahlkreise nur aufgrund der aufgetretenen Wahlfehler von der Wahl ferngeblieben sind und knapp die Hälfte von ihnen auch für die Erstunterlegene gestimmt hätte. Das Ergebnis in den anderen beiden Wahlkreisen ist demgegenüber deutlich knapper. Hier erscheinen mandatsrelevante Verschiebungen hinreichend wahrscheinlich (Rn. 250).

Der Bundestag könnte so zu Recht zu dem Ergebnis gekommen sein, dass sich eine Mandatsrelevanz der Wahlfehler für die Erststimmenergebnisse auf die Wahlkreise 76 und 77 beschränkt. Zu einem anderen Ergebnis könnte jedoch führen, wenn für die vorliegende Frage kein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab anzulegen ist, sondern

„die Anforderungen an die Feststellung einer möglichen Beeinflussung der Sitzverteilung desto geringer ist, je schwerwiegender die Wahlfehler das Demokratieprinzip beeinträchtigen“ (Rn. 56).

Doch

„[d]em steht bereits entgegen, dass eine solche Absenkung der Anforderungen bei besonders schwerwiegenden Wahlfehlern letztlich zu einem Heranziehen von bloßen Vermutungen und damit zu einer weitgehenden Aufweichung des Grundsatzes der potentiellen Kausalität führen würde (vgl. Wischmeyer, JuS 2023, S. 286 <288>). Außer Betracht bleibt dabei ferner, dass primäres Ziel des Wahlprüfungsverfahrens die Feststellung der ordnungsgemäßen Zusammensetzung des gewählten Parlaments ist. Dies setzt die Feststellung voraus, dass sich die identifizierten Wahlfehler hierauf ausgewirkt haben können. Ein Wahlfehler kann den in einer Wahl zum Ausdruck gebrachten Volkswillen nur verletzen, wenn sich ohne ihn eine andere für die Mandatsverteilung relevante Mehrheit ergäbe (vgl. BVerfGE 29, 154 <165>). Wie schwer ein Wahlfehler wiegt, ist dafür ohne Belang. Auch ein schwerwiegender Wahlfehler, der sich auf die Zusammensetzung des Parlaments nicht ausgewirkt hat, rechtfertigt den Erfolg der Wahlprüfungsbeschwerde hinsichtlich der Gültigkeit der Wahl nicht“ (Rn. 236 f.).

Richtigerweise hat der Bundestag daher die Mandatsrelevanz für die Erststimmenergebnisse als auf Wahlkreise 76, 77 beschränkt erkannt.

c)   Rechtsfolge

Der Bundestag könnte rechtsfehlerhaft die Wahl teilweise für ungültig erklärt und die Wiederholungswahl in dem näher beschriebenen Umfang angeordnet haben. Aus dem hier gegenständlichen Beschluss geht hervor, es habe mandatsrelevante Wahlfehler in 327 Urnenwahlbezirken gegeben, mit denen weitere 104 Urnenwahlbezirke „verknüpft“ seien. Daher sei die Wahl in insgesamt 431 Wahlbezirken ungültig und in diesem Umfang zu wiederholen (Rn. 23 ff.; BTDrs. 20/4000, S. 19 ff.). Fraglich ist, ob damit die richtige Rechtsfolge gewählt wurde, die auf die sich ereigneten Wahlfehler zu folgen hat.

Grundsätzlich sieht § 44 Abs. 1 BWahlG vor, dass wenn die Wahl im Wahlprüfungsverfahren ganz oder teilweise für ungültig erklärt wird, sie nach Maßgabe der Entscheidung zu wiederholen ist. Die teilweise Ungültigkeit und Wiederholung der Wahl ist somit prinzipiell vorgesehen. Ein genauer Maßstab, nach dem zu einem solchen Ergebnis zu gelangen ist, geht aus dem einfachen Gesetz hingegen nicht hervor. Die Norm bedarf so der Auslegung im Lichte der verfassungsrechtlichen Vorgaben (vgl. Rn. 251 f.).

Auf der einen Seite steht die Legitimation des Bundestages. Diese erlangt er über den Wahlakt. Ist die Wahl in einer Weise fehlerhaft, die sich auf die Zusammensetzung des Parlaments ausgewirkt haben kann, so ist die demokratische Legitimation des Bundestages in diesem Maße beeinträchtigt. Auf der anderen Seite streitet jedoch auch ein aus dem Demokratieprinzip folgender Grundsatz des Bestandschutzes, soweit eine demokratische, fehlerfreie Wahl vorlag. Beides ist miteinander iRe Abwägung in einen Ausgleich zu bringen (Rn. 252).

„Der Eingriff in die Zusammensetzung der gewählten Volksvertretung durch eine wahlprüfungsrechtliche Entscheidung muss also vor dem Interesse an deren Erhalt gerechtfertigt werden (vgl. BVerfGE 121, 266 <311 f.>; 123, 39 <87> m.w.N.). Die Ungültigerklärung der Wahl kommt deshalb nur in Betracht, wenn das Interesse an der Korrektur der mandatsrelevanten Wahlfehler im konkreten Fall nach Art und Ausmaß das Interesse am Bestand des gewählten Parlaments überwiegt (vgl. BVerfGE 121, 266 <311>). […] Dementsprechend unterliegt die Wahlprüfungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts dem Gebot des geringstmöglichen Eingriffs“ (Rn. 252 f.).

Insgesamt kommen so vier Möglichkeiten in Betracht, um auf festgestellte Wahlfehler zu reagieren: Die Ergebnisberichtigung, die teilweise Wahlwiederholung, die vollständige Wahlwiederholung und die bloße Feststellung der Rechtswidrigkeit unter Verweis auf überwiegende Bestandsinteressen (Sauer, Über Wahlfehlerfolgen, 17.11.2022, https://verfassungsblog.de/uber-wahlfehlerfolgen/ (letzter Abruf: 02.01.2024)). Dabei müssen sich Wahlfehler umso stärker ausgewirkt haben, je intensiver der wahlprüfungsrechtliche Eingriff ist. Fällt die Beeinflussung nicht ins Gewicht, kann die Wahl dadurch nicht ungültig werden. Die Ergebnisberichtigung geht der teilweisen, die teilweise der vollständigen Wahlwiederholung vor (Rn. 257).

(1)   Richtige Rechtsfolge dem Grunde nach

Die Rechtsfolge der teilweisen Ungültigkeit und entsprechenden Wiederholung der Wahl gemäß § 44 Abs. 1 BWahlG könnte zu beanstanden sein.

Insofern sind jedoch Wahlfehler festgestellt, die einige, aber im Einzelnen unwägbare Auswirkungen auf das Wahlergebnis haben konnten. Die bloße Feststellung von Wahlfehlern oder die Berichtigung des Ergebnisses scheidet damit aus (vgl. Rn. 260).

Die Wahl ist somit jedenfalls zu wiederholen. Geboten sein könnte jedoch nicht die teilweise, sondern eine vollständige Wahlwiederholung. Dagegen spricht jedoch, dass die Wahl in einem Großteil der Wahlbezirke von den festgestellten Wahlfehlern unbeeinflusst verlief. Nach dem Grundsatz des geringstmöglichen Eingriffs muss sich eine Wiederholung auf die Wahlbezirke, -kreise oder Länder beschränken, in denen sich die Wahlfehler ausgewirkt haben. Etwas anderes könnte nur dann anzunehmen sein, wenn Wahlfehler so gewichtig sind, dass ein Fortbestand der in dieser Weise gewählten Volksvertretung unerträglich erscheint (Rn. 257). Die Wahlfehler betreffen jedenfalls (s.u. C) II. 2. a) (2)) unter 20 % der Urnenwahlbezirke. Das allein vermag die Wahl als Legitimationsgrundlage nicht zu erschüttern. Soweit § 40 Abs. 3 BüWG vorsieht, dass die gesamte Bürgerschaft neu zu wählen ist, wenn die Wiederholung für mehr als ¼ der Wahlberechtigten erforderlich wäre, kann zum einen von dem Bestehen einer solchen einfach-gesetzlichen Regelung noch nicht auf die verfassungsrechtliche Gebotenheit geschlossen werden. Jedenfalls wäre dieses Quorum im vorliegenden Fall nicht erreicht (Rn. 266, 281). Soweit neben den festgestellten Wahlfehlern weitere Vorkommnisse vorgetragen werden, die schon iRd Feststellung von Wahlfehlern nicht verifiziert werden konnten, kann ihnen auch nicht als bloße Vermutungen und rein spekulative Annahmen in diesem Rahmen eine Wahlgültigkeitsrelevanz zukommen (Rn. 279). Schließlich besteht die Funktion des Wahlprüfungsverfahrens auch nicht darin,

„etwaige Mängel bei der Vorbereitung und Durchführung einer Wahl und damit ein etwaiges Organisationsverschulden der zuständigen Behörden zu sanktionieren. Vielmehr ist es darauf gerichtet, die ordnungsgemäße, der Legitimationsfunktion der Wahl genügende Zusammensetzung des Parlaments zu gewährleisten. Dafür ist die Frage der Verantwortlichkeit für Organisationsmängel ohne Belang“ (Rn. 280).

Auch dahingehende Erwägungen können daher nicht zur Annahme einer „überschießenden Wiederholungswahl“ iSd Unerträglichkeit des Fortbestandes führen (Rn. 261; zur „überschießenden Wiederholungswahl“ siehe Sauer, Über Wahlfehlerfolgen, 17.11.2022, https://verfassungsblog.de/uber-wahlfehlerfolgen/ (letzter Abruf: 02.01.2024)).

Die teilweise Ungültigerklärung und entsprechende Wiederholung der Wahl gemäß § 44 Abs. 1 BWahlG ist dem Grunde nach die für die festgestellten Wahlfehler gebotene Rechtsfolge (Rn. 261).

(2)   Maß der Ungültigkeit, Wiederholung

Die Ungültigerklärung des Bundestages könnte jedoch im Maß fehlerhaft sein.

(a)   Ungültigkeit nach Wahlbezirken

Insofern beschränkte sich der Bundestag auf die Ungültigerklärung einzelner Urnenwahlbezirke. Zwar werden auch damit an sich von den Wahlfehlern nicht betroffenen Stimmabgaben ihre Geltung entzogen und infolge von Umzügen kann es hier im Ergebnis dazu kommen, dass Wahlberechtigte von dem Legitimationsakt der Wahl ausgeschlossen oder doppelt beteiligt werden (vgl. § 44 Abs. 2 S. 2 BWahlG, § 83 Abs. 4 S. 2 BWahlO). Mit der Ungültigerklärung auf der Ebene von Wahlbezirken ist jedoch schon die niedrigste gewählt worden. Die in diesem Rahmen auftretenden „Brüche“ sind bei einer Wiederholungswahl unausweichlich und daher hinzunehmen. (vgl. Rn. 255 f.) Eine Erstreckung der Ungültigkeit auf ganze Wahlkreise ist demgegenüber, wie auch die Ungültigkeit der Wahl in Berlin insgesamt, nicht mit dem Gebot des geringstmöglichen Eingriffs zu vereinbaren (s.o.; Rn. 277 ff.).

(b)   Erstreckung auf „verknüpfte“ Bezirke

Noch offen bleibt, wie zu bewerten ist, dass der Bundestag nicht nur diejenigen Wahlbezirke für ungültig erklärte, in denen mandatsrelevante Wahlfehler festgestellt wurden, sondern auch diejenigen,

„die mit den wahlfehlerbehafteten Urnenwahlbezirken als Briefwahlbezirke bzw. über einen gemeinsamen Briefwahlbezirk miteinander „verknüpft“ waren. Er ist davon ausgegangen, dass die Wähler eines Briefwahlbezirks mit den Wählern des dazu gehörenden Urnenwahlbezirks eine Gesamtheit bildeten, sodass bei der Ungültigerklärung der Wahl in einem Urnenwahlbezirk die Wahl auch in dem gemeinsamen Briefwahlbezirk und den weiteren, mit diesem Briefwahlbezirk verbundenen Urnenwahlbezirken zu wiederholen sei. Andernfalls bestünde die Gefahr doppelter Stimmabgabe oder einer Beeinträchtigung der Geheimheit der Wahl (vgl. BTDrs. 20/4000, S. 42). […] Durch die Erstreckung der Wahlwiederholung auf die zugehörigen Briefwahlbezirke und die damit verbundenen Urnenwahlbezirke wird die Gesamtheit der Wählerinnen und Wähler in dem von den mandatsrelevanten Wahlfehlern betroffenen Bereich in die Wahlwiederholung einbezogen. Dies gewährleistet, dass die Wahlfehler in einer den allgemeinen Wahlgrundsätzen aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG entsprechenden Weise korrigiert werden können. Davon könnte bei einer Beschränkung der Wiederholungswahl auf die von Wahlfehlern betroffenen Urnenwahlbezirke nicht ohne Weiteres ausgegangen werden“ (Rn. 273).

Die Erstreckung auf derart verknüpfte Wahlbezirke ist daher nicht zu beanstanden (Rn. 273).

Gleiches muss dann aber auch dort gelten, wo eine Verknüpfung wahlfehlerhaft erfolgt ist, indem 1080 Wahlbriefe aus für ungültig erklärten Wahlbezirken des Wahlkreises 81 in an sich wahlfehlerfreie Briefwahlbezirke desselben Wahlkreises umverteilt wurden. Auch hier besteht die Möglichkeit der doppelten Stimmabgabe infolge der Gültigkeit der Briefwahl im aufnehmenden Bezirk und der Teilnahme an der Wiederholungswahl im ungültigen Bezirk in einer gewichtigen Zahl an Fällen (Rn. 293 ff.).

Hinweis: Im Originalfall ist es auch in anderen Wahlkreisen zur Umverteilung von Wahlbriefen am Wahltag gekommen. Der Senat entschied jedoch, dass die Wahrscheinlichkeit der Umverteilung von Wahlbriefen gerade von ungültigen zu gültigen Bezirken (und umgekehrt) gering sei. Gleiches gelte dann für das Risiko einer Doppel- oder Nichtwahl, sodass das Bestandsinteresse gegenüber dem Korrekturinteresse überwiege (Rn. 301 ff.).

(c)   Wiederholungswahl als Zweistimmenwahl

Nicht überall, wo Wahlfehler mandatsrelevant für das Zweitstimmenergebnis wurden, ist auch eine Mandatsrelevanz hinsichtlich des Erststimmenergebnisses festzustellen (s.u. C) II. 2. b)). Denkbar ist, dass der Bundestag gegen das Gebot des geringstmöglichen Eingriffs verstoßen hat, indem er anordnete, die Wahl durchgängig als Zweistimmenwahl zu wiederholen. Dagegen spricht jedoch, dass § 44 Abs. 2 BWahlG ausdrücklich vorsieht, dass die Wiederholungswahl nach denselben Vorschriften wie die Hauptwahl stattfindet. Dahingehend hat sich

„der Gesetzgeber für eine mit der Personenwahl verbundene[n] und daraus folgend für eine Zweistimmenwahl entschieden […] (vgl. u.a. § 1 Abs. 2 Satz 2, § 6 und § 30 Abs. 2 BWahlG). Der in § 4 Abs. 1 Satz 2 BWahlG vorgesehenen vorrangigen Berücksichtigung der erfolgreichen Wahlkreisbewerber und dem Verfahren der Zweitstimmendeckung gemäß § 6 Abs. 1 Satz 4 BWahlG könnte bei einer Trennung von erst- und Zweitstimmenwahl nicht entsprochen werden“ (Rn. 286).

Die Anordnung einer durchgängigen Zweistimmenwahl ist somit rechtmäßig (Rn. 282; zu dieser Frage ausführlich Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 44 Rn. 2).

(d)   Zwischenergebnis; Liste der ungültigen Wahlbezirke

Damit ist dem Ansatz des Bundestages zur Bestimmung des Ausmaßes der teilweisen Ungültigkeit der Wahl zu folgen. Zu beachten ist jedoch, dass Wahlfehler in 15 Urnenwahlbezirken übersehen und in 3 Urnenwahlbezirken fälschlicherweise festgestellt wurden. Die entsprechenden Wahlbezirke und die, die mit ihnen verknüpft sind, sind daher ebenfalls für ungültig zu erklären bzw. ihre Ungültigerklärung aufzuheben (Rn. 274 ff.). Ebenfalls ungültig sind diejenigen Briefwahlbezirke (und mit ihnen verknüpfte Urnenwahlbezirke), die umverteilte Wahlbriefe aus Wahlbezirken aufnahmen, deren Wahl für ungültig erklärt wurde (Rn. 300).

3.   Zwischenergebnis

Der Beschluss ist teilweise begründet (Rn. 101).

II.   Ergebnis

Die Wahlprüfungsbeschwerde hat teilweise Aussicht auf Erfolg (vgl. Rn. 101).

D.   Ausblick

Mag der dem Bundesverfassungsgericht gestellte Sachverhalt zu komplex und umfangreich sein, um ihn originalgetreu als (Examens-)Klausur zu stellen, ist die Examensrelevanz des Wahlrechts aktuell wohl kaum zu unterschätzen (siehe auch BVerfG, Urt. v. 29.11.2023 – 2 BvF 1/21, BeckRS 2023, 33683; BVerfG, Beschl. v. 25.01.2023 – 2 BvR 2189/22, NJW 2023, 2025; VerfGH Berlin, Urt. v. 16.11.2022 – 154/21, NVwZ 2023, 70; BGBl. I 2023 Nr. 147 v. 13.06.2023). Vor diesem Hintergrund kann es lohnen, in der Vorbereitung auf die Klausuren oder die mündliche Prüfung ein besonderes Augenmerk auf die Wahlgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG und das Demokratieprinzip zu legen und auch gewisse Grundkenntnisse zur Wahlprüfungsbeschwerde mitzubringen.

Eine juristisch anspruchsvolle Problematik ist zwischen dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin zu den Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen (VerfGH Berlin, Urt. v. 16.11.2022 – 154/21, NVwZ 2023, 70) und der hier besprochenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit der Frage nach einer überschießenden Wiederholungswahl aufgetan, die schnell zu solchen des Grundverständnisses von Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 38 Abs. 1 GG führt. Kann man noch davon sprechen, das Volk habe gewählt, wenn verschiedene Teile der Wahlberechtigten zu ganz verschiedenen Zeiten und beeinflusst von unterschiedlichen (politischen) Gegebenheiten ihre Stimmen abgegeben haben oder muss nicht dennoch anerkannt werden, dass zumindest ein Teil der WählerInnen wahlfehlerunbeeinflusst eine Entscheidung getroffen hat (siehe dazu Sauer, Über Wahlfehlerfolgen, 17.11.2022, https://verfassungsblog.de/uber-wahlfehlerfolgen/ (letzter Abruf: 02.01.2024))? Auch das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage nicht abschließend beantwortet. Mit Blick auf die vollständige Wiederholung der Wahl des Abgeordnetenhauses und der Bezirksverordnetenversammlungen hat es vielmehr darauf verwiesen, dass schon die vom Verfassungsgerichtshof festgestellte Mandatsrelevanz im dortigen Fall viel weiter reiche und so keine Vergleichbarkeit der Sachverhalte bestehe (Rn. 268 f.).

09.01.2024/2 Kommentare/von Gastautor
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2024-01-09 10:19:092024-02-09 11:09:17BVerfG zur teilweisen Ungültigerklärung und Wiederholung der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag in Berlin
Simon Mantsch

VG Berlin über gesetzliches Staatsmonopol zu Gunsten der Errichtung und des Betriebes von Krematorien

Aktuelles, Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht

Darf es in einem Bundesland ein gesetzliches Staatsmonopol geben, das die Errichtung und den Betrieb von Krematorien durch Private de facto verbietet oder verstößt dies vielmehr gegen die die durch Art. 12 GG gewährleistete Berufsfreiheit? Mit dieser examensrelevanten Fragestellung hatte sich das VG Berlin jüngst zu befassen (Urt. v. 12.9.2023 – 21 K 227/20).

I. Der Sachverhalt (leicht abgewandelt)

X und die vermögensverwaltende GmbH P betrieben in der Rechtsform einer KG mehrere Krematorien in verschiedenen Bundesländern. Sie wollen ihr Geschäft nunmehr auch in Berlin ausüben. Zu diesem Zweck beantragt die ordnungsgemäß vertretene KG die Erteilung einer Baugenehmigung. Diese wurde jedoch mit dem Argument nicht erteilt, dass der nach dem Berliner Bestattungsgesetz (BestattG BE) erforderliche „Antrag auf Übertragung der Errichtung und des Betriebs einer Feuerbestattungsanlage“ nicht gestellt worden sei und angesichts des gegenwärtig fehlenden Bedarfs an Krematorien in Berlin wohl auch nicht positiv beschieden werden könne. Die KG entschied sich daraufhin gleichwohl, einen entsprechenden Antrag zu stellen. Er wurde jedoch mit Verweis auf das Vorhandensein der landeseigenen Krematorien und des dadurch fehlenden Bedarfs abgelehnt.

Verärgert über die Vorgänge entschließt sich X zum Ausscheiden aus der Gesellschaft. Da die KG mit nur einem Gesellschafter nicht weiter bestehen kann, kommt es zur liquidationslosen Vollbeendigung. Die KG erlischt. Das Gesellschaftsvermögen ist jedoch im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auf den zuletzt verbliebenen Gesellschafter, die vermögensverwaltende GmbH P, übergegangen. Sie verfolgt das Geschäft fort und möchte gerichtlich festgestellt wissen, dass es einer Übertragung nach dem Berliner Bestattungsgesetz überhaupt nicht bedarf, da § 18 BestattG BE wohl kaum mit Art. 12 GG vereinbart werden könne. Schließlich werde Privaten die Einrichtung und der Betrieb von Krematorien de facto untersagt. Nur im Wege der Beleihung könnte ihr nach § 18 Abs. 4 BestattG BE die Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gestattet werden, wobei es eine solche im Land Berlin kein einziges Mal gebe. Selbst aus den Gesetzgebungsmaterialien gehe – was zutrifft – hervor, dass man dem Grunde nach von einem Staatsmonopol ausgehe und nur in seltenen Fällen eine Übertragung der Aufgabe auf Private für legitim halte. Nur hilfsweise verlangt P daher, dass der von der KG gestellte und negativ beschiedene Antrag, der nach der Liquidation ja sicherlich als ihr eigener Antrag gelte, neu beschieden wird. Schließlich würde sie ja auch – was der Wahrheit entspricht – alle Vorgaben des BestattG BE beachten. Wenn man ihr gleichwohl die Einrichtung und den Betrieb des Krematoriums verbiete, so wäre das doch offensichtlich ermessensfehlerhaft. Das bloße Argument, dass die landeseigenen Krematorien eine ausreichende Kapazität absichern, könne ja wohl kaum tragfähig sein.

Die Stadt Berlin tritt dem entgegen. Zum einen fehle es der klagenden P am Rechtsschutzbedürfnis. Sie selbst habe schließlich nie einen Antrag gestellt. Der von der KG gestellte Antrag könne nicht einfach auf P „umgemünzt“ werden, da bei der Entscheidung über den Antrag auch personenbezogene Gründe immer eine Rolle spielen und beim Wechsel der Rechtspersönlichkeit daher immer eine neue Beurteilung seitens der Behörde von Nöten sei, die aber wiederum einen neuen Antrag voraussetzt. Darüber hinaus sei der Betrieb von Krematorien eine landeseigene Aufgabe, die nicht „einfach so“ einem Privaten übertragen werden könne. Es gehe schließlich auch um den Seuchenschutz und den würdevollen Umgang mit Toten, der nur bei staatlichem Betrieb hinreichend gesichert ist. Vor allem aber sei es beachtlich, dass P überhaupt nicht vorhabe, das Krematorium selbst zu betreiben. Sie sei schließlich bloß vermögensverwaltend und wolle – was der Wahrheit entspricht – für den Betrieb des Krematoriums eine eigene Gesellschaft einsetzen. Es kann daher nur richtig sein, dass P die Einrichtung und der Betrieb des Krematoriums untersagt wurde.

Wie wird das Gericht über Haupt- und Hilfsantrag entscheiden?

§ 18 Berliner Bestattungsgesetz (BestattG BE) lautet wie folgt:

§ 18

Bestattungsort

(1) Erdbestattungen dürfen nur auf öffentlichen (landeseigenen und nichtlandeseigenen) Friedhöfen vorgenommen werden. Die zuständige Behörde kann Ausnahmen zulassen.

(2) Abweichend von der Pflicht nach § 10 Satz 1, in einem Sarg zu bestatten, können Leichen aus religiösen Gründen auf vom Friedhofsträger bestimmten Grabfeldern in einem Leichentuch ohne Sarg erdbestattet werden. Die Leiche ist auf dem Friedhof bis zur Grabstätte in einem geeigneten Sarg zu transportieren.

(3) Bei Feuerbestattungen dürfen Einäscherungen in den Krematorien des Landes Berlin vorgenommen werden. Für die Beisetzung von Aschen Verstorbener gilt Absatz 1 entsprechend.

(4) Die für die Errichtung und den Betrieb von Krematorien zuständige Senatsverwaltung kann mit Zustimmung der Senatsverwaltung für Finanzen und im Einvernehmen mit der Senatsverwaltung für Inneres die Errichtung und den Betrieb einzelner Feuerbestattungsanlagen widerruflich einem privaten Rechtsträger übertragen.

II. Die Entscheidung (leicht abgewandelt)

1. Hauptantrag der Klage

Der Hauptantrag der Klage, der auf die Feststellung gerichtet ist, dass es einer Übertragung nach dem Berliner Bestattungsgesetz überhaupt nicht bedarf, wird Erfolg haben, wenn er zulässig und begründet ist.

a) Zulässigkeit

An der Zulässigkeit des Hauptantrags bestehen keine Zweifel. Insbesondere kann P nicht die Subsidiarität der Feststellungsklage nach § 43 Abs. 2 S. 1 VwGO entgegengehalten werden. Für die Frage der Notwendigkeit einer Übertragung gibt es – genau wie für die Frage der Genehmigungsbedürftigkeit – keine andere statthafte Klageart.

b) Begründetheit

Begründet wäre die Klage darüber hinaus, wenn es zur Errichtung und zum Betrieb des Krematoriums keiner Übertragung bedürfte. Dies wäre insbesondere der Fall, wenn § 18 Abs. 3, 4 BestattG BE mit Art. 12 GG nicht in Einklang zu bringen wäre, weil es ein nicht zu rechtfertigendes Staatsmonopol legitimieren würde.

aa) Der Wortlaut der Norm und auch die Gesetzgebungsmaterialen hierzu sprechen dafür, dass man von der Einführung der Vorschrift und ihrer späteren Änderung von einer Etablierung bzw. Aufrechterhaltung eines Staatsmonopols ausging.

bb) Fraglich erscheint jedoch, ob ein derartiges Staatsmonopol mit dem (einheitlichen) Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG zu vereinbaren ist oder ob P dadurch vielmehr in ihren Rechten verletzt wird. Das Grundrecht schützt dabei sowohl die Freiheit der Berufswahl, die Freiheit der Berufsausübung, als auch die freie Wahl des Arbeitsplatzes. Jedenfalls kann sich P als inländische juristische Person des Privatrechts auf Art. 12 Abs. 1 GG berufen. Schließlich ist die Berufsfreiheit gem. Art. 19 Abs. 3 GG ihrem Wesen nach auch auf juristische Personen des Privatrechts anwendbar. Die Statuierung eines Staatsmonopols bedingt zudem auch einen Eingriff – es handelt sich gar um die wohl schärfste Form der Beschränkung. P wird, wie jedem anderen Privaten auch, der Zugang zum Beruf des Bestatters, zu dem eben auch die Einäscherung gehört, faktischunmöglich gemacht. Es handelt sich mithin um eine objektive Berufswahlregelung, die bei Zugrundelegung der im Apotheken-Urteil vom BVerfG entwickelten Drei-Stufen-Theorie nur bei schwersten Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut zu legitimieren wäre. Dem Gesetzgeber kommt bei der zu ergreifenden Maßnahme zwar eine Einschätzungsprärogative zugute, die ihn jedoch nicht dazu legitimiert, seine Entscheidungen auf offensichtlich fehlerbehafteten Grundlagen aufzubauen. Genauso wenig kann er eine Maßnahme allgemeingültig damit begründen, dass Gefahren bestehen. Vielmehr müssen die kausalen Zusammenhänge, die die Maßnahme überhaupt erfordern, substantiiert dargelegt werden.

Der Landesgesetzgeber verfolgt mit § 18 Abs. 3, 4 BestattG BE ein legitimes und gewichtiges Ziel. In Rede steht schließlich der Schutz der Würde von Verstorbenen. Diese dürfen aufgrund eines über den Tod hinausgehendem postmortalem Persönlichkeitsschutz keinem menschenunwürdigen Umgang preisgegeben werden dürfen. Auch die Einhaltung der Vorschriften über die Feuerbestattung in § 20 BestattG BE ist ein legitimes Ziel, um den Betrieb von Krematorien zu regulieren. Schließlich soll die dort angeordnete gerichtliche Leichenschau vor der Einäscherung zur Verbrechensaufklärung beitragen. Es soll insoweit abgesichert werden, dass Leichen nicht ohne weiteres eingeäschert und alle auf eine Straftat hindeutenden Indizien dadurch irreversibel vernichtet werden. Nicht angezeigt ist hingegen, wieso diese Ziele nur dadurch erreicht werden können, dass Krematorien staatlich betrieben werden. Es gibt weder Anzeichen, noch einen irgendwie gearteten Erkenntnissatz, dass Private eine Feuerbestattung nicht ebenso würdevoll, als auch den bestattungsrechtlichen Vorschriften entsprechend, durchführen könnten. So erklärt sich auch, dass sowohl die Errichtung, als auch der Betrieb von Krematorien durch Private in anderen Bundesländern beanstandungsfrei abläuft. Ebenso wenig ist angezeigt, dass die Versorgung des Bundeslandes Berlins mit Krematoriumsplätzen nicht mehr hinreichend gesichert ist, wenn Krematorien auch privat betrieben werden. Folglich fehlen auch jedwede Anzeichen für eine irgendwie geartete Seuchengefahr. Ein Staatsmonopol zu Gunsten der Errichtung und des Betriebes von Krematorien ist mit dem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG somit nicht zu vereinbaren.

cc) Aus diesem Befund allein folgt jedoch noch nicht die Verfassungswidrigkeit von § 18 Abs. 3, 4 BestattG BE. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Norm einer verfassungskonformen Auslegung nicht zugänglich wäre. Sowohl dem Wortlaut des § 18 Abs. 3, 4 BestattG BE, als auch dem hierzu ergangenen Gesetzgebungsmaterial fehlt es aber an der hinreichenden Eindeutigkeit dahingehend, dass die private Errichtung von Krematorien und deren Betrieb „um jeden Preis“ zu vermeiden sind. Die Norm kann infolgedessen verfassungskonform dahingehend ausgelegt werden, dass es sich – wie etwa auch bei der Baugenehmigung – nur um ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt handelt. Private bedürfen insoweit nur einer bestattungsrechtlichen Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb eines Krematoriums. Eine derartige Interpretation mag zwar auf den ersten Blick dazu führen, dass die Voraussetzungen, bei deren Vorliegen die Genehmigung zu erteilen sind, nicht ersichtlich sind und die Vorschrift daher zu unbestimmt ist. Gleichwohl können der Vorschrift im Systemkontext mit den anderen Vorschriften des BestattG BE die notwenigen Konturen abgenommen werden. Die Genehmigung ist demnach dann zu erteilen, wenn der potentielle private Errichter bzw. Betreiber eines Krematoriums die bestattungsrechtlichen Vorgaben einhält.

dd) Die insoweit vorzunehmende verfassungskonforme Auslegung bedingt jedoch, dass es nach wie vor einer Übertragung bzw. Genehmigung zur Errichtung bzw. zum Betrieb eines Krematoriums bedarf. Der Feststellungsantrag ist somit unbegründet.

c) Ergebnis

Der Hauptantrag der Klage ist somit zulässig, aber unbegründet. Es bestehen keine Erfolgsaussichten.

2) Hilfsantrag der Klage

Der Hilfsantrag der Klage auf Neubescheidung wird Erfolg haben, wenn er zulässig und begründet ist.

a) Zulässigkeit

aa) Statthaft für das Begehren (§ 88 VwGO) auf Neubescheidung ist die Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO. § 18 Abs. 3, 4 BestattG BE verleihen nach der vorstehend geschilderten verfassungskonformen Auslegung auch ein subjektives Recht, das P jedenfalls möglicherweise zustehen könnte. Sie ist somit auch nach § 42 Abs. 2 VwGO klagebefugt. Die Durchführung eines Vorverfahrens war nach § 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 Alt. 2 VwGO entbehrlich.

bb) Dem Rechtsschutzbedürfnis könnte jedoch entgegenstehen, dass P nie selbst einen Antrag auf Übertragung der Errichtung und des Betriebs eines Krematoriums gestellt hat. Womöglich ist P jedoch in die Rechte und Pflichten des von der KG eingeleiteten Verwaltungsverfahrens eingetreten. Die KG hat schließlich einen Antrag gestellt, der ablehnend beschieden wurde. Ein derartiges Eintreten könnte jedoch nur dann angenommen werden, wenn es sich bei der KG und P um eine identische Rechtspersönlichkeit handelt oder aber P öffentlich-rechtliche Rechtsnachfolgerin der KG ist.

Das Vorliegen einer identischen Rechtspersönlichkeit gilt es jedoch unterdessen abzulehnen. Es hat eben nicht nur ein identitätswahrender Formwechsel der Gesellschaft stattgefunden. Vielmehr wurde die ehemals bestehende KG durch den Austritt des vorletzten Gesellschafters vollständig aufgelöst. Das Gesellschaftsvermögen ist derweil auf P als einzig verbliebene Gesellschafterin übergegangen. Es handelt sich folglich um zwei verschiedene Rechtspersönlichkeiten.

Mit Blick auf eine etwaige öffentlich-rechtliche Rechtsnachfolge muss differenziert werden. Es gibt Entscheidungen über Genehmigungen, die allein sachbezogen erteilt werden und daher auch ohne weiteres nachfolgefähig sind. Anders ist dies hingegen bei Entscheidungen über Genehmigungen, deren Erteilung nicht nur auf Sachgründen beruht, sondern bei denen auch personenbezogene Gründe eine Rolle spielen. Zu jenen Gründen zählen etwa Anforderungen an die finanzielle Leistungsfähigkeit, die Zuverlässigkeit oder die Sachkunde. Derartige Entscheidungen über Genehmigungen können nicht ohne weiteres übergehen. Im Falle der Übertragung nach § 18 Abs. 4 BestattG BE stehen jedoch auch solche Faktoren in Rede: Es geht eben auch darum, ob die antragstellende Person die persönliche Eignung besitzt, einen würdevollen Umgang mit sterblichen Überresten und ein gesundheitlich unbedenkliches Vorgehen bei der Verbrennung zu gewährleisten. Auch die Unumkehrbarkeit des vorzunehmenden Prozesses gebietet ist, die Übertragbarkeit der Entscheidung auf einen anderen Rechtsträger nicht ohne weiteres hinzunehmen. Vielmehr muss der ganz konkrete Rechtsträger in den Blick genommen werden. Folglich ist eine öffentlich-rechtliche Rechtsnachfolge nicht anzunehmen.

Gleichwohl kann das Resultat aus vorstehenden Erkenntnissen nicht automatisch die Annahme sein, dass ein Rechtsschutzbedürfnis von P nicht besteht. Der Antrag wurde für den Fall der KG beschieden. Es fehlen Anhaltspunkte dafür, dass ein neuer Antrag der P eine andere behördliche Entscheidung nach sich zieht. Dies verleitet zu der Annahme, dass es sich um eine bloße Förmelei handeln würde, wollte man der P ihr Rechtsschutzbedürfnis dadurch absprechen wollen, dass sie keinen Antrag auf Übertragung gestellt hat, deren Ergebnis bereits zum jetzigen Zeitpunkt klar vorgezeichnet ist. Das Rechtsschutzbedürfnis muss in diesem Fall daher grundsätzlich angenommen werden.

Nichts desto trotz kann kein vollumfängliches Rechtsschutzbedürfnis der P bejaht werden. P beabsichtigt schließlich nur die Errichtung des Krematoriums, den Betrieb desselbigen beabsichtigt sie hingegen auszulagern. Es ist insoweit kein eigenes Interesse der P dahingehend dargetan, dass sie selbst durch das Ausbleiben einer positiven Bescheidung über den Betrieb des Krematoriums betroffen wäre. Sie kann folglich diesbezüglich auch kein Rechtsschutzinteresse haben. Das notwendige Rechtsschutzbedürfnis besteht folglich in dieser Hinsicht nicht.

cc) Die Klageantrag ist folglich nur insoweit zulässig, als er die Verpflichtung zu einer ermessensfehlerfreien Bescheidung des auf Übertragung der Errichtung eines Krematoriums gerichtete Begehren der P zum Gegenstand hat.

b) Begründetheit

Begründet wäre der Hilfsantrag überdies, wenn P tatsächlich ein Anspruch auf Übertragung der Errichtung eines Krematoriums zustünde. Wie vorstehend bereits erörtert, normiert § 18 Abs. 3, 4 BestattG BE keinen eigenen originären Voraussetzungen, bei deren Vorliegen ein Anspruch auf Übertragung besteht. Vielmehr kommt es darauf an, ob auf der Rechtsfolgenseite das in § 18 Abs. 4 BestattG BE vorgesehene Ermessen richtig ausgeübt wurde. Von der Beklagten werden Anträge auf Übertragung mit dem Argument abgelehnt, dass durch zwei landeseigene Krematorien ausreichende Kapazitäten bestünden. Darüber hinaus sei der Betrieb von Krematorien eine landeseigene Aufgabe, weil der Seuchenschutz und der würdevolle Umgang mit Toten durch einen Privaten nicht hinreichend gesichert wäre. Diese Erwägungen können eine ablehnende Entscheidung jedoch nicht begründen. Soweit die Beklagte argumentiert, dass es sich ausschließlich um eine landeseigene Aufgabe handelt, wird dies schon der notwendigen verfassungskonformen Auslegung der Vorschrift nicht gerecht. Aber auch für eine Bedürfnisprüfung lässt die Vorschrift keinen Raum. Es wurde bereits an anderer Stelle erörtert, dass eine Übertragung zu erteilen ist, wenn der private Errichter des Krematoriums die bestattungsrechtlichen Vorgaben einhält. Die Beklagte hätte also zu beurteilen, ob etwa die Räumlichkeiten geeignet sind, den Anforderungen des Bestattungsgesetzes gerecht zu werden und ob der Würde des Verstorbenen hinreichend Rechnung getragen wird. Das Vorhandensein landeseigener Krematorien vermag jedoch nicht begründen zu können, wieso die P den bestattungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht werden sollte. Vielmehr werden diese, wie von P zutreffend geschildert, vollumfänglich gewahrt. Die Beklagte hat insoweit zweck- und sachfremde Erwägungen angestellt, die einen Ermessensfehlgebrauch nach§ 114 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 VwGO begründen.

c) Ergebnis

Der Hilfsantrag ist, soweit er zulässig ist, auch begründet. P hat nach § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Bescheidung ihres auf Übertragung der Errichtung gerichteten Begehrens.

III. Einordnung der Entscheidung

Die Entscheidung des VG Berlin bringt viele Probleme mit, die sich ideal in einer Examensklausur verarbeiten lassen. Die Entscheidung erscheint in Teilen aber durchaus brisanter, als bisher geschildert. Das VG Berlin hat das Verfahren nämlich ursprünglich ausgesetzt und dem Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin vorgelegt, da es von der Verfassungswidrigkeit des § 18 Abs. 3, 4 BestattG BE überzeugt war. Dieses hat die Vorlage aber als unzulässig abgewiesen (Beschl. v. 19.4.2023 – VerfGH 69/2). Danach kam die Kehrtwende. Entgegen seiner ursprünglichen Auffassung ist das VG Berlin nun nichtmehr von der Verfassungswidrigkeit der Norm, sondern von ihrer Zugänglichkeit zu einer verfassungskonformen Auslegung überzeugt. Die Argumentation, mit der es eine verfassungskonforme Auslegung ermöglicht, ist dabei aber durchaus angreifbar. Eine solche ist schließlich nur dann möglich, wenn nicht der klar erkennbare Wille des Gesetzgebers oder die gesetzliche Entstehungsgeschichte dem entgegensteht (BVerfG, Beschl. v. 30.3.1993 – 1 BvR 1045/89, NJW 1993, 2861, 2863; BVerfG, Beschl. v. 16.12.2014 – 1 BvR 2142/11, NVwZ 2015, 510 Rn. 86). Das VG Berlin führt aber in Rn. 21 seines Urteils selbst aus, dass sich der „Entstehungsgeschichte […] deutlich der Wille des Gesetzgebers entnehmen [lässt], Feuerbestattungen als Verwaltungsmonopol beizubehalten“. Wenn das Gericht bei diesem Befund aber gleichwohl eine verfassungskonforme Auslegung für möglich erachtet, die sich dann zwangsläufig über diesen „deutlichen“ Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt, erscheint dies durchaus beachtlich. Hier könnte man überzeugend sicherlich auch anderes argumentieren.

Die Entscheidung sollte jedenfalls Anlass geben, sich nochmals mit Fragen der verfassungskonformen Auslegung, der Klagehäufung, der Ermessensfehlerlehre und vor allem auch mit Art. 12 GG zu befassen.

06.10.2023/1 Kommentar/von Simon Mantsch
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Simon Mantsch https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Simon Mantsch2023-10-06 10:36:002023-10-06 10:36:01VG Berlin über gesetzliches Staatsmonopol zu Gunsten der Errichtung und des Betriebes von Krematorien
Miriam Hörnchen

Das Eilverfahren zum „Heizungsgesetz“ vor dem Bundesverfassungsgericht

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Eines der besonders kontrovers diskutierten Gesetzesvorhaben in der Politik im Frühjahr/Sommer 2023 war die Änderung des Gebäudeenergiegesetzes. Nun beschäftigte sich auch das BVerfG mit dem Gesetzesvorhaben (BVerfG, Beschluss vom 05. Juli 2023 – 2 BvE 4/23). Dabei war Gegenstand der Rechtssache jedoch nicht das Gesetz selbst, sondern die Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens und insbesondere die Beteiligung der Abgeordneten. Der Fall bietet eine Vielzahl von Prüfungsfragen im Bereich des Staatsorganisationsrechts an und eignet sich mithin – insbesondere wegen seiner Aktualität – für Examensklausuren und das mündliche Examen.

I. Sachverhalt (verkürzt)

In dem Bundestag wurde am 17. Mai 2023 von der Bundesregierung ein Gesetzesentwurf zur Änderung des Gebäudeenergiegesetzes eingebracht. Am 13. Juni 2023 veröffentlichten die Koalitionsfraktionen ein zweiseitiges Papier mit dem Titel „Leitplanken […] zur weiteren Beratung des Gebäudeenergiegesetzes“. Dieses sah eine grundlegende Änderung des zuvor eingebrachten Gesetzesentwurfes vor und wurde von der SPD-Bundestagsfraktion selbst als „Paradigmenwechsel“ bezeichnet. Obwohl durch die „Leitplanken“ deutlich wurde, dass der ursprüngliche Gesetzesentwurf keinen Bestand haben werde, wurde eine erste Lesung über den Gesetzesentwurf am 15. Juni vorgenommen und es erfolgte am 21. Juni 2023 eine Expertenanhörung im Ausschuss. Die Abgeordneten aus der Opposition und der Ausschuss kritisierten, dass sie über die Leitplanken hinaus keine Informationen über die beabsichtigten Änderungen des Gesetzesentwurfes erhielten und somit über einen veralteten Gesetzesentwurf diskutierten.

Am Freitag, den 30. Juni 2023 übersandte der Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz eine Formulierungshilfe für einen Änderungsantrag der Koalitionsfraktion zum Gebäudeenergieänderungsgesetz. Dessen Inhalt umfasste 110 Seiten, wobei 94 Seiten mit einer synoptischen Darstellung des Gesetzesentwurfes und die restlichen 16 Seiten mit einer Begründung versehen waren. Es wurde für den 07. Juli 2023 die zweite und dritte Lesung mit anschließender Schlussabstimmung terminiert.

Der Abgeordnete (im Folgenden: A) fühlt sich in seinem Recht auf gleichberechtigte Teilhabe an der parlamentarischen Willensbildung aus Art. 38 I 2 GG verletzt. Er rügte, dass die Abgeordneten keine ausreichende Kenntnis über die geplanten Regelungen der angekündigten Änderungsanträge erhalten haben und sich die Informationen nur auf unklare und widersprechende Äußerungen aus dem zweiseitigen Leitplankenpapier beschränkten. Zudem ließen die kurzen Zeitabstände zwischen der Einbringung des tatsächlich gewollten Gesetzesinhalts, Ausschussberatungen und dem avisierten Beschlusstermin eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem stark umstrittenen Gesetzesinhalt nicht zu, da zwischen dem Erhalt der Änderungsanträge und dem Beschlusstermin nur 8 Tage liegen sollten.

Der A reichte am 27. Juni 2023 einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ein, welcher darauf abzielte, dass dem Deutschen Bundestag (Antragsgegner) vorläufig untersagt wird, die zweite und dritte Lesung des vorgenannten Gesetzesentwurfes auf die Tagesordnung zu setzten, solange nicht allen Abgeordneten die wesentlichen Textpassagen des maßgeblichen Gesetzesentwurfes mindestens 14 Tage vorher zugegangen sind. Das Ziel der Hauptsache im Organstreitverfahren richtet sich auf die Feststellung der Verletzung der Abgeordnetenrechte aus Art. 38 I 2 GG sowie in Verbindung mit Art. 42 I 1 GG und Art. 76 ff. GG.

Hinweis: Aus dem Grund, dass sich das BVerfG in der einstweiligen Anordnung nur mit dem Art. 38 I 2 GG beschäftigt hat und die Prüfung der Verletzung aus 42 I 1 GG und Art. 76 ff. GG dem Hauptsachverfahren vorbehalten hat, wird im Folgenden auch nur auf die Verletzung des Art. 38 I 2 GG eingegangen.

II. Entscheidungsgründe

Hinweis: Die erste zu überwindende Hürde in einer Klausur wird die Wahl der richtigen Verfahrensart sein. In der Regel wird diese nicht vorgegeben, sondern im Sachverhalt finden sich Hinweise, die auf eine bestimmte Verfahrensart hindeuten. In den Fällen, in denen ein Abgeordneter sich in seinen Rechten als Abgeordneter verletzt fühlt, ist an das Organstreitverfahren gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG zu denken. Zu beachten ist zudem der zeitliche Aspekt. Vorliegend möchte der A mit seinem Antrag erreichen, dass die zweite und dritte Lesung, die innerhalb weniger Tage stattfinden soll, verhindert wird. Sein Begehren ist mithin darauf gerichtet schnellstmöglich Rechtsschutz zu erhalten. In diesen Fällen kommt die einstweilige Anordnung gem. § 32 BVerfGG in Betracht.

Der Antrag auf einstweilige Anordnung gem. § 32 BVerfGG hat Aussicht auf Erfolg, wenn er zulässig und begründet ist.

1. Zulässigkeit

Der Antrag müsste zunächst zulässig sein.

a) Statthaftigkeit

Die einstweilige Anordnung ist in allen Verfahrensarten vor dem BVerfG statthaft.

b) Zulässigkeit des Hauptsachverfahrens

Voraussetzung für die Zulässigkeit des Antrags ist, dass das Hauptsachverfahren nicht von vornherein unzulässig ist. Das Hauptsachverfahren kann im Wege eines Organstreitverfahrens verfolgt werden, wobei die Zulässigkeit sich nach Art. 93 I Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG richtet.

Hinweis: Dieser Prüfungspunkt kann auch erst in der Begründetheit der einstweiligen Anordnung geprüft werden (so prüft das BVerfG dies). Ich habe damals im Repetitorium jedoch die Alternative empfohlen bekommen, die Zulässigkeit des Hauptsachverfahrens bereits in der Zulässigkeit der einstweiligen Anordnung zu prüfen, da dort schon einige Aspekte geprüft werden, die für die weitere Prüfung relevant sind. Zum Beispiel dient die Klärung des Antragsgegenstandes der späteren Prüfung des Verbotes der Vorwegnahme der Hauptsache. Zudem prüft das BVerfG diesen Prüfungspunkt nur kurz an, da es im einstweiligen Rechtsschutz nur darauf ankommt, dass das Hauptsachverfahren „nicht von vornherein offensichtlich unzulässig ist“. Im Folgenden werden alle Prüfungspunkte der Zulässigkeit des Organstreitverfahrens aus Übungsgründen angesprochen.

aa) Zuständigkeit des BVerfG

Über Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch dieses Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind entscheidet das BVerfG gem. Art. 93 I Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG.

Der Antragsteller sieht sich durch die Gestaltung des Gesetzgebungsverfahrens durch die Koalitionspartner in seinem Recht auf gleichberechtigte Teilhabe an der parlamentarischen Willensbildung aus Art. 38 I 2 GG verletzt, sodass der Streitgegenstand sich auf verfassungsrechtliche Rechte bezieht und mithin das BVerfG zuständig ist.

bb) Beteiligtenfähigkeit

Antragssteller und Antragsgegner müssten in der Hauptsache (im Organstreitverfahren) beteiligtenfähig sein. Die Beteiligtenfähigkeit richtet sich vorrangig nach § 63 BVerfGG sowie ergänzend nach Art.93 I Nr. 1 GG.

(1) Antragsgegner

Der Bundestag ist in § 63 Hs. 1 BVerfGG ausdrücklich als Beteiligter genannt.

(2) Antragssteller

Fraglich ist, ob A als einzelner Abgeordneter beteiligtenfähig ist. In Betracht könnte kommen, dass ein Abgeordneter nach § 63 Hs. 2 BVerfGG „Teil der Organe des Bundestages“ ist. Organteile sind die nach der Geschäftsordnung ständig vorhandenen Gliederungen des Bundestages, wie z.B. Fraktionen. Ein Abgeordneter ist jedoch lediglich Mitglied des Bundestages und stellt keine solche Untergliederung dar. Somit scheidet eine Beteiligtenfähigkeit nach § 63 Hs. 2 BVerfGG aus.

Der Abgeordneter ist jedoch durch das GG gem. Art. 38 I 2 GG mit eigenen Rechten ausgestattet, sodass eine Beteiligtenfähigkeit über Art. 93 I Nr. 1 Alt. 2 GG hergestellt werden kann. Der Rückgriff auf Art. 93 I GG ist auch zulässig, da Art. 93 I GG als höherrangiges Recht Geltungsvorrang genießt.

Hinweis: Das BVerfG hat die Beteiligtenfähigkeit nicht gesondert geprüft. Die Konstellation, dass ein einzelner Abgeordneter ein Organstreitverfahren führt und sich somit das Problem des Verhältnisses zwischen § 63 BVerfGG und Art. 93 GG stellt, ist jedoch weiterhin ein Examensklassiker, sodass dieses Problem zumindest kurz angesprochen werden sollte.

cc) Tauglicher Antragsgegenstand

Es müsste ein tauglicher Antragsgegenstand, welcher gem. § 64 I BVerfGG in jeder rechtserheblichen Maßnahme oder rechtserheblichen Unterlassung des Antragsgegners bestehen kann, vorliegen.

Der Antragsgegenstand bezieht sich vorliegend auf die Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens einschließlich der Terminierung der zweiten und dritten Lesung des Gesetzentwurfes und der damit verkürzten Beratungszeit.

Hinsichtlich der Antragsstellung, die sich auf die Terminierung einer zweiten und dritten Lesung eines Gesetzesentwurfes bezieht, ist problematisch, dass diese nur einen vorbereitenden Charakter hat und mithin keine rechtserhebliche Maßnahme darstellt (vgl. bereits: BVerfGE 112, 363, 365). Dieser Umstand kann jedoch dahinstehen, da A sich zwar „insbesondere“ gegen die Terminierung richtet, jedoch zusätzlich die zu kurzfristig zur Verfügung gestellten Unterlagen und die Gestaltung des Gesetzgebungsverfahrens insgesamt rügt. Die Ausgestaltung eines Gesetzgebungsverfahrens in seiner Gesamtheit kann jedoch möglicherweise die Beteiligungsrechte der einzelnen Abgeordneten verletzten und somit rechtserhebliche Maßnahmen darstellen, sodass ein tauglicher Antragsgegenstand vorliegt.

dd) Antragsbefugnis

Weiterhin müsste A gem. § 64 I BVerfGG geltend machen, dass er oder das Organ, dem er angehört, durch den Antragsgegner in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist.

A macht die Verletzung seiner Rechte aus Art. 38 I 2 GG geltend und diese Möglichkeit der Verletzung erscheint auch von vornherein nicht ausgeschlossen. Die weiteren gerügten Verletzungen des Art. 42 und 76 ff. GG bleiben der Prüfung im Hauptsachverfahren vorbehalten.

ee) Form und Frist

Für die Einleitung des Organstreitverfahrens müsste A gem. §§ 23, 64 II BVerfGG eine schriftliche und begründete Antragsstellung innerhalb der sechsmonatigen Frist ab Bekanntwerden des Angriffsgegenstandes gem. § 64 III BVerfGG einreichen.

ff) Zwischenergebnis

Folglich ist das Hauptsachverfahren im Wege des Organstreitverfahrens nicht von vornherein unzulässig.

c) Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache

Durch die einstweilige Anordnung dürfte die Hauptsache grundsätzlich nicht vorweggenommen werden. Dies folgt aus § 32 I BVerfGG, wonach das BVerfG nur „vorläufig“ Regelungen treffen darf.

Eine Vorwegnahme der Hauptsache und damit die Unzulässigkeit des Antrags liegt nach der Rechtsprechung des BVerfG regelmäßig dann vor, wenn es dem Antragssteller um eine eilige Entscheidung über die im Hauptsachverfahren angegriffene Maßnahme und nicht um eine vorläufige Regelung geht. Dies ist zumindest dann anzunehmen, wenn der beantragte Inhalt der einstweiligen Anordnung und das Rechtsschutzziel in der Hauptsache zumindest vergleichbar sind, wenn also die stattgebende einstweilige Anordnung mit dem Zeitpunkt ihres Erlasses einen Zustand in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht zu verwirklichen erlaubt, der erst durch die zeitlich spätere Entscheidung in der Hauptsache hergestellt werden soll.

Eine Ausnahme des Verbots der Vorwegnahme der Hauptsache gilt jedoch dann, wenn eine Entscheidung in der Hauptsache voraussichtlich zu spät käme und dem Antragssteller in anderer Weise ausreichender Rechtsschutz nicht mehr gewährt werden könnte. Eine solche Ausnahme besteht dann, wenn der Gegenstand des Hauptsachverfahrens durch ein einmaliges oder nur kurze Zeit währendes Geschehen bestimmt wird, auf das eine Entscheidung in der Hauptsache keinen Einfluss mehr nehmen könnte, weil es bis dahin bereits erledigt wäre.

Die verfolgten Rechtsschutzziele im Antrag auf einstweilige Anordnung und im Antrag des Hauptsachverfahrens sind nicht vergleichbar. Während A mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung die Sicherung seiner gleichberechtigten Teilnahme an der parlamentarischen Beratung durch die Gewährung einer hinreichenden Vorbereitungszeit begehrt, soll das Hauptsachverfahren feststellen, dass durch die gewählte Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens, insbesondere die Einbringung eines veralteten Gesetzesentwurfs sowie die Terminierung der zweiten und dritten Lesung der Novelle, gegen Art. 38 I 2 GG und gegen Art. 42 und Art. 76 GG verletzt. Zwar würde der Erlass einer einstweiligen Anordnung dazu führen, dass der Entwurf des Gebäudeenergieänderungsgesetzes in der laufenden Sitzungswoche nicht in zweiter und dritter Lesung beraten und beschlossen werden kann. Damit wird jedoch nicht zugleich über den Feststellungsantrag im Hauptsachverfahren über die Verletzung der Abgeordnetenrechte entschieden.

Somit lieg kein Verstoß gegen das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache vor.

d) Rechtsschutzbedürfnis

Des Weiteren ist ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung unzulässig, wenn das BVerfG eine entsprechende Rechtsfolge im Verfahren der Hauptsache nicht bewirken könnte.

Im Organstreitverfahren kann das BVerfG grundsätzlich nicht eine Verpflichtung des Antragsgegners zu einem bestimmten Verhalten bewirken und auch keine rechtsgestaltende Wirkung herstellen, da das Organstreitverfahren auf Feststellung gerichtet ist. Eine Ausnahme gilt jedoch dann, wenn ansonsten eine endgültige Vereitelung des geltend gemachten Rechts zu befürchten ist. Andernfalls könnte die einstweilige Anordnung ihre Funktion grundsätzlich nicht erfüllen. Andernfalls könnte die einstweilige Anordnung ihre Funktion grundsätzlich nicht erfüllen.

Vorliegend begehrt A die vorläufige Sicherung seiner geltend gemachten Mitwirkungsrechte im Verfahren zum Erlass des Gebäudeenergiegesetzänderungsgesetzes. Hierzu beantragt er eine Regelungsanordnung, dass die zweite und dritte Lesung erst dann stattfinden soll, wenn den Abgeordneten mindestens 14 Tage vorher der Gesetzesentwurf zugeht. Diese Regelung kann grundsätzlich nicht im Wege des Organstreitverfahrens erreicht werden. Ohne eine solche Regelungsanordnung kann jedoch die Schaffung vollendeter Tatsachen im Sinne eines möglicherweise eintretenden endgültigen Rechtsverlustes zum Nachteil des Antragsstellers nicht verhindert werden, sodass eine Ausnahme eingreift.

e) Zwischenergebnis

Folglich ist der Antrag auf einstweilige Anordnung zulässig.

2. Begründetheit

Der Antrag auf einstweilige Anordnung ist begründet, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

a) Erfolgsaussichten in der Hauptasche

Der Antrag im Hauptsachverfahren im Wege des Organstreitverfahrens dürfte nicht offensichtlich unbegründet sein.

Hinweis: wenn in der Zulässigkeit noch nicht geprüft wurde, ob das Hauptsachverfahren „von vornherein unzulässig ist“, muss dies unter dem Punkt „Begründetheit“ erfolgen.

Der Antrag im Organstreitverfahren ist gem. § 67 1 BVerfGG begründet, wenn die rechtserhebliche Maßnahme – hier: die Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens – die verfassungsmäßigen Rechte und Pflichten des A verletzt. Eine Verletzung des A in seinen Rechten aus Art. 38 I 2 GG durch die Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens durch die Koalitionspartner dürfte nicht offensichtlich zu verneinen sein.

Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG garantiert den Status der Gleichheit der Abgeordneten in einem formellen und umfassenden Sinn. Danach sind alle Abgeordneten berufen, gleichermaßen an der parlamentarischen Willensbildung mitzuwirken, wobei neben dem Recht zur Abstimmung (Art. 42 II GG) auch das Recht zur Beratung (Art. 42 I GG) besteht. Für Letzteres muss eine hinreichende Information über den Beratungsgegenstand gewährleistet sein. Zusammenfassend bedeutet dies: Dass die gleichberechtigte Teilhabe an der parlamentarischen Willensbildung das Recht der Abgeordneten umfasst, sich über den Beratungsgegenstand auf der Grundlage ausreichender Informationen eine eigene Meinung bilden und davon ausgehend an der Beratung und Beschlussfassung des Parlaments mitwirken zu können.

Zu beachten ist jedoch der weite Gestaltungsspielraum der Parlamentsmehrheit bei der Bestimmung der Verfahrensabläufe im Parlament, der sich darauf erstreckt die Prioritäten und Abläufe bei der Beratung von Gesetzgebungsverfahren zu bestimmen. Dieser Gestaltungsspielraum unterliegt jedoch Grenzen, die darin bestehen die Abgeordnetenrechte aus Art. 38 I 2 GG zu beachten und eine Verletzung dieser Rechte gegeben ist, wenn die Parlamentsmehrheit bei der Gestaltung von Gesetzgebungsverfahren die Abgeordnetenrechte ohne sachlichen Grund gänzlich oder in substantiellem Umfang missachtet.

Ob das Recht des A aus Art. 38 I 2 GG durch die Gestaltung des Gesetzgebungsverfahren durch die Koalitionspartner verletzt ist, sei zwar nicht offensichtlich unbegründet, jedoch sei der Ausgang des Hauptsachverfahrens offen, da aufgrund der besonderen Umstände des streitgegenständlichen Gesetzgebungsverfahrens die Entscheidung eine eingehende Prüfung bedarf.

Für eine Missachtung der Abgeordnetenrechte könnte sprechen, dass für eine Beschleunigung und Verdichtung der Gesetzesberatung keine zwingende Veranlassung bestand, insbesondere weil das Gesetz erst am 01. Januar 2024 in Kraft treten soll.

Weiterhin erwähnt das BVerfG Aspekte, die im Hauptsachverfahren näher zu erörtern sein werden:

  • In welchem Umfang wird das zweiseitige Leitplankenpapier eine den Anforderungen des Art. 38 I 2 GG genügende Beteiligung des Antragsstellers an der weiteren Gesetzesberatung erlaubt haben?

– Ob gewährleistet wurde, dass die parlamentarische Arbeit arbeitsteilig erfolgte sowie ob die Abgeordneten auf den Austausch untereinander und die Unterstützung durch eigene Mitarbeiter und solche der Fraktionen zurückgreifen können.

– Stellen die vom Antragsgegner geltend gemachten Aspekte des Bestands von Einigungszwängen angesichts sich schließender Zeitfenster und der Dokumentation der Handlungsfähigkeit der Koalition durch den Beschluss des Gebäudeenergiegesetzänderungsgesetzes vor der Sommerpause sachliche Gründe dar, die einer möglichen rechtsmissbräuchlichen Beschleunigung des Gesetzgebungsverfahren entgegenstehen?

– Inwieweit der Einwand, dass Formulierungshilfen der Minister nicht mit Änderungsanträgen der Regierungsfraktionen gleichzustellen sei, zu würdigen ist.

– Ob eine missbräuchliche Beschleunigung des Gesetzesvorhabens eine subjektive Komponente im Sinne absichtsvollen Vorgehens erfordere.

b) Doppelte Folgenabwägung

Ob ein Erlass einer einstweiligen Anordnung dringend geboten ist, ergibt sich aus einer Interessenabwägung im Wege der doppelten Folgenabwägung.

aa) Konstellation 1: Einstweilige Anordnung (-) und Antrag in der Hauptsache (+)

Für den Fall, dass die einstweilige Anordnung nicht ergehen würde und der Antrag in der Hauptsache (jedenfalls) hinsichtlich des geltend gemachten Rechts auf gleichberechtigte Teilhabe des Antragsstellers an der parlamentarischen Willensbildung Erfolg hätte, käme es zu einer irreversiblen, substantiellen Verletzung dieses Rechts.

Die Folge wäre, dass dem A unwiederbringlich die Möglichkeit genommen werde, bei den Beratungen und der Beschlussfassung über das Gebäudeenergieänderungsgesetz seine Mitwirkungsrechte in dem verfassungsrechtlich garantierten Umfang wahrzunehmen.

bb) Konstellation 2: Einstweiliger Anordnung (+) und Antrag in der Hauptsache (-)

Demgegenüber haben die Nachteile, die für den Fall, dass die einstweilige Anordnung erginge und der Antrag in der Hauptsache jedoch versagt werden würde, geringes Gewicht. Zwar käme es zu einem erheblichen Eingriff in die Autonomie des Parlaments beziehungsweise der Parlamentsmehrheit und damit in die originäre Zuständigkeit eines anderen obersten Verfassungsorgans, jedoch ist zu berücksichtigen, dass auch bei einer erfolgreichen einstweiligen Anordnung und der Versagung der Hauptsache eine Verabschiedung des Gesetzes bis zur geplanten Inkraftsetzung am 01. Januar 2024 weiterhin möglich bleibt.

Zudem könne der Antragsgegner noch für den laufenden Kalendermonat – und somit zeitnah – eine Sondersitzung des Deutschen Bundestages anberaumen (Art. 39 III 2 GG). Soweit der Antragsgegner darauf abstellt, dass eine Verzögerung des Abschlusses des Gesetzgebungsverfahrens eintritt, weil der Bundesrat erst bei seiner regulären Sitzung Ende September die Zustimmung zu dem Gesetze erteilen könnte, verkennt dieser, dass der Präsident des Bundesrates zu der Einberufung einer Sitzung verpflichtet ist, wenn die Bundesregierung dies verlangt (Art. 52 II 2 GG), sodass eine Zustimmungserteilung bereits vor der regulären Bundesratssitzung erfolgen könnte.

cc) Zwischenergebnis der doppelten Folgenabwägung

Das BVerfG fasst das Ergebnis der Interessenabwägung dahin zusammen, dass das Interesse an der Vermeidung einer irreversiblen Verletzung der Beteiligungsrechte des A aus Art. 38 I 2 GG gegenüber dem Eingriff in die Verfahrensautonomie des Antragsgegners überwiegt.

3. Ergebnis

Der Antrag auf einstweilige Anordnung ist zulässig und begründet und hat mithin Aussicht auf Erfolg.

04.10.2023/1 Kommentar/von Miriam Hörnchen
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Miriam Hörnchen https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Miriam Hörnchen2023-10-04 08:21:532023-10-04 12:24:36Das Eilverfahren zum „Heizungsgesetz“ vor dem Bundesverfassungsgericht
Dr. Lena Bleckmann

BGH: Amtshaftung der Gemeinde für Fahrradunfall auf gemeindlichem Feldweg

Examensvorbereitung, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Staatshaftung, Startseite

Der Amtshaftungsanspruch aus § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG ist einer der wichtigsten Ansprüche des Staatshaftungsrechts. Als solcher ist er bei Prüfern als Teil von Klausuren und auch in der mündlichen Prüfung sehr beliebt und sollte jedem Kandidaten geläufig sein. Aktuelle Rechtsprechung zum Thema erhöht die Examensrelevanz, sodass das Urteil des BGH vom 23.4.2020 (Az. III ZR 250/17) zum Anlass genommen werden sollte, die Grundlagen der Staatshaftung zu wiederholen.
Sachverhalt (vereinfacht und gekürzt)
A unternahm am Unfalltag mit seinem zwei bis drei Monate alten Mountainbike eine Fahrradtour. Hierbei befuhr er einen zum Gemeindegebiet und Eigentum der Gemeinde G gehörenden Feldweg. A kannte die Strecke nicht, hatte sich aber vorher mittels einer Karten-App orientiert. Nach ca. 50 m befand sich auf dem Feldweg ein sog. Zieharmonikaheck, d.h. eine Vorrichtung aus Drähten und Holzlatten, bei der zwei Stacheldrähte über den Weg gespannt waren. Diese Vorrichtung war bereits Ende der 1980er-Jahre mit Genehmigung des damaligen Bürgermeisters der G errichtet worden. An der Vorrichtung befand sich das Verkehrszeichen 260, wonach die Nutzung des Weges für mehrspurige Kraftfahrzeuge und Krafträder, nicht aber für Fahrräder untersagt ist. A bemerkte den quer über den Weg gespannten Stacheldraht erst spät, nahm eine Vollbremsung vor, wodurch sich das Rad überschlug und A kopfüber in den Stacheldraht stürzte. A ist seither querschnittsgelähmt und pflegebedürftig. A begehrt von G Ersatz der Behandlungskosten und Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes.
Bearbeitervermerk: Es ist davon auszugehen, dass Ansprüche auf Ersatz der Behandlungskosten nicht auf Dritte übergegangen sind. Die Gemeinde ist nach den einschlägigen landesrechtlichen Vorschriften Trägerin der Straßenbaulast.
Anmerkung: Im Originalfall richtete sich die Klage auch gegen die zuständigen Jagdpächter. Weiterhin wurden die Behandlungskosten in einem separaten Verfahren durch die Bundesrepublik Deutschland geltend gemacht, die als Dienstherr des geschädigten Soldaten dessen Behandlungskosten und Versorgungsbezüge zahlte.
Entscheidung
A könnte einen entsprechenden Anspruch aus § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG haben. Dazu müsste jemand in Ausübung eines öffentlichen Amtes schuldhaft eine drittgerichtete Amtspflicht verletzt haben. (Anm: Hierbei bildet § 839 BGB die anspruchsbegründende Norm. Haftungssubjekt ist hier grundsätzlich der handelnde Beamte. Art. 34 GG leitet diese Haftung sodann auf den Staat über.)
Hier gilt der haftungsrechtliche Beamtenbegriff, d.h. Täter kann nicht nur ein Beamter im statusrechtlichen Sinne sein, sondern jeder, der mit hoheitlichen Tätigkeiten betraut ist und in Ausübung dieser tätig wird. Ausreichend ist auch, dass jemand ein hoheitliches Tätigwerden unterlässt. Die Gemeinde war Trägerin der Straßenbaulast und als solche verpflichtet, die Sicherheit der Gemeindestraßen zu gewährleisten. Dem Träger der Straßenbaulast obliegt auch eine öffentlich-rechtliche Überwachungspflicht (hier ist jeweils auf die einschlägigen landesrechtlichen Vorschriften abzustellen). Indem der zuständige Amtswalter nicht gegen die Absperrvorrichtung auf dem Feldweg einschritt, handelte er in Ausübung eines öffentlichen Amtes.
Er müsste auch eine drittgerichtete Amtspflicht verletzt haben. Wichtige Amtspflichten sind z.B. die Pflicht zum rechtmäßigen Verwaltungshandeln, insbesondere das Unterlassen unerlaubter Handlungen, Verkehrsregelungs- und Verkehrssicherungspflichten und die Erteilung korrekter Auskünfte.  Hier könnte eine Verletzung einer Amtspflicht in Form einer Verkehrssicherungspflichtvorliegen. Hierzu führte die Vorinstanz, das OLG Schleswig-Holstein,  aus:

„Derjenige, der eine Gefahrenlage schafft (bzw. verantwortet), ist grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern. Die rechtlich gebotene Verkehrssicherung umfasst diejenigen Maßnahmen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren. Dabei sind diejenigen Vorkehrungen zu treffen, die geeignet sind, die Schädigung anderer tunlichst abzuwenden. (…) Es sind deshalb diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger des betroffenen Verkehrskreises (hier Gemeinde als Straßenbaulastträger, Jäger, anliegende Landwirte, Freizeitsportler) für ausreichend halten darf, um andere Personen vor Schäden zu bewahren und die nach den Umständen zuzumuten sind.“ (OLG Schleswig-Holstein v. 10.8.2017, Az. 7 U 28/16)

Der Stacheldraht war hier nur aus kurzer Entfernung erkennbar und nicht besonders gekennzeichnet. Das Verkehrsschild, das nur die Benutzung des Weges durch mehrspurige Kraftfahrzeuge und Krafträder untersagte, ließ darauf schließen, dass der Weg durch Fahrradfahrer benutzt werden konnte. Erforderlich und zumutbar wäre es gewesen, die Absperrung hinreichend zu kennzeichnen, sodass sie für Benutzer des Weges auch aus größerer Entfernung unmittelbar wahrgenommen werden könnte und das Risiko eines Unfalls verringert würde. So auch der BGH:

„Mit Recht hatte das Berufungsgericht eine schuldhafte Verkehrssicherungs-pflichtverletzung durch die Beklagten bejaht. Ein quer über einen für die Nutzung durch Radfahrer zugelassenen Weg gespannter, nicht auffällig gekennzeichneter Stacheldraht ist im wörtlichen wie auch im rechtlichen Sinne verkehrswidrig. Ein solches Hindernis ist angesichts seiner schweren Erkennbarkeit und der daraus sowie aus seiner Beschaffenheit folgenden Gefährlichkeit völlig ungewöhnlich und objektiv geradezu als tückisch anzusehen, so dass ein Fahrradfahrer hiermit nicht rechnen muss. Für diesen verkehrspflichtwidrigen Zustand haftet die Gemeinde als Trägerin der Straßenbaulast.“ (BGH, Pressemitteilung Nr. 042/2020)

Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass die Absperrung bereits über 20 Jahre vorhanden war, ohne dass bisher ein Schaden eingetreten war:

„Auch schon zur Unfallzeit – im Sommer 2012 – war Freizeitsport, wie Mountainbike-Fahren, zunehmend verbreitet (…). Gerade Feld- und Waldwege gehören zu den bevorzugten Flächen dieser Freizeitsportler und nach dem Aufkommen der Mountainbikes sind gerade Radfahrer in zunehmender Zahl auf derartigen Wegen anzutreffen (vgl. OLG Köln, Urteil vom 23.1.1998, VersR 1998, 860–862, juris Rdnr. 35). Diese Veränderung im Freizeitverhalten hätte auch die Bekl. zu 1) als Eigentümerin und Trägerin der Straßenbaulast zur Kenntnis nehmen und sich im Rahmen des Zumutbaren darauf einstellen können. Dazu gehört es, die Absperrung von öffentlich zugänglichen Wegen mit dünnen und daher zwangsläufig leicht zu übersehenden Stacheldrähten entweder ganz zu vermeiden oder aber sie als Gefahrenquelle zumindest deutlich zu kennzeichnen.“ (OLG Schleswig-Holstein v. 10.8.2017, Az. 7 U 28/16)

Drittgerichtet ist die Amtspflicht, wenn sie nicht nur den Interessen der Allgemeinheit zu dienen bestimmt ist, sondern auch die Interessen des Einzelnen schützt, der konkrete Sachverhalt sachlich und der Betroffene persönlich vom Schutzbereich umfasst ist. Die Verkehrssicherungspflicht der Gemeinde dient gerade dazu, Unfälle wie den vorliegenden zu verhindern, sodass die Gemeinde eine ihr im konkreten Fall gegenüber A obliegende Amtspflicht verletzt hat.
Die Verletzung der Amtspflicht müsste auch schuldhaft gewesen sein. (Anm: Dieser Prüfungspunkt darf unter keinen Umständen übersehen werden, grenzt doch das Verschuldenserfordernis den Amtshaftungsanspruch insbesondere von den Geldentschädigungsansprüchen des Staatshaftungsrechts ab).  Es gilt der Maßstab des § 276 BGB, d.h. erforderlich ist Vorsatz oder Fahrlässigkeit. Indem der zuständige Amtswalter nicht für eine ausreichende Kennzeichnung der Absperrung sorgte, obwohl bekannt war, dass die Feldwege im Gemeindegebiet häufig von Radfahrern genutzt werden, ließ er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt gemäß § 276 Abs. 2 BGB außer Acht und handelte somit fahrlässig und schuldhaft.
Ein Anspruchsausschluss nach den § 839 Abs. 1 S. 2, Abs. 2, Abs. 3 BGB kommt ersichtlich nicht in Betracht, insbesondere vermag A nicht gem. § 839 Abs. 1 S. 2 BGB auf andere Weise Ersatz zu erlangen.
Dem A müsste ein ersatzfähiger Schaden entstanden sein. Dieser besteht vorliegend in den entstandenen Behandlungskosten, die nach § 249 Abs. 1 BGB ersatzfähig sind. Weiterhin besteht ein immaterieller Schaden gemäß § 253 Abs. 2 BGB. Diese beruhen auch kausal auf der Amtspflichtverletzung. (Anm: An dieser Stelle sollte der Bearbeiter grds. beachten, dass im Rahmen der Amtshaftung stets nur Geldersatz, nicht aber Naturalrestitution verlangt werden kann.)
Der Ersatzanspruch könnte jedoch wegen Mitverschuldens des A bei der Schadensentstehung gem. § 254 Abs. 1 BGB zu mindern sein. Die Vorinstanz ging hier davon aus, dass dem A ein Mitverschulden von 75% anzulasten sei, weil er noch nicht an das Bremsverhalten seines neuen Fahrrads gewöhnt war und der Weg für ihn unbekannt war, er aber dennoch seine Geschwindigkeit nicht anpasste, wie § 3 Abs. 1 StVO es vorsehe:

„Aufgrund der dargestellten und auch aus den Lichtbildern der beigezogenen Ermittlungsakte ersichtlichen örtlichen Verhältnissen musste der Geschädigte jederzeit mit Hindernissen rechnen, die ihn zu einer Bremsung zwingen könnten. Zwar musste er nicht mit einer – wie oben dargestellt – verkehrssicherungswidrigen Absperrung quer über den Feldweg rechnen, gleichwohl hätte er sich aufgrund der im unbekannten örtlichen Verhältnisse auf dem unbefestigten Weg jedoch jederzeit bremsbereit verhalten müssen. Gemessen daran waren die von dem Geschädigten (mindestens) gefahrenen 16 km/h unangemessen zu hoch. (…) Außerdem hat sich der Geschädigte nicht hinreichend mit dem Bremsverhalten seines (relativ neuen) Mountainbikes (hohe Überschlagsneigung) vertraut gemacht.“ (OLG Schleswig-Holstein v. 10.8.2017, Az. 7 U 28/16)

Dem tritt der BGH entschieden entgegen. Eine Anpassung der Geschwindigkeit an schwer erkennbare Hindernisse könne nicht verlangt werden, weil Radfahrer sich sonst stets nur mit minimaler Geschwindigkeit bewegen dürften:

„Der Kläger hat allerdings entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts nicht gegen das Sichtfahrgebot verstoßen, so dass ihm insoweit kein Mitverschulden an dem Unfall anzulasten ist. Dieses Gebot verlangt, dass der Fahrer vor einem Hindernis, das sich innerhalb der übersehbaren Strecke auf der Straße befindet, anhalten kann. Es gebietet aber nicht, dass der Fahrer seine Geschwindigkeit auf solche Objekte einrichtet, die sich zwar bereits im Sichtbereich befinden, die jedoch – bei an sich übersichtlicher Lage – aus größerer Entfernung noch nicht zu erkennen sind. Dies betrifft etwa Hindernisse, die wegen ihrer besonderen Beschaffenheit ungewöhnlich schwer erkennbar sind oder deren Erkennbarkeit in atypischer Weise besonders erschwert ist und auf die nichts hindeutet. Anderenfalls dürfte sich der Fahrer stets nur mit minimalem Tempo bewegen, um noch rechtzeitig anhalten zu können. Um ein solches Hindernis handelte es sich im vorliegenden Fall. Daran änderte auch das an den Drähten angebrachte, mit nach unten auf den Boden gerichteten Holzlatten versehene Verkehrsschild nichts. Im Gegenteil erweckte es den Eindruck, der Weg sei für Fahrradfahrer frei passierbar“ (BGH, Pressemitteilung Nr. 042/2020).

Ein anspruchsminderndes Mitverschulden des A ist vorliegend daher abzulehnen.
A hat gegen die Gemeinde G einen Anspruch auf Ersatz der Behandlungskosten und Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes in voller Höhe.
Ausblick
Es handelt sich um einen klassischen Fall des Staatshaftungsrechts, der den Bearbeiter nicht vor größere Schwierigkeiten stellen sollte. Zur Wiederholung sei auf unser Schema zum Amtshaftungsanspruch verwiesen. Die Frage des Mitverschuldens bietet viel Argumentationsspielraum, wobei in der Klausurlösung mit entsprechender Begründung vieles vertretbar sein dürfte.
 

27.04.2020/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2020-04-27 08:50:182020-04-27 08:50:18BGH: Amtshaftung der Gemeinde für Fahrradunfall auf gemeindlichem Feldweg
Dr. Maike Flink

Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 4/2019 und 1/2020) – Teil 2: Verwaltungsrecht

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Startseite

Bei der Vorbereitung auf die schriftliche und vor allem mündliche Examensprüfung, aber auch auf Klausuren des Studiums, ist die Kenntnis aktueller Rechtsprechung von entscheidender Bedeutung. Der folgende Überblick ersetzt zwar keinesfalls die vertiefte Auseinandersetzung mit den einzelnen Entscheidungen, soll hierfür aber Stütze und Ausgangspunkt sein. Dargestellt wird daher eine Auswahl der examensrelevanten Entscheidungen der vergangenen Monate anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen und ergänzender kurzer Ausführungen aus den Gründen, um einen knappen Überblick aktueller Rechtsprechung auf dem Gebiet des Öffentlichen Rechts zu bieten.
 
BVerwG (Urt. V. 30.10.2019 – 6 C 18.18): Einstufung von Bushido-Album als jugendgefährdend rechtmäßig
 Das BVerwG hat entschieden, dass die Einstufung des Bushido-Albums „Sonny Black“ als jugendgefährdend rechtmäßig ist:

„Zum einen erfüllt das Album die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Jugendgefährdung im Sinne von § 18 Abs. 1 Satz 1 und 2 JuSchG. Zum anderen ist dem berechtigten Interesse an der Indizierung aus Gründen des Jugendschutzes der Vorrang vor dem durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten Interesse des Klägers an der uneingeschränkten Verbreitung des Albums einzuräumen. Die Kunstfreiheit rechtfertigt nicht, Minderjährigen das Album trotz seiner nachteiligen Auswirkungen auf deren Persönlichkeitsentwicklung ungehindert zugänglich zu machen.“

Denn § 18 I JuSchG soll im Rahmen des Möglichen die äußeren Bedingungen für eine charakterliche Entwicklung von Minderjährigen schaffen, die zu Einstellungen und Verhaltensweisen führt, die sich am Menschenbild des Grundgesetzes orientieren, was allerdings durch Medien gefährdet wird, die ein damit in Widerspruch stehendes Wertebild vermitteln. Es genügt, dass eine solche Gefährdung Minderjähriger zumindest ernsthaft möglich erscheint, was auf Grundlage der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse zu ermitteln ist. Maßstab sind insofern nicht sämtliche Minderjährige, sondern nur solche, die aufgrund ihrer Veranlagung, ihres Geschlechts ihrer Erziehung oder Lebensumstände als tatsächlich gefährdungsgeeignet erscheinen. Dennoch genügt die Erfüllung der Voraussetzungen des § 18 I JuSchG nicht, wenn es sich bei den Inhalten des Mediums um Kunstwerke handelt, wobei der Kunstbegriff des Art. 5 III 1 GG maßgeblich ist. Allerdings folgt aus der Kunstfreiheit kein generelles Indizierungsverbot, erforderlich ist vielmehr eine Abwägung von Jugendschutz und Kunstfreiheit. Da das fragliche Album „durch die offene Begehung schwerer Straftaten wie etwa Drogenhandel in Schulen, eine uneingeschränkte Gewaltbereitschaft und den skrupellosen Einsatz brutaler Gewalt aus beliebigen Anlässen gekennzeichnet“ sowie frauenfeindlich und homophob ist und insbesondere von Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten gehört wird, die in der Hauptfigur „Sonny Black“ ein Vorbild erkennen könnten, hat das Album erheblich jugendgefährdende Wirkung. Es weist zudem keinen gesteigerten Kunstgehalt auf, sondern dient vorrangig der Unterhaltung. Daher kommt dem Jugendschutz eindeutig der Vorrang zu, sodass die Einstufung des Albums als jugendgefährdend rechtmäßig ist.
 
VGH München (Beschl. v. 5.11.2019 – 11 B 19.703): Kein Anspruch auf Entfernung von Parkmarkierungen
Das Recht auf Anliegergebrauch öffentlicher Straßen wird von  Art. 14 I GG nur in seinem Kernbereich geschützt und reicht daher nur so weit, wie die angemessene Nutzung des Grundeigentums eine Benutzung der Straße auch erfordert. Dies bestimmt sich stets anhand der konkreten Gegebenheiten, wobei grundsätzlich auch die Möglichkeit geschützt ist, das Grundstück mit Kraftfahrzeugen zu erreichen. Dabei genügt es aber regelmäßig – insbesondere in städtischen Gebieten –, dass die Zugänglichkeit für Lieferungen von Gegenständen des täglichen Gebrauchs erhalten bleibt. Können insbesondere Feuerwehr, Polizei und Krankenwagen das Grundstück problemlos erreichen, wird durch eine Parkregelung regelmäßig nicht in das Recht auf Anliegergebrauch eingegriffen. Soweit nur Lastkraftwagen das Grundstück nicht erreichen können, fehlt i.d.R. es an einer Verletzung subjektiv-öffentlicher Rechte des Anliegers.

 „§ 12 Abs. 1 Nr. 1 StVO regelt das Verhalten der Verkehrsteilnehmer an engen Straßenstellen, enthält aber keine Vorgabe an die Straßenverkehrsbehörde, durch Verkehrsregelungen die Entstehung von Engstellen durch parkende Fahrzeuge in schmalen Wohnstraßen zu verhindern. Erst wenn durch das Parkverhalten Gefahren für die Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs i.S.d. § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO entstehen, muss die Straßenverkehrsbehörde Maßnahmen erwägen.“

 
OVG Hamburg (Beschl. v. 29.1.2020 – 1 Bs 6/20): Verbot der Vollverschleierung in der Schule
 Das OVG Hamburg hat festgestellt, dass eine an die Mutter einer vollverschleierten Schülerin gerichtete Anordnung, dafür zu sorgen, dass ihre Tochter nur noch unverschleiert zum Unterricht erscheint, einer eindeutigen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bedarf, da es sich um einen grundrechtsrelevante Maßnahme handelt: Zwar bedarf nicht jede Regelung durch Lehrkräfte im Schulbetrieb einer expliziten gesetzlichen Grundlage. Insbesondere soweit Grundrechte der Schüler betroffen sind, ist jedoch die Wesentlichkeitstheorie zu beachten, nach der der parlamentarische Gesetzgeber insbesondere grundrechtsrelevante Fragestellungen selbst zu regeln hat. Dies ist bei einem Verschleierungsverbot der Fall:

 „Insoweit sind jedoch auch minder verbreitete religiöse Bekleidungsvorschriften zu beachten, die der oder die Betroffene für sich für verbindlich hält. Deshalb kann auch das Tragen einer Bedeckung in Form des Niqabs, d.h. eines Gesichtsschleiers, wie sie heute noch im Jemen und Saudi-Arabien verbreitet ist und von fundamentalistischen Muslimen gefordert bzw. empfohlen wird […] dem Schutz der Religionsfreiheit unterfallen.“

 Nicht ausreichend ist daher eine Regelung, die es lediglich ermöglicht, gegenüber den Erziehungsberechtigten bei mehrfacher Nichtteilnahme am Unterricht, eine Schulbesuchsverfügung zu erlassen. Zwar spricht viel dafür, dass die „Teilnahme am Unterricht“ (i.S.v. §§ 28 II, 41 I 1 HMbSG) über die rein physische Anwesenheit hinaus auch die Kommunikationsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler meint. Es kann jedoch nicht ohne Weiteres angenommen werden, dass das Tragen eines Gesichtsschleiers im Unterricht die Kommunikation mit der Schülerin unmöglich macht.  Dazu führt das Gericht aus:

 „Infolge der beim Niqab noch freien Augen ist durchaus eine nonverbale Kommunikation über einen Augenkontakt möglich; auch eine Gestik (z.B. Melden, Nicken mit dem Kopf oder Schütteln des Kopfes) ist, wenn auch in eingeschränkter Weise, möglich […]. Im übrigen ist weder substantiiert geltend gemacht worden noch ersichtlich, dass eine NiqabTrägerin nicht verbal mit Gesprächspartnern, seien es Lehrer oder Mitschüler, kommunizieren könnte.“

S. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
 

15.04.2020/1 Kommentar/von Dr. Maike Flink
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maike Flink https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maike Flink2020-04-15 09:18:052020-04-15 09:18:05Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 4/2019 und 1/2020) – Teil 2: Verwaltungsrecht
Dr. Maike Flink

Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 4/2019 und 1/2020) – Teil 1: Verfassungsrecht

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Bei der Vorbereitung auf die schriftliche und vor allem mündliche Examensprüfung, aber auch auf Klausuren des Studiums, ist die Kenntnis aktueller Rechtsprechung von entscheidender Bedeutung. Der folgende Überblick ersetzt zwar keinesfalls die vertiefte Auseinandersetzung mit den einzelnen Entscheidungen, soll hierfür aber Stütze und Ausgangspunkt sein. Dargestellt wird daher eine Auswahl der examensrelevanten Entscheidungen der vergangenen Monate anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen und ergänzender kurzer Ausführungen aus den Gründen, um einen knappen Überblick aktueller Rechtsprechung auf dem Gebiet des Öffentlichen Rechts zu bieten.
 
BVerfG (Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16): Minderung von Hartz IV bei unterbliebener Mitwirkung teilweise verfassungswidrig
 Die Regelungen zur Minderung bzw. zum Entzug der Sozialhilfe nach § 31a I SGB II und § 31b SGB II, welche die Mitwirkungspflichten nach § 31 I SGB II durchsetzen sollen, sind in ihrer konkreten Ausgestaltung nicht mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 I GG i.V.m. Art. 20 IGG) vereinbar: Zwar sind Mitwirkungspflichten – ebenso wie Sanktionen bei unterlassener Mitwirkung – im Rahmen der Gewährung existenzsichernder Leistungen grundsätzlich zulässig, jedoch müssen sie in ihrer konkreten Ausgestaltung auch verhältnismäßig sein. Denn die Minderung existenzsichernder Leistungen steht in einem erheblichen Spannungsverhältnis zur aus Art. 1 I GG i.V.m. Art. 20 I GG abgeleiteten Existenzsicherungspflicht des Staates. Daher gilt ein strenger Verhältnismäßigkeitsmaßstab:

„Wird eine Mitwirkungspflicht zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit ohne wichtigen Grund nicht erfüllt und sanktioniert der Gesetzgeber das durch den vorübergehenden Entzug existenzsichernder Leistungen, schafft er eine außerordentliche Belastung. Dies unterliegt strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit; der sonst weite Einschätzungsspielraum zur Eignung, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit von Regelungen zur Ausgestaltung des Sozialstaates ist hier beschränkt. Prognosen zu den Wirkungen solcher Regelungen müssen hinreichend verlässlich sein; je länger die Regelungen in Kraft sind und der Gesetzgeber damit in der Lage ist, fundierte Einschätzungen zu erlangen, umso weniger genügt es, sich auf plausible Annahmen zu stützen. Zudem muss es den Betroffenen tatsächlich möglich sein, die Minderung existenzsichernder Leistungen durch eigenes Verhalten abzuwenden; es muss also in ihrer eigenen Verantwortung liegen, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung auch nach einer Minderung wieder zu erhalten.“

Zwar dienen die Sanktionsregelungen in § 31a I SGB II sowie § 31b SGB II mit der Durchsetzung dieser Mitwirkungspflichten einem legitimen Ziel, da nur durch ein „Fördern und Fordern“ die dauerhafte Finanzierbarkeit der Sozialhilfe gewährleistet werden kann. Allerdings sind die konkreten Regelungen unverhältnismäßig, da sie Leistungskürzungen in unzumutbarer Höhe – einschließlich des vollständigen Wegfalls existenzsichernder Leistungen – ermöglichen. Zudem können auch nur geringe Kürzungen gegenwärtig ohne weitere Prüfung, beispielsweise von besonderen Härten, erfolgen. Letztlich endet die Leistungskürzung unabhängig von den Umständen des Einzelfalls stets nach einer starren Frist, sodass auch eine Nachholung der Mitwirkung unbeachtlich ist. Aufgrund vorstehender Erwägungen verstoßen die Sanktionen bei Unterlassen einer Mitwirkungshandlung in ihrer konkreten Ausgestaltung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
 
 BVerfG (Beschl. v. 6.11.2019 – 1 BvR 16/13): Recht auf Vergessen I
Das BVerfG räumt der Prüfung am Maßstab der Grundrechte des GG nunmehr einen Vorrang ein, sofern sich die Anwendungsbereiche von GG und GRCh überschneiden. Grundsätzlich prüft das Gericht nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts, weshalb es die GRCh – bislang – nicht als Prüfungsmaßstab heranziehen konnte. Um dadurch nicht die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu gefährden, treten die Grundrechte des GG grundsätzlich zurück, sofern der Anwendungsbereich der GRCh eröffnet ist, d.h. wenn die Mitgliedstaaten Unionsrecht durchführen (Art. 51 I 1 GRCh). Dies gilt jedenfalls, solange der europäische Grundrechtsstandard im Wesentlichen mit dem Schutzniveau des Grundgesetzes vergleichbar ist.  Soweit den Mitgliedstaaten eigene Umsetzungsspielräume verbleiben, bleiben die Grundrechte des GG jedoch anwendbar. Denn in einem solchen Fall ist wegen der verbleibenden mitgliedstaatlichen Spielräume eine vollständig einheitliche Anwendung des Unionsrechts gar nicht intendiert. Die Grundrechte des GG treten damit – wie das BVerfG nunmehr ausdrücklich feststellt – neben die Grundrechte der GRCh. Bei paralleler Anwendbarkeit mehrerer Grundrechtskataloge gilt grundsätzlich das jeweils höhere Schutzniveau (Art. 53 GRCh). In diesem Zusammenhang stellt das BVerfG fest, dass zu vermuten ist, dass das Schutzniveau der Grundrechte des GG demjenigen der GRCh zumindest entspricht oder dieses sogar übersteigt.

„Wenn danach regelmäßig anzunehmen ist, dass das Fachrecht, soweit es den Mitgliedstaaten Spielräume eröffnet, auch für die Gestaltung des Grundrechtsschutzes auf Vielfalt ausgerichtet ist, kann sich das BVerfG auf die Vermutung stützen, dass durch eine Prüfung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes das Schutzniveau der Charta, wie sie vom EuGH ausgelegt wird, in der Regel mitgewährleistet ist. […] Die primäre Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes bedeutet nicht, dass insoweit die Grundrechte-Charta ohne Berücksichtigung bleibt. Der Einbettung des Grundgesetzes wie auch der Charta in gemeinsame europäische Grundrechtsüberlieferungen entspricht es vielmehr, dass auch die Grundrechte des Grundgesetzes im Lichte der Charta auszulegen sind.“

 S. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
BVerfG (Beschl. v. 6.11.2019 – 1 BvR 276/17): Recht auf Vergessen II
Enthält das durch die Mitgliedstaaten umzusetzende und zu vollziehende Unionsrecht keine Gestaltungsspielräume, finden die Grundrechte des GG keine Anwendung; sie treten hinter der GRCh zurück. Allerdings hat das BVerfG nunmehr klargestellt, dass es sich berechtigt sieht, die Grundrechte der GRCh selbst anzuwenden und als Prüfungsmaßstab im Rahmen der Verfassungsbeschwerde heranzuziehen. So heißt es ausdrücklich:

„Soweit das BVerfG die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Prüfungsmaßstab anlegt, übt es seine Kontrolle in enger Kooperation mit dem EuGH aus.“

Nur so könne das BVerfG einen effektiven Grundrechtsschutz gewährleisten. Da die Grundrechte der GRCh letztlich ein Funktionsäquivalent der Grundrechte des GG seien und auf unionsrechtlicher Ebene kein effektiver Individualrechtsbehelf bestehe, komme dem BVerfG die Aufgabe zu, den effektiven Schutz auch der Grundrechte der GRCh im Rahmen der Verfassungsbeschwerde sicherzustellen:

„Die Gewährleistung eines wirksamen Grundrechtsschutzes gehört zu den zentralen Aufgaben des BVerfG. […]Auch die Unionsgrundrechte gehören heute zu dem gegenüber der deutschen Staatsgewalt durchzusetzenden Grundrechtsschutz. Sie sind nach Maßgabe des Art. 51 I GRCh innerstaatlich anwendbar und bilden zu den Grundrechten des Grundgesetzes ein Funktionsäquivalent. […] Ohne Einbeziehung der Unionsgrundrechte in den Prüfungsmaßstab des BVerfG bliebe danach der Grundrechtsschutz gegenüber der fachgerichtlichen Rechtsanwendung nach dem heutigen Stand des Unionsrechts unvollständig. Dies gilt insbesondere für Regelungsmaterien, die durch das Unionsrecht vollständig vereinheitlicht sind. Da hier die Anwendung der deutschen Grundrechte grundsätzlich ausgeschlossen ist, ist ein verfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz nur gewährleistet, wenn das BVerfG für die Überprüfung fachgerichtlicher Rechtsanwendung die Unionsgrundrechtezum Prüfungsmaßstab nimmt.“

 S. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
BVerfG (Beschl. v. 30.1.2020 – 2 BvR 1005/18): Das Verbot, Hunde in eine Arztpraxis mitzuführen, benachteiligt Blinde unangemessen
Ein gegenüber blinden Menschen ausgesprochenes Verbot, mit einem Blindenführhund eine Arztpraxis zu durchqueren, stellt eine mit Art. 3 III 2 GG – der jede Benachteiligung wegen der Behinderung verbietet – nicht zu vereinbarende Benachteiligung dar. Eine Schlechterstellung von Menschen mit Behinderung ist nur ausnahmsweise zulässig, sofern sie durch zwingende Gründe gerechtfertigt werden kann. Dies gilt auch im Rechtsverhältnis zwischen Privaten, denn das Benachteiligungsverbot ist zugleich eine objektive Wertentscheidung des Gesetzgebers und hat daher auch Einfluss auf Anwendung und Auslegung des Zivilrechts. Das Verbot, Hunde in eine Arztpraxis mitzuführen, benachteiligt blinde Menschen in besonderem Maße, soweit es ihnen dadurch insgesamt verwehrt wird, die Praxisräume selbstständig zu durchqueren. Unerheblich ist dabei, dass die betroffenen blinden Personen selbst nicht daran gehindert werden, die Praxisräume zu betreten, sondern sich daran lediglich deshalb gehindert fühlen, weil sie ihren Blindenführhund nicht mitnehmen können. Denn Art. 3 III 2 GG möchte jede Bevormundung behinderter Menschen verhindern und ihnen Autonomie ermöglichen. Wird einem Blinden jedoch verwehrt, seinen Blindenführhund mit in die Praxis zu nehmen, so folgt daraus zugleich, dass er sich von anderen Menschen helfen lassen und sich damit von anderen abhängig machen muss, um die Praxisräume zu durchqueren. Die betroffene Person muss sich – ohne dies zu wollen – anfassen und führen oder im Rollstuhl schieben lassen, was einer Bevormundung gleichkommt und daher mit Art. 3 III 2 GG unvereinbar ist. Diese erhebliche Beeinträchtigung überwiegt die entgegenstehende Berufsausübungsfreiheit sowie die allgemeine Handlungsfreiheit das Praxisinhabers. Denn es bestehen keine sachlichen Gründe für ein Verbot, Blindenhunde mitzuführen: Dies gelte insbesondere soweit auf die Gewährleistung der nötigen Hygiene verwiesen werde. Denn sofern die blinde Person mit ihrem Blindenführhund lediglich den Wartebereich durchqueren möchte – den auch andere Menschen mit Straßenschuhe und Straßenkleidung betreten – sei keine nennenswerte Beeinträchtigung der Hygiene durch den Hund zu erkennen.
 
BVerfG (Urt. v. 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15 u.a.): Grundrecht auf Suizid
Das BVerfG hat § 217 StGB, der die geschäftsmäßige Sterbehilfe unter Strafe stellte, für verfassungswidrig erklärt und damit zugleich ein Grundrecht auf Suizid geschaffen. § 217 StGB hatte bislang jede Form der geschäftsmäßigen Sterbehilfe unter Strafe gestellt, wobei Geschäftsmäßigkeit in diesem Zusammenhang keine Gewinnerzielungsabsicht erforderte, sondern es allein auf eine Wiederholungsabsicht, die auch bei Ärzten angenommen werden konnte, ankam. Die Norm verletzt das Grundrecht der betroffenen Sterbewilligen auf selbstbestimmtes Sterben, das sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG) herleiten lässt und in jeder Phase menschlicher Existenz besteht. Zwar verfolgt die Norm das legitime Ziel des Autonomie- und Lebensschutzes. Indes führte das BVerfG aus:

„Die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung hat zur Folge, dass das Recht auf Selbsttötung als Ausprägung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in bestimmten Konstellationen faktisch weitgehend entleert ist. Dadurch wird die Selbstbestimmung am Lebensende in einem wesentlichen Teilbereich außer Kraft gesetzt, was mit der existentiellen Bedeutung dieses Grundrechts nicht in Einklang steht.“

Weitergehend setzte sich das Gericht auch mit einer möglichen Verletzung der Grundrechte der betroffenen Ärzte, Rechtsanwälte und Sterbehilfevereine auseinander, die sich ihrerseits auf Art. 12 I GG und subsidiär auf Art. 2 I GG berufen können. Denn die Möglichkeit, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, ist in tatsächlicher Hinsicht davon abhängig, dass Dritte auch bereit sind, diese zu leisten. Nur wenn Dritte Sterbehilfe straffrei durchführen können, kann auch das Grundrecht auf Suizid tatsächlich verwirklicht werden.
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BVerfG (Beschl. v. 27.2.2020 – 2 BvR 1333/17): Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen
Das BVerfG hat das Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen, das es ihnen untersagt, Tätigkeiten, bei denen sie von Bürgern als Repräsentanten der Justiz oder des Staates wahrgenommen werden können, mit Kopftuch auszuüben, als verfassungsgemäß eingestuft. Das Verbot stelle keine Verletzung der Religionsfreiheit (Art. 4 I, II GG), der Berufsfreiheit (Art. 12 I GG) oder des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG) dar. Im Schwerpunkt setzte das BVerfG sich mit der Religionsfreiheit der Beschwerdeführerin auseinander: Die Pflicht, bei Tätigkeiten, bei denen die Beschwerdeführerin als Repräsentantin des Staates wahrgenommen werden könnte, gegen ihre religiös begründeten Bekleidungsregeln zu verstoßen, stellt zwar einen Eingriff in den Schutzbereich der Religionsfreiheit dar, da sie dadurch vor die Wahl gestellt werde, „entweder die angestrebte Tätigkeit auszuüben oder dem von ihr als verpflichtend angesehenen religiösen Bekleidungsgebot Folge zu leisten.“ Allerdings ist dieser Eingriff nach Auffassung des BVerfG gerechtfertigt, da der Staat seinerseits zur Neutralität verpflichtet sei.

„Hierbei entspricht die Verpflichtung des Staates zur Neutralität einer Verpflichtung seiner Amtsträger: Der Staat kann nur durch seine Amtsträger handeln, sodass diese das Neutralitätsgebot zu wahren haben, soweit ihr Handeln dem Staat zugerechnet wird.
Hier ist eine besondere Betrachtung des Einzelfalls erforderlich. Nicht jede Handlung eines staatlich Bediensteten ist dem Staat in gleicher Weise zuzurechnen. […] Die Situation vor Gericht ist indes besonders dadurch geprägt, dass der Staat dem Bürger klassisch-hoheitlich gegenübertritt. Auch ist eine besondere Formalität und Konformität dadurch gegeben, dass die Richter eine Amtstracht tragen.
[…] Aus Sicht des objektiven Betrachters kann insofern das Tragen eines islamischen Kopftuchs durch eine Richterin oder eine Staatsanwältin während der Verhandlung als Beeinträchtigung der weltanschaulich-religiösen Neutralität dem Staat zugerechnet werden.“

Weitere Erwägungen für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Kopftuchverbotes sind zudem das Vertrauen des Bürgers in die Rechtspflege und die Justiz sowie sie negative Religionsfreiheit Dritter, die durch den unausweichlichen Anblick des Kopftuchs im Gerichtssaal verletzt sein kann. Unter Berufung auf diese Argumente lehnte das BVerfG daher auch eine Verletzung der Berufsfreiheit und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin ab.
S. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.

08.04.2020/1 Kommentar/von Dr. Maike Flink
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maike Flink https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maike Flink2020-04-08 10:00:122020-04-08 10:00:12Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 4/2019 und 1/2020) – Teil 1: Verfassungsrecht
Dr. Lena Bleckmann

OVG Hamburg: Verbot der Vollverschleierung in der Schule

Examensvorbereitung, Für die ersten Semester, Lerntipps, Öffentliches Recht, Polizei- und Ordnungsrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht

Die Religionsfreiheit aus Art. 4 GG ist bei Klausurstellern stets beliebtes Prüfungsthema, nicht zuletzt aufgrund der vielfältigen Fallgestaltungen und der zumeist erforderlichen genauen Abwägung mit gegenläufigen Belangen. Neue Rechtsprechung zum Thema sollte daher besonders Examenskandidaten bekannt sein.
Doch auch für die jüngeren Semester lohnt sich die Lektüre des hier besprochenen Urteils des OVG Hamburg (Az. Beschl. v. 20.12.2019, Az. 1 Bs 6/20): Mit einem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz und Fragen der tauglichen Ermächtigungsgrundlage werden insbesondere Fragen des allgemeinen Verwaltungsrechts relevant.
Sachverhalt: (verkürzt und abgewandelt)
Eine 16-jährige Schülerin nahm am Schulunterricht ihrer Berufsschule in Hamburg nur vollverschleiert teil, d.h. sie trug während des Unterrichts einen Gesichtsschleier (Niquab), der nur die Augen ausspart. Auch nach mehrmaliger Aufforderung durch Lehrkräfte und Schulleitung, während der Unterrichtszeiten keinen Gesichtsschleier zu tragen, erschien die Schülerin mit unveränderter Bekleidung zum Unterricht.
Daraufhin forderte die Schulaufsichtsbehörde in einem Bescheid die Mutter der Schülerin dazu auf, dafür zu sorgen, dass ihre Tochter künftig ohne Gesichtsschleier zur Schule erscheint. Ihre Tochter sei schulpflichtig und es sei Aufgabe der Mutter, dafür zu sorgen, dass ihre Tochter regelmäßig am Unterricht teilnehme. Die Teilnahme erfordere aber, dass eine volle Kommunikation und aktive Mitwirkung am Unterrichtsgeschehen möglich sei, was der Gesichtsschleier aber verhindere. Die sofortige Vollziehung wurde angeordnet. Dies sei aufgrund des erheblichen öffentlichen Interesses an der Erfüllung der Schulpflicht erforderlich.
Gegen diesen Bescheid legte die Mutter fristgerecht den (unterstellt) erforderlichen Widerspruch ein und stellte einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs. Sie trägt vor, das Tragen des Schleiers sei Ausdruck der religiösen Überzeugung ihrer Tochter und werde von ihr als verpflichtendes religiöses Gebot angesehen. Auch fehle eine gesetzliche Grundlage für das Verbot der Vollverschleierung im Rahmen des Schulunterrichts.
Wie wird das Gericht über den zulässigen Antrag entscheiden?
Entscheidung
Es handelt sich vorliegend um einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 S. 1 Var. 2 VwGO. Dies folgt daraus, dass die Antragstellerin in der Hauptsache im Wege einer Anfechtungsklage gegen den Bescheid vorgehen müsste und der Widerspruch aufgrund der Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO keine aufschiebende Wirkung hat.

Anm.: Ein Antrag nach § 123 VwGO ist demgegenüber subsidiär, § 123 Abs. 5 VwGO. In der Klausur sind die verschiedenen Möglichkeiten vorläufigen Rechtsschutzes kurz voneinander abzugrenzen, wobei in Fällen wie diesem die Zuordnung zu § 80 V VwGO recht eindeutig ist, sodass die Ausführungen nicht zu lang sein sollten.

Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist formell rechtmäßig, insbesondere hinreichend begründet gemäß den Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO.

Beachte: Für die formelle Rechtmäßigkeit einer Anordnung der sofortigen Vollziehung kommt es nicht darauf an, dass die Begründung inhaltlich tragfähig ist. Entscheidend ist allein, dass die Beweggründe der Behörde in einer auf den Einzelfall bezogenen Art und Weise, d.h. nicht nur durch Wiederholung des Gesetzestextes oder Verwendung bloßer Floskeln, dargelegt sind.

Daher hat der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nur Erfolg, wenn eine Interessenabwägung ergibt, dass das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin dem Vollzugsinteresse der Behörde überwiegt. Dies richtet sich in erster Linie nach den Erfolgsaussichten in der Hauptsache – d.h. kurzgefasst, der Antrag hat Erfolg, wenn der Bescheid offensichtlich rechtswidrig ist und die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt.

Anm.: In der Klausur sollte hier auf die richtige Terminologie geachtet werden: Geprüft wird nicht die materielle Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung. Vielmehr nimmt das Gericht eine eigene Interessenabwägung vor und ist dabei nicht an die Angaben der Behörde gebunden.

Das OVG Hamburg verneint hier bereits das Bestehen einer tauglichen Ermächtigungsgrundlage.Nach § 41 Abs. 1 S. 1 HmbSG sei es zwar möglich, an die Erziehungsberechtigten bei mehrfacher Nichtteilnahme am Unterricht durch schulpflichtige Schüler eine sog. Schulbesuchsverfügung zu erlassen. Nicht eindeutig ist hierbei aber, was unter „Teilnahme“ am Unterricht zu verstehen ist, insbesondere ob dies nur die körperliche Anwesenheit oder auch die aktive Mitwirkung am Unterricht erfordert (siehe hierzu Rz. 14 ff. der Entscheidung).
Selbst wenn man aber davon ausgeht, dass schon eine Nichtteilnahme vorliegt, wenn der Schüler zwar körperlich anwesend ist, aber nicht aktiv am Unterrichtsgeschehen mitwirkt, sei diese Voraussetzung nicht erfüllt, wenn jemand einen Gesichtsschleier trägt: Die Antragsgegnerin trägt zwar vor, durch die Verschleierung sei eine Kommunikation nicht möglich, sodass schon von einer Nichtteilnahme am Unterricht auszugehen sei. Dem hält das OVG Hamburg entgegen:
„Infolge der beim Niqab noch freien Augen ist durchaus eine nonverbale Kommunikation über einen Augenkontakt möglich; auch eine Gestik (z.B. Melden, Nicken mit dem Kopf oder Schütteln des Kopfes) ist, wenn auch in eingeschränkter Weise, möglich (dieses – wohl aufgrund der Annahmen aus einem konkreten Bezugsfall – eher verneinend: Thorsten Anger, Islam in der Schule, Diss. jur., 2003, S. 199 ff.). Im übrigen ist weder substantiiert geltend gemacht worden noch ersichtlich, dass eine NiqabTrägerin nicht verbal mit Gesprächspartnern, seien es Lehrer oder Mitschüler, kommunizieren könnte.“ (Rz. 18)
Somit ist die Voraussetzung der mehrfachen Nichtteilnahme am Unterricht nicht erfüllt und § 41 Abs. 1 S. 1 HmbSG scheidet als Ermächtigungsgrundlage für den Bescheid aus.

Anm: Das VG Hamburg war zusätzlich noch davon ausgegangen, dass hier die unzuständige Behörde gehandelt hatte. Ob dem tatsächlich so ist, wird in der Entscheidung des OVG Hamburg bezweifelt (Rz. 9 ff.), konnte aber offen bleiben, da inzwischen jedenfalls die zuständige Widerspruchsbehörde einen Widerspruchsbescheid erlassen hatte.

Die Antragsgegnerin stützte den Bescheid hilfsweise auf die polizeiliche Generalklausel (§ 3 Abs. 1 SOG) und sah in dem „Nichtgelingen einer schulischen Qualifikation“ und der Wahrscheinlichkeit der späteren Inanspruchnahme von Sozialleistungen eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Indes ist schon zu bezweifeln, ob die Voraussetzungen der Norm bei Nichterreichen eines Schulabschlusses überhaupt erfüllt wären. Jedenfalls würde dies jedoch gerade auf einem Ausschluss vom Unterricht aufgrund der Vollverschleierung beruhen – ob ein solcher möglich ist, ist aber gerade fraglich. Im Übrigen scheidet ein Rückgriff auf die polizeiliche Generalklausel auch aufgrund der Spezialität des HmbSG aus.
Weitere Reglungen kommen hier nicht in Betracht, sodass eine Ermächtigungsgrundlage für den Bescheid nicht besteht.
In der Ausgangsentscheidung ist das VG Hamburg weiterhin darauf eingegangen, ob nach der jetzigen Rechtslage unmittelbar von der Tochter eine Teilnahme am Schulunterricht ohne Gesichtsschleier verlangt werden könnte. Dies wurde mit überzeugenden Argumenten verneint und auch vom OVG nicht beanstandet:
Zwar bedarf nicht jede Regelung durch Lehrkräfte im Schulbetrieb einer expliziten gesetzlichen Grundlage. Insbesondere soweit Grundrechte der Schüler betroffen sind, ist jedoch die Wesentlichkeitstheorie zu beachten, nach der der parlamentarische Gesetzgeber insbesondere grundrechtsrelevante Fragestellungen selbst zu regeln hat. (Anm: in der Klausur sollte hier kurz auf die Geltung von Grundrechten in Sonderstatusverhältnissen eingegangen werden)
„„Wesentliche Entscheidungen“ zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie den grundrechtsrelevanten Bereich betreffen und wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte sind (BVerfG, Beschluss vom 20.10.1981, a.a.O., juris Rn. 44). Insbesondere bedarf die Einschränkung der vorbehaltlos gewährleisteten Glaubensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage“ (VG Hamburg, Az. 2 E 5812/19, Rz. 53).
Das Tragen des Gesichtsschleiers während des Unterrichts weist Grundrechtsrelevanz im Hinblick auf die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG der Schüler auf. In deren Schutzbereich wird eingegriffen, wenn der Betroffene gegen ein religiöses Verhaltensgebot, dass aus seiner Sicht zwingenden Charakter hat, verstoßen würde. Hierfür kommt es nicht darauf an, dass eine Vielzahl von Anhängern desselben Glaubens das Gebot für zwingend erachtet:
„Insoweit sind jedoch auch minder verbreitete religiöse Bekleidungsvorschriften zu beachten, die der oder die Betroffene für sich für verbindlich hält. Deshalb kann auch das Tragen einer Bedeckung in Form des Niqabs, d.h. eines Gesichtsschleiers, wie sie heute noch im Jemen und Saudi-Arabien verbreitet ist und von fundamentalistischen Muslimen gefordert bzw. empfohlen wird (…)dem Schutz der Religionsfreiheit unterfallen.“ (VG Hamburg, Az. 2 E 5812/19, Rz. 48).
Vorliegend war davon auszugehen, dass es sich bei den Bekleidungsvorschriften aus Sicht der 16-jährigen Schülerin um ein imperatives Gebot handelte. Verlangt man von ihr, ohne den Gesichtsschleier zum Unterricht zu erscheinen, um ihre Schulpflicht zu erfüllen, so handelt es sich um eine grundrechtsrelevante und damit wesentliche Entscheidung. Zu fordern ist daher eine spezielle Rechtsgrundlage, die im Hamburger Schulgesetz gegenwärtig nicht existiert. Nach jetziger Rechtslage wäre die Anordnung, ohne Gesichtsschleier zum Unterricht zu erscheinen, daher rechtswidrig.
Ob ein entsprechendes Gesetz verfassungskonform wäre, war hier nicht zu entscheiden.
Der Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Antragstellerin als Adressatin des Verwaltungsakts jedenfalls in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG. Die Anfechtungsklage wäre somit erfolgreich.Eine weitere Interessenabwägung ist nicht erforderlich – am Vollzug eines rechtswidrigen Bescheids besteht kein schützenswertes Interesse. Das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin überwiegt, das Gericht wird gem. § 80 Abs. 5 S. 1 Var. 2 VwGO die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wiederherstellen.
Was bleibt?
Das Urteil bietet einen idealen Ausgangspunkt für eine Klausur im Verwaltungsrecht, um die Grundlagen des Verfahrens im vorläufigen Rechtsschutz zu prüfen. Besondere Schwierigkeiten insbesondere im Hinblick auf den Aufbau als auch auf die Ermächtigungsgrundlage ergeben sich daraus, dass die Mutter der Schülerin, nicht aber die Schülerin selbst Adressatin des Bescheids ist. Zuletzt werden auch grundrechtliche Fragestellungen relevant, sodass es sich in jedem Fall lohnt, sich mit der Entscheidung auseinanderzusetzen.

25.02.2020/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2020-02-25 08:53:512020-02-25 08:53:51OVG Hamburg: Verbot der Vollverschleierung in der Schule
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