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Schlagwortarchiv für: GG

Dr. Philip Musiol

BayVGH zum „Kreuzerlass”

Examensvorbereitung, Für die ersten Semester, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) entschied schon im Juni diesen Jahres über die rechtliche Zulässigkeit einer Regelung, die Landesbehörden aufgibt, ein Kreuz im Eingangsbereich anzubringen (BayVGH, Urt. v. 01.06.2022 – 5 N 20.1331; 5 B 22.674). In der Zwischenzeit befasste sich der BayVGH mit Anträgen auf Zulassung der Berufung zur Entfernung der Kreuze von mehreren Einzelpersonen (BayVGH, Beschl. v. 23.08.2022 – 5 ZB 20.2243). Nunmehr sind die Entscheidungsgründe veröffentlicht. Nachdem sich das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in jüngerer Vergangenheit im Kontext von Kopftuchverboten mit dem Verhältnis von staatlicher Neutralitätspflicht und (negativer) Religionsfreiheit befasste, wird das Problemfeld von dem BayVGH aus einer anderen Perspektive betrachtet, die nicht weniger prüfungsrelevant ist.

I.             Der Sachverhalt

Die Bayerische Staatsregierung bestimmte mit Erlass aus dem Jahr 2018, dass in Dienstgebäuden im Freistaat Bayern als „Ausdruck der kulturellen Prägung Bayerns“ gut sichtbar ein Kreuz im Eingangsbereich anzubringen sei, § 28 Allgemeine Geschäftsordnung für die Behörden des Freistaats Bayern (AGO). Daneben bestimmt § 36 AGO: „Gemeinden, Landkreisen, Bezirken und sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts wird empfohlen, nach dieser Geschäftsordnung zu verfahren“.

Mehrere Einzelpersonen und zwei als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfasste Weltanschauungsgemeinschaften (Bund für Geistesfreiheit Bayern; Bund für Geistesfreiheit München) wendeten sich gegen die Umsetzung dieses sogenannten „Kreuzerlasses“ der Bayerischen Staatsregierung. Sie beantragten, bei der Bayerischen Staatskanzlei die Entfernung der im Eingangsbereich der Dienstgebäude angebrachten Kreuze. Ferner beantragten sie, den Gemeinden, Landkreisen, Bezirken und sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts zu empfehlen, ebenso zu verfahren. Die Einzelpersonen sahen sich in ihrer negativen Religionsfreiheit verletzt. Die Weltanschauungsgemeinschaften trugen vor, dass auch sie in ihrer negativen Religionsfreiheit und in ihrem Recht auf Gleichbehandlung verletzt seien. Hierdurch werde eine bestimmte Religionsgemeinschaft bevorzugt. Der Staat habe auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten. Die Bayerische Staatskanzlei half den Anträgen nicht ab. Die Kläger verfolgten diese Begehren vor dem Verwaltungsgericht München im Wege der Allgemeinen Leistungsklage weiter. Das Verwaltungsgericht trennte die Verfahren ab und behandelte sie getrennt voneinander. Schließlich wies das Verwaltungsgericht wies die Klagen der Weltanschauungsgemeinschaften und der Einzelpersonen ab, der „Kreuzerlass“ blieb also in Kraft.

II.            Die Entscheidung

Die Berufung der klagenden Einzelpersonen und der Weltanschauungsgemeinschaften vor dem BayVGH blieb ohne Erfolg.

Zunächst zu der Klage der Einzelpersonen: Zum einen könnten sich die Kläger nicht gegen die Verwaltungsvorschrift wenden, da diese keine Außenwirkung entfalte. Als Anknüpfungspunkt kommen also nur die behördlichen Umsetzungsakte in Betracht. Der BayVGH entschied, dass die Klage schon unzulässig sei, da die Kläger nicht klagebefugt gemäß § 42 Abs. 2 VwGO seien, der analog auch für die Allgemeine Leistungsklage gelte. Da es keine „generelle“ Allgemeine Leistungsklage gäbe, hätten die Kläger substantiiert vortragen müssen, durch welche Kreuze sie konkret in ihren Rechten betroffen seien. Hieran fehle es, da die Kläger pauschal die Entfernung der Kreuze aus den Dienststellen verlangt hatten. Dieses Begehren richteten sie an die Bayerische Staatskanzlei, hierin sah der BayVGH allerdings keine konkludente Konkretisierung darauf, dass man sich insbesondere gegen das Kreuz im Eingangsbereich der Staatskanzlei richte – wie von den Klägern im Verfahren vorgetragen wurde. Stattdessen sei der Antrag der Kläger „offensichtlich“ nur deshalb an die Staatskanzlei gerichtet worden, weil diese die Bayerische Staatsregierung u.a. bei ihren verfassungsmäßigen Aufgaben unterstützt.

Die Klage sei auch nicht deshalb zulässig, weil die Kläger bei Betreten jedes staatlichen Dienstgebäudes in Bayern potentiell betroffen sein könnten. Insoweit handele es sich der Sache nach um vorbeugenden Rechtsschutz, sodass es zumindest einer möglichen künftigen Verletzung in eigenen Rechten bedarf. Mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG ist vorbeugender Rechtsschutz zulässig, wenn ein besonders schützenswertes Interesse gerade hieran besteht, weil der Verweis auf nachgehenden Rechtsschutz mit für die Kläger unzumutbaren Nachteilen verbunden wäre. Der BayVGH hielt diese Voraussetzungen für nicht erfüllt, da es an einem Eingriff in das Grundrecht auf negative Religionsfreiheit der Kläger fehle. Die Anbringung eines Kreuzes durch staatliche Stellen könne nur dann als Eingriff in das Grundrecht eines Einzelnen aus Art. 4 Abs. 1 GG und Art. 107 Abs. 1 BV gewertet werden, wenn der Einzelne durch eine vom Staat geschaffene Lage ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens oder seiner Symbole ausgesetzt wird. Hieraus ergebe sich zunächst, dass ein Eingriff in das Grundrecht des Art. 4 Abs. 1 GG nicht automatisch schon immer dann vorliegt, wenn der Staat gegen seine objektiv-rechtliche Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität verstoßen sollte. Die Kläger würden durch das Anbringen eines Kreuzes im Eingangsbereich staatlicher Dienststellen nicht dem Einfluss eines bestimmten Glaubens oder seiner Symbole in grundrechtswidriger Weise ausgesetzt. Denn zum einen handele es sich bei dem Kreuz an der Wand um ein im wesentlichen passives Symbol ohne missionierende oder indoktrinierende Wirkung. Zum anderen handele es sich bei dem Eingangsbereich eines Dienstgebäudes um einen Durchgangsbereich, der nicht dem längeren Verweilen der Bürger diene. Zwar ginge die Konfrontation mit dem Kreuz vom Staat aus. Dennoch befinde sich das Kreuz nur im Eingangsbereich, der Bürger werde also nicht unmittelbar bei der Ausführung staatlicher Aufgaben mit dem Kreuz konfrontiert. Hierdurch unterscheide sich der Sachverhalt etwa von Kreuzen in Unterrichtsräumen, bei denen der Bürger über einen längeren Zeitraum gerade im Zusammenhang mit staatlichen Aufgaben mit religiösen Symbolen konfrontiert sei.

Eine Verletzung der Kläger in ihren subjektiven Rechten sei auch nicht wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität anzunehmen. Hierbei handelt es sich um ein objektives Verfassungsprinzip, das als solches keine einklagbaren subjektiven Rechte der Kläger begründet. Der Verstoß gegen objektive Verfassungsprinzipien kann nicht im Wege der allgemeinen Leistungsklage geltend gemacht werden, die dem Schutz der subjektiven Rechte des Klägers dient.

Auch die Berufung der beiden Weltanschauungsgemeinschaften blieb ohne Erfolg: Der BayVGH hielt die Klagen für zulässig, aber unbegründet. Der BayVGH stellte zunächst fest, dass das Grundrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG sowie das Rechts auf Gleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG nach Art. 19 Abs. 3 GG auch Weltanschauungsgemeinschaften zusteht und hielt eine Verletzung dieser Rechte zumindest für möglich. Aus dem Grundsatz der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates, der sich aus einer Zusammenschau der Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3, Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1, Abs. 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV ableiten lässt, folge, dass der Staat auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten habe. Wo er mit Religionsgemeinschaften zusammenarbeitet oder sie fördert, dürfe dies nicht zu einer Identifikation mit bestimmten Religionsgemeinschaften oder zu einer Privilegierung bestimmter Bekenntnisse führen. Auf der Ebene der Begründetheit kam der BayVGH gleichwohl zu dem Ergebnis, dass eine Verletzung besagter Rechte nicht vorliege, obwohl die objektiv-rechtliche Neutralitätspflicht des Staates verletzt werde. Durch die Anbringung der Kreuze in den Eingangsbereichen der staatlichen Dienstgebäude werde das Symbol des christlichen Glaubens in einem öffentlich zugänglichen staatlichen Raum präsentiert. Die Symbole anderer Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften werden nicht in gleicher Weise ausgestellt. Hierin liege eine sachlich nicht begründete Bevorzugung des christlichen Symbols. Zwar berief sich der Freistaat Bayern darauf, dass das in Dienstgebäuden anzubringende Kreuz als Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns zu verstehen sei. Jedoch könne der Freistaat keine Deutungshoheit über das Symbol beanspruchen. Nach dem maßgeblichen Empfängerhorizont eines Besuchers könne das Kreuz im Sinne einer Nähe zum Christentum interpretiert werden. Erneut betonte das Gericht, dass die Pflicht des Staates zur weltanschaulich-religiösen Neutralität ein objektiv-rechtliches Verfassungsprinzip sei, das als solches keine einklagbaren subjektiven Rechte der Kläger als Weltanschauungsgemeinschaften begründe. Subjektiven Schutz gegen eine staatliche Maßnahme, die zugleich gegen die Neutralitätspflicht verstößt, können Weltanschauungsgemeinschaften wie die Kläger erst dann beanspruchen, wenn nicht bloß eine Berührung des Schutzbereichs, sondern ein nicht gerechtfertigter, benachteiligender Eingriff in die Grundrechte vorliegt, aus denen das Verfassungsprinzip hergeleitet wird, nämlich aus Art. 4 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Die strittige Maßnahme hebe zwar objektiv ein Symbol des christlichen Glaubens hervor. Damit sei aber keine Einmischung in das subjektive Recht der Kläger zu religiöser oder weltanschaulicher Betätigung, zur Verbreitung ihrer Weltanschauung sowie zu deren Pflege und Förderung verbunden. Das Anbringen von Kreuzen erfolge auch nicht im Benehmen und im erkennbaren Interesse christlicher Kirchen. Das Kreuz als christliches Symbol könne seiner religiösen Bedeutung jedoch nicht entkleidet werden. Gleichwohl gäbe es daneben weitere, z.B. historische oder kulturelle Deutungsmöglichkeiten. Jedenfalls sei weder nach dem Wortlaut von § 28 AGO noch nach dem prozessualen Vorbingen des Freistaats Bayern von diesem eine Identifikation mit christlichen Glaubensinhalten und christlichen Glaubensgemeinschaften oder eine Bezugnahme auf den christlichen Glauben bei der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben und Befugnisse beabsichtigt. Auch seien die Kreuze im Eingangsbereich von Dienstgebäuden anzubringen, wo keine inhaltliche Wahrnehmung behördlicher Aufgaben stattfinde und daher keine hinreichende Verknüpfung zwischen staatlicher Aufgabenerfüllung und Verwendung des christlichen Symbols gegeben sei. Abermals stellte der BayVGH darauf ab, dass dem Kreuz keine missionierende oder indoktrinierende Wirkung zukomme, wodurch die Weltanschauungsfreiheit der beiden Kläger nicht beeinträchtigt werde. Daher nehme der Staat keinen grundrechtsrelevanten Einfluss auf den Wettbewerb der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften untereinander.

III.          Einordnung der Entscheidung

Die Entscheidung ist im Kontext zu den Entscheidungen des BVerfG zum Kopftuchverbot für Referendarinnen und zu dem Beschluss des BVerfG zur Zulässigkeit eines Kreuzes im Klassenzimmer (BVerfG, Beschl. v. 16.5.1995 – 1 BvR 1087/91) zu sehen.

Auf prozessualer Ebene ist herauszuarbeiten, dass Verwaltungsvorschriften keine Außenwirkung haben und deshalb nur die behördlichen Umsetzungsakte angegriffen werden können. Insoweit kann die Frage aufgeworfen werden, ob durch die gewählte Handlungsform ein Verstoß gegen die Wesentlichkeitstheorie vorliegt. Dass der BayVGH dies nicht annahm, ist angesichts des Umstands, dass er schon die Eingriffswirkung der Maßnahme ablehnte, konsequent.

Materiell ist klar zwischen einem Verstoß gegen objektive Verfassungsprinzipien und der Betroffenheit in subjektiven Rechten zu unterscheiden. Für einen Eingriff in die negative Religionsfreiheit der Bürger durch die Verwendung religiöser Symbole durch staatliche Stellen kommt es nach gefestigter Rechtsprechung darauf an, ob der Bürger den Symbolen in einer unausweichlichen Art und Weise „ausgeliefert“ ist. Dies verneinte der BayVGH hier, da das Kreuz „nur“ in dem Eingangsbereich der Behörden aufzuhängen war. Zwar ist richtig, dass der Bürger damit nicht bei der unmittelbaren Behördentätigkeit mit dem Kreuz konfrontiert wird (wie etwa bei einem Kreuz im Klassenzimmer oder im Gerichtssaal). Der Bürger werde im Eingangsbereich, der häufig ein Durchgangsbereich sei, nur „flüchtig“ mit dem Kreuz konfrontiert. Gleichzeitig erkennt der BayVGH an, dass die Kreuze in sämtlichen Behördengebäuden anzubringen seien. Hieraus folgert er lediglich, dass es sich um vorbeugenden Rechtsschutz handele, weil die Kläger nicht hinreichend konkretisiert hätten, durch welches Kreuz sie betroffen seien. Zu diskutieren wäre wohl auch, ob nicht dadurch, dass in jedem Behördengebäude ein Kreuz angebracht ist, der Eindruck erweckt wird, dass sämtliches behördliche Handeln „im Angesichts des Kreuzes“ erfolge. Da jeder Bürger im Laufe seines Lebens darauf angewiesen ist, behördliche Gebäude zu besuchen (Beantragen von Ausweisdokumenten etc.), kann insoweit durchaus von einem gewissen Ausgeliefertsein ausgegangen werden. Unabhängig davon, ob man hier einen Eingriff annimmt, sollte deutlich werden, dass die Bearbeitung zwischen einer Verletzung von objektiven, nicht einklagbaren Verfassungsprinzipien und einer Verletzung von subjektiven Rechten unterscheidet.

Auch das der BayVGH dem Kreuz „keine missionierende oder indoktrinierende“ Wirkung beimisst, ist zumindest fragwürdig, handelt es sich doch um das zentrale Symbol des christlichen Glaubens für das Leiden Christi. Hier ist Argumentationsarbeit gefragt, auch ein Hinweis darauf, dass dem Freistaat Bayern hier keine Interpretationshoheit zukommt, sollte in einer Klausur nicht fehlen.

12.09.2022/1 Kommentar/von Dr. Philip Musiol
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Philip Musiol https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Philip Musiol2022-09-12 12:24:572022-10-24 14:39:30BayVGH zum „Kreuzerlass”
Dr. Philip Musiol

Ein Königreich für eine Gaststättenlizenz – OVG Münster zur Zulässigkeit der Schließung des Vereinslokals des „Königreichs Deutschland“

Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verwaltungsrecht

Mit Beschluss vom 12.08.2022 (Az.: 4 B 61/21) entschied das OVG Münster im Eilverfahren unter anderem über die Zulässigkeit der Schließung und Versiegelung einer Gaststätte. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Entscheidung lohnt sich nicht nur angesichts des ungewöhnlichen Sachverhalts: Denn der Fall führt quer durch das gesamte Öffentliche Recht, was ihn für Prüfungsämter besonders interessant machen dürfte. Der Kern des Falls liegt im Ordnungs- und Verwaltungsvollstreckungsrecht, daneben stellen sich prozessuale und sogar völkerrechtliche Fragen. Dass der Schwerpunkt einer Examensklausur im Völkerrecht liegt, ist zwar genauso unwahrscheinlich, wie dass hierin vertiefte Kenntnisse erwartet werden. Trotzdem sehen die Prüfungsordnungen der meisten Bundesländer vor, dass zumindest „völkerrechtliche Bezüge“ Teil des Pflichtfachstoffs sind, s. etwa § 18 Abs. 2 Nr. 5 lit. a JAPO (Bayern).

I.             Der Sachverhalt

Die Antragstellerin betrieb in Köln eine Gaststätte, die sie als „Zweckbetrieb“ des „Königreichs Deutschland“ als Vereinslokal ohne gaststättenrechtliche Genehmigung führen wollte. Sie wies ihre Gäste darauf hin, dass das Lokal nur von „Staatsangehörigen und Zugehörigen des Königreichs Deutschland“ betreten werde dürfe, und dass die Gäste mit dem Betreten des Lokals temporär „Zugehörige des Königreichs Deutschland“ seien. Noch am Tag der Eröffnung kam es zu Verstößen gegen Hygienevorschriften zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie. Die Antragstellerin war der Ansicht, dass neben dem Recht des „Königreichs Deutschland“ keine weiteren Rechte und Pflichten – insbesondere nicht die Gesetze der Bundesrepublik – zu beachten seien. Nachdem es am Folgetag erneut zu Verstößen kam, schloss die Stadt Köln das Lokal und versiegelte es. Hiergegen ging die Antragstellerin um Eilverfahren vor. Im Rahmen des Eilverfahren beantragte sie „sinngemäß“, das „Königreich Deutschland“ beizuladen.

II.            Die Entscheidung

Das OVG entsprach dem Antrag, das „Königreich Deutschland“ beizuladen nicht. Dafür hätten die rechtlichen Interessen des „Königreichs“ als Drittem nach § 65 Abs. 1 VwGO durch die Entscheidung berührt werden müssen. Ein rechtliches Interesse besteht, wenn der Dritte in einer solchen Beziehung zu einem Hauptbeteiligten des Verfahrens oder zu dem Streitgegenstand steht, dass das Unterliegen eines der Hauptbeteiligten seine Rechtsposition verbessern oder verschlechtern könnte. Nach den Feststellungen des Gerichts fehlte es hieran, denn Betreiberin der Gaststätte war allein die Antragstellerin selbst, ebenso war sie allein Mieterin der Räumlichkeiten. Zur Untervermietung der Räumlichkeiten an das „Königreich Deutschland“ war sie dagegen ausdrücklich nicht berechtigt. Auch für das Vorbringen der Antragstellerin, dass sie das Lokal als „Zweckbetrieb“ für das „Königreich Deutschland“ betreibe, sah das OVG Münster „keine nachvollziehbare Grundlage im geltenden Recht“: An dieser Stelle thematisierte das OVG, ob es sich beim „Königreich Deutschland“ um einen Staat im Sinne des Völkerrechts handele. Maßgeblich für das Bestehen eines Staates ist das Vorhandensein eines Staatsvolks, eines Staatsgebiets und einer souveränen Staatsgewalt. Erforderlich ist, dass sich ein auf einem bestimmten Gebiet sesshaftes Volk unter einer selbstgesetzten, von keinem Staat abgeleiteten, effektiv wirksamen und dauerhaften Ordnung organisiert hat. Da das „Königreich Deutschland“ weder völkerrechtlich als Staat anerkannt ist noch über ein eigenes Staatsgebiet verfügt, handelt es sich um keinen Staat im Sinne des Völkerrechts. Daneben könne sich das „Königreich Deutschland“ dafür, dass Zweckbetriebe durch abhängige Inhaber betrieben werden, nicht auf Art. 9 Abs. 1 GG berufen. Der Schutzbereich des Art. 9 Abs. 1 GG sei nicht eröffnet, weil keine „dem in Deutschland geltenden Recht entsprechende Organisationsform erkennbar“ sei, aus der das „Königreich Deutschland“ auf Grundlage von Art. 9 GG eigene Rechte ableiten könnte.

Nach Ansicht des OVG Münster war die Schließung und Versiegelung des Lokals als Zwangsmaßnahme durch die Stadt Köln rechtmäßig. Die Maßnahme stützte sich dabei auf §§ 55 Abs. 2, 57 Abs. 1 Nr. 3, 62, 66, 69 VwVG NRW, es handelte sich also um eine Maßnahme des sofortigen Vollzuges, mit der einer Gefahr begegnet werden sollte, die aufgrund außergewöhnlicher Dringlichkeit des behördlichen Eingreifens ein gestrecktes Verfahren nicht zugelassen hätte. Die Voraussetzungen hierfür lagen vor, die Stadt Köln war zu der im Wege der Versiegelung vollstreckten Schließung des Gaststättenbetriebs nach § 31 GastG iVm. § 15 Abs. 2 S. 1 GewO befugt. Nach § 31 GastG iVm. § 15 Abs. 1 S. 1 GewO kann die Fortsetzung des Betriebes von der zuständigen Behörde verhindert werden, wenn ein Gewerbe, zu dessen Ausübung eine Erlaubnis, Genehmigung, Konzession oder Bewilligung (Zulassung) erforderlich ist, ohne diese Zulassung betrieben wird. Nach § 2 Abs. 1 GastG bedarf der Betrieb eines Gaststättengewerbes einer Erlaubnis. Ob eine Gaststätte vorliegt, richtet sich nach § 1 GastG. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass die Antragstellerin eine genehmigungspflichtige Gaststätte betrieb. Eine Ausnahme ergebe sich nicht aus § 23 Abs. 2 S. 1 GastG: Denn hierfür hätte das Lokal einem Verein im Sinne des BGB überlassen sein müssen, was, wie eingangs festgestellt, nicht der Fall war. Damit wäre eine Genehmigung erforderlich gewesen, die – unstreitig – nicht vorlag.

Die Antragstellerin war auch richtige Adressatin der Maßnahme, da sie allein Betreiberin der Gaststätte war. Dem „Königreich Deutschland“ standen keine Rechte an dem Betrieb zu, stattdessen war die Antragstellerin wie gesehen Vertragspartnerin des Mietvertrags sowie Vertragspartnerin sämtlicher Lieferanten.

Auch war die Anwendung von Verwaltungszwang für die Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr notwendig. Einerseits handelte es sich angesichts der fehlenden Genehmigung um einen formell rechtswidrigen Gaststättenbetrieb. Andererseits wäre der Betrieb einer Gaststätte durch die Antragstellerin auch materiell rechtswidrig, die Antragstellerin sei „unzuverlässig“ im Sinne des Gewerberechts. Unzuverlässig ist ein Gewerbetreibender, der nach dem Gesamteindruck seines Verhaltens nicht die Gewähr dafür bietet, dass er sein Gewerbe künftig ordnungsgemäß betreibt. Eine Gaststättenbetreiberin, die sich nicht an geltendes Recht gebunden fühlt, bietet offenkundig nicht die Gewähr dafür, den Betrieb zukünftig in Übereinstimmung gerade mit diesem geltenden Recht zu führen. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Antragstellerin im Verfahren wohl mehrfach erkennen ließ, ausschließlich die Gesetze des „Königreichs Deutschland“ zu achten.

III.          Einordnung der Entscheidung

Erneut ist die Prüfungsrelevanz der Entscheidung hervorzuheben. Es handelt sich um ein Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz, wodurch sich prozessuale Schwierigkeiten stellen. Statthafte Antragsart gegen die Schließung und Versiegelung einer Gaststätte im Wege des Sofortvollzuges ist nach Ansicht des VG Köln und des OVG Münster § 80 Abs. 5 VwGO. Auch muss sich mit der Frage, ob das „Königreich Deutschland“ beizuladen ist, auseinandergesetzt werden. Im Klausuraufbau geschieht dies eleganterweise zwischen der Prüfung der Zulässigkeit und der Begründetheit des Antrags. Hier sind Grundkenntnisse des Völkerrechts gefragt, es muss sauber begründet werden, wieso das „Königreich Deutschland“ kein Staat im Sinne des Völkerrechts ist, was mithilfe der Sachverhaltsinformationen gelingen dürfte. Abhängig davon, wie breit das Problem im Sachverhalt angelegt ist, könnten auch Ausführungen dazu gemacht werden, ob die Antragstellerin überhaupt dem deutschen Recht unterworfen ist. Ebenfalls muss in diesem Zusammenhang auf Art. 9 GG eingegangen werden. Hier macht es sich das OVG Münster augenscheinlich zu leicht, wenn es zur Ablehnung von Art. 9 GG schlicht darauf verweist, dass das „Königreich Deutschland“ nicht in einer Weise dem in Deutschland geltenden Recht entsprechenden Form organisiert sei. Auch wenn zur Definition einer „Vereinigung“ (als Gedächtnisstütze) auf § 2 Abs. 1 VereinsG zurückgegriffen wird, kann das einfache Recht das Verfassungsrecht nicht verbindlich definieren. Art. 9 Abs. 1 schützt mit dem (formalen) Begriff der Vereinigung auch – aus der Sicht des einfach-gesetzlichen Vereins- und Gesellschaftsrechts – atypische Zusammenschlüsse; Voraussetzungen für deren verfassungsrechtlichen Schutz ist allein, dass sie die verfassungsrechtlichen Begriffsmerkmale einer Vereinigung erfüllen (Scholz in Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 97. EL Januar 2022, Art. 9 GG Rn. 63). Soweit das Gericht darauf hinauswollte, dass Art. 9 GG einer Vereinigung kein Recht verleiht, in Gerichtsprozessen beigeladen zu werden, weil es hierfür auf die Rechtsfähigkeit der Vereinigung ankommt, wird dies dagegen nicht hinreichend deutlich. In einer Klausur sind solche Ungenauigkeiten zwingend zu vermeiden!

Zuzustimmen ist dem OVG Münster dagegen, soweit es im Rahmen der Frage, ob es sich um ein Vereinslokal handelt (§ 23 Abs. 2 S. 1 GastG), darauf hinweist, dass das „Königreich Deutschland“ nicht in einer Rechtsform nach deutschem Recht organisiert ist. Denn hierfür kommt es tatsächlich darauf an, dass es sich um einen Verein nach Bürgerlichem Recht handelt. Auch im Übrigen ist die Entscheidung nachvollziehbar. Das Gewerbe- und Gaststättenrecht dürfte zwar in der Examensvorbereitung nur in Grundzügen behandelt werden, es lohnt sich aber, sich zumindest einen Überblick über das Rechtsgebiet zu verschaffen. Dabei ist im Rahmen der Prüfung, ob eine Gaststätte eröffnet bzw. geschlossen werden darf im Grundsatz nach dem aus dem Baurecht bekannten Schema vorzugehen. Einerseits sind die Genehmigungspflichtigkeit und -fähigkeit des Vorhabens zu prüfen, andererseits, sofern es um die Schließung geht, die formelle und materielle Illegalität der Gaststätte.

Die Erteilung einer gaststättenrechtlichen Erlaubnis richtet sich nach §§ 2, 4 GastG, Rücknahme und Widerruf der Erlaubnis richten sich nach § 15 GastG. Im Grundsatz besteht ein Anspruch auf Erteilung der Erlaubnis, sofern nicht ein Versagungsgrund nach § 4 GastG vorliegt. Auf eben diese Versagungsgründe kommt es auch im Rahmen des § 15 GastG an, wonach die Erlaubnis zurückzunehmen bzw. zu widerrufen ist, wenn nachträglich ein entsprechender Grund eintritt bzw. bekannt wird. § 31 GastG enthält schließlich eine wichtige Verweisungsklausel auf die GewO, nachdem der im Fall entscheidende § 15 Abs. 2 S. 1 GewO, der die Schließung eines Gewerbes regelt, anwendbar ist. Zentral wird es in Klausuren zum Gaststätten- und Gewerberecht zumeist auf die Frage ankommen, ob ein Betreiber „zuverlässig“ ist.

29.08.2022/1 Kommentar/von Dr. Philip Musiol
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Philip Musiol https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Philip Musiol2022-08-29 07:55:552022-10-24 14:43:38Ein Königreich für eine Gaststättenlizenz – OVG Münster zur Zulässigkeit der Schließung des Vereinslokals des „Königreichs Deutschland“
Dr. Yannick Peisker

Masernimpfpflicht verfassungsmäßig – Klausurlösung

Aktuelles, Fallbearbeitung und Methodik, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Mit Beschluss vom 21. Juli 2022 hat das BVerfG entschieden, dass die Masernimpfpflicht nach § 20 IfSG verfassungsmäßig ist. Angesichts der noch ausstehenden Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Corona-Impfpflicht besitzt die Entscheidung nicht nur Bedeutung für Examenskandidaten, sondern eine weit darüberhinausgehende Relevanz für die Gesamtgesellschaft, womöglich auch mit nicht zu unterschätzender sozialer Sprengkraft. Ein Blick in die Entscheidungsgründe lohnt sich daher umso mehr.

Der hiesige Beitrag setzt sich mit der Entscheidung technisch auseinander und beinhaltet eine klausurmäßige Aufbereitung für Examenskandidaten, damit die Bausteine der Entscheidung im juristischen Gutachten auch an der richtigen Stelle verortet werden. Dort wo Ausführungen in der Klausurlösung nicht unbedingt erwartet werden können oder wo davon auszugehen ist, dass der Sachverhalt hierzu keine Angaben macht oder machen kann, werden einige Passagen der Entscheidungsbegründung ausgelassen. Diese lassen sich natürlich hier aber noch einmal in der gesamten Länge nachlesen. Angesichts der Ausführlichkeit der Entscheidung wird hier auf eine Darstellung der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde verzichtet. Stattdessen wird sich auf eine Prüfung der Begründetheit konzentriert.

A. Der Sachverhalt

Die Beschwerdeführer richten sich gegen mehrere Regelungen des § 20 IfSG, im Einzelnen gegen § 20 Abs. 8 S. 1-3; Abs. 9 S. 1 und 6; Abs. 12 S. 1 und 3 sowie gegen Abs. 13 S. 1 IfSG.

Abs. 8 der Vorschrift regelt, dass Personen, die in einer bestimmten Gemeinschaftseinrichtung betreut werden, einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern, oder aber eine Immunität aufweisen müssen. Diese Pflicht gilt auch dann, wenn ausschließlich sogenannte Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die also mehrere Impfstoffkomponenten gegen verschiedene Krankheiten beinhalten. Für Personen, die in einer solchen Einrichtung tätig werden, gilt dies nach § 20 Abs. 9 ebenso. Kann eine betreute oder beschäftigte Person einen entsprechenden Nachweis nicht vorlegen, darf sie nach § 20 Abs. 9 S. 6 und 7 weder in der Einrichtung tätig werden, noch dort betreut werden. Es handelt sich also um eine sogenannte mittelbare Impfpflicht, da kein unmittelbarer Impfzwang ausgeübt wird, sondern lediglich nachteilige Maßnahmen an die Nichtimpfung geknüpft werden. Zu einer Impfung selbst zwingt das Gesetz nicht unmittelbar. Der Nachweis ist nach Abs. 12 S. 1 dem zuständigen Gesundheitsamt vorzulegen, ist das Kind minderjährig, trifft diese Pflicht die Eltern (§ 20 Abs. 13 S. 1).

Die hiesigen Beschwerdeführer waren die Eltern mehrerer Kinder, die in einer solchen Gemeinschaftseinrichtung untergebracht werden sollten. Die minderjährigen Kinder sind nicht geimpft und verfügen auch über keine Immunität gegen Masern. Gerügt wird die Verletzung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit der Kinder (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) sowie eine Verletzung des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Die Entscheidung setzt sich damit ausschließlich mit der Impfpflicht für betreute Personen, nicht aber für Beschäftigte auseinander. Die Erwägungen des BVerfG lassen sich aber übertragen. Sollte der Klausursachverhalt auf die Beeinträchtigung der Grundrechte der dort Beschäftigten abzielen, kann daher ähnlich verfahren werden. Zu prüfen wäre dann eine Verletzung des Art. 12 GG neben einer Verletzung des Art. 2 GG.

B. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn die behauptete Grundrechtsverletzung besteht und der Beschwerdeführer in seinen Grundrechten verletzt ist.

I. Verletzung von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG

Zunächst könnte das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vorliegen. Dies wäre der Fall, wenn ein nicht gerechtfertigter Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts vorliegt.

1. Schutzbereich

Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG müsste eröffnet sein:

„Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schützt die körperliche Integrität des Grundrechtsträgers […]. Träger dieses Rechts ist „jeder“, mithin auch ein Kleinkind […]. Kindern kommt außerdem ein eigenes Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu (Art. 2 Abs. 1 GG). Dabei bedürfen sie des Schutzes und der Hilfe, um sich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten innerhalb der sozialen Gemeinschaft entwickeln zu können. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit verpflichtet den Gesetzgeber, die hierfür erforderlichen Lebensbedingungen des Kindes zu sichern. Diese im grundrechtlich geschützten Entfaltungsrecht der Kinder wurzelnde besondere Schutzverantwortung des Staates erstreckt sich auf alle für die Persönlichkeitsentwicklung wesentlichen Lebensbedingungen. Die vom Gesetzgeber näher auszugestaltende Schutzverantwortung für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes teilt das Grundgesetz zwischen Eltern und Staat auf. Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ist sie in erster Linie den Eltern zugewiesen […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 78-79.

Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ist mithin eröffnet.

2. Eingriff

Es müsste ein Eingriff in dieses Grundrecht vorlegen. Nach dem klassischen Eingriffsbegriff liegt ein Eingriff vor, wenn durch zielgerichtetes staatliches Handeln in Form eines Rechtsaktes, welcher mit Befehl und Zwang durchsetzbar ist, unmittelbar in grundrechtlich geschützte Positionen eingegriffen wird. Nach dem modernen Eingriffsbegriff kann ein Eingriff auch dann vorliegen, wenn ein grundrechtlich geschütztes Verhalten ganz oder teilweise unmöglich gemacht wird, unabhängig davon, ob die Wirkung final, unmittelbar, rechtlich erfolgt und mit Befehl und Zwang durchsetzbar ist, sofern die Grundrechtsbeeinträchtigung einer grundrechtsgebundenen Gewalt zugerechnet werden kann und nicht unerheblich ist. Nach diesen Maßstäben liegt hier ein Eingriff vor:

„Nach Art und Gewicht wirken die beanstandeten Vorschriften in einer Weise auf die den sorgeberechtigten Eltern anvertraute Sorge über die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder ein, dass sie als zielgerichteter mittelbarer Eingriff in das Recht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu bewerten sind. Die Masernschutzimpfung wirkt durch das Einbringen eines Stoffes und die damit verbundenen Nebenwirkungen auf die körperliche Integrität der Kinder ein. Zwar hindert das Infektionsschutzgesetz Eltern nicht daran, auf die Masernschutzimpfung bei ihren Kindern zu verzichten. Dadurch wäre eine gegenständliche Einwirkung auf die körperliche Integrität vermieden. Allerdings sind mit dieser Disposition über die körperliche Unversehrtheit der Kinder erhebliche nachteilige Folgen für diese verbunden. Wegen des in § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG angeordneten Betreuungsverbots verlieren sie ihren eingeräumten Anspruch auf frühkindliche oder vorschulische Förderung nach § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB VIII oder können diesen jedenfalls nicht mehr durchsetzen […]. Diesen Förderformen misst der Gesetzgeber aber selbst erhebliche Bedeutung für die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte kindliche Persönlichkeitsentwicklung zu. Wird eine solche Betreuung und Förderung ‒ wie vorliegend ‒ von den sorgeberechtigten Eltern gewünscht, geht von den bei Ausbleiben des Impfnachweises eintretenden Folgen ein starker Anreiz aus, die Impfung vornehmen zu lassen und damit auf die körperliche Unversehrtheit der Kinder durch die Verabreichung des Impfstoffs einzuwirken. Dieser vom Gesetzgeber intendierte Druck auf die Eltern, die Gesundheitssorge für ihre Kinder in bestimmter Weise auszuüben, kommt in seiner Wirkung dem unmittelbaren Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gleich. Da insbesondere der von dem Betreuungsverbot ausgehende Druck auf die entscheidungsbefugten Eltern nach den Vorstellungen des Gesetzgebers die Gestattung der Impfungen befördern soll, handelt es sich ebenfalls um einen zielgerichteten mittelbaren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Kinder.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 81

Mithin liegt ein Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vor.

3. Rechtfertigung

Eine Verletzung des Grundrechts liegt nicht vor, wenn der Eingriff gerechtfertigt ist, dies wäre der Fall, wenn das Gesetz formell und materiell verfassungsmäßig ist.

a) Wahrung des Gesetzesvorbehalts

In Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG darf nach S. 2 nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden, um ein solches handelt es sich bei den angegriffenen Regelungen des § 20 IfSG.

b) Formelle Verfassungsmäßigkeit

§ 20 IfSG müsste formell verfassungsmäßig sein.

aa) Zuständigkeit

Es handelt sich um ein Bundesgesetz, der Bund ist nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG zuständig, es handelt sich um eine Maßnahme gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren.

bb) Verfahren

Die Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Gesetzgebungsverfahren wurden eingehalten.

cc) Wahrung des Zitiergebots

Das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG wurde für Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in § 20 Abs. 4 GG gewahrt.

c) Materielle Verfassungsmäßigkeit

Das Gesetz müsste materiell verfassungsmäßig sein.

aa) Verstoß gegen Art. 20 GG

Die Regelung des IfSG wäre nur dann verfassungsmäßig, wenn sie nicht gegen die Grundsätze des Art. 20 GG verstößt. In Betracht kommt vorliegend ein Verstoß gegen das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip in Gestalt des Vorbehaltes des Gesetzes. Diese gebieten konkret, dass der Gesetzgeber die wesentlichen Fragen selbst regelt. Zum einen ist der Gesetzgeber geboten die Fragen zu regeln, die wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte sind, zum anderen die Regelungen, die für Staat und Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung sind.

„Diesen Anforderungen genügte § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG nicht, wenn er so zu verstehen wäre, dass § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG auch gilt, wenn nur Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die weitere Impfstoffkomponenten als die bei Verabschiedung des Gesetzes verfügbaren Impfstoffe enthielten […]. Der Wortlaut von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG enthält keine ausdrücklichen Beschränkungen von Impfstoffkomponenten „gegen andere Krankheiten“ als Masern, die in auch zur Masernimpfung verwendeten Kombinationsimpfstoffen enthalten sind. So verstanden, wirkte § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG ähnlich wie eine dynamische Verweisung, nach der die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung auch zukünftig bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Mehrfachimpfstoffen mit beliebig vielen weiteren Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten als Masern gölte. Die tatsächlichen Bedingungen der Erfüllung der Auf- und Nachweispflicht wären dann davon abhängig, welche Impfstoffe mit welchen Komponenten nach der jeweiligen Marktlage verfügbar sind. Dann fänden die tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten, den Pflichten aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG nachzukommen, jedoch keine hinreichende Grundlage mehr im Gesetz […]. Das Gewicht des Eingriffs in die hier betroffenen Grundrechte der Kinder und ihrer Eltern wird aber durch die Anzahl der in einem Kombinationsimpfstoff enthaltenen Impfstoffkomponenten mitbestimmt. Die Frage, durch welche Impfstoffe die Pflicht erfüllt werden kann, eine Masernimpfung auf- und nachzuweisen, ist daher wesentlich für die Grundrechte und grundsätzlich durch den Gesetzgeber zu klären. Inwieweit er darin den Verordnungsgeber einbeziehen kann, bestimmt sich nach Art. 80 Abs. 1 GG.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 96

Ein Verstoß kommt jedoch dann nicht in Betracht, wenn § 20 Abs. 8 S. 3 IfSG verfassungskonform ausgelegt werden kann:

„§ 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG kann verfassungskonform so auslegt werden, dass die Pflicht aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Kombinationsimpfstoffen nur dann gilt, wenn es sich dabei um solche handelt, die keine weiteren Impfstoffkomponenten enthalten als die gegen Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken. Allein auf Mehrfachimpfstoffe gegen diese Krankheiten beziehen sich die vom Gesetzgeber des Masernschutzgesetzes getroffenen grundrechtlichen Wertungen […]. Damit werden die Grenzen verfassungskonformer Auslegung nicht überschritten. Zwar enthält der Wortlaut von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG keine Beschränkung derjenigen Krankheiten, bezüglich derer Impfstoffkomponenten in einem Mehrfachimpfstoff enthalten sein dürfen. Durch die verfassungskonforme Beschränkung auf die vorgenannten Mehrfachimpfstoffkombinationen wird jedoch dem Gesetz weder ein entgegengesetzter Sinn verliehen, noch der normative Gehalt der Norm grundlegend neu bestimmt, oder das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt […].

So bietet die Entstehungsgeschichte der Vorschrift ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber die Erfüllung der Pflichten aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Mehrfachimpfstoffen auf die genannten Kombinationen beschränken wollte. Die Begründung des Gesetzentwurfs nennt allein Kombinationsimpfstoffe gegen Masern-Mumps-Röteln oder Masern-Mumps-Röteln-Windpocke […] und geht von der Anwendbarkeit von Satz 1 bei Verfügbarkeit nur dieser Kombinationsimpfstoffe aus. […] Die vom Paul-Ehrlich-Institut geführte Liste zugelassener Kombinationsimpfstoffe weist zudem aus, dass es sich bei den auch masernwirksamen Kombinationsimpfstoffen seit langem ausschließlich um solche mit den weiteren Komponenten gegen Mumps, Röteln und Windpocken handelt. Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber davon ausgegangen wäre, dass sich die seit Jahren unveränderte Lage dahingehend verändern könnte, dass sich Wirkstoffkombinationen der in Deutschland zugelassenen Masernimpfstoffe in absehbarer Zeit ändern und zu den Mumps-, Röteln- und Windpocken-Impfstoffkomponenten weitere hinzukommen könnten.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 98-100

Berücksichtigt man diese Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung, liegt kein Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes vor. Dieses Ergebnis der verfassungskonformen Auslegung ist auch für die nachfolgenden Ausführungen zu unterstellen, die Norm besitzt ausschließlich diesen Rechtsgehalt.

bb) Verhältnismäßigkeit der Regelung

Die angegriffenen Normen müssten auch verhältnismäßig sein. Dies ist der Fall, wenn der Gesetzgeber einen legitimen Zweck verfolgt, die Regelung zur Verfolgung dieses Zwecks geeignet und erforderlich ist und die Regelung angemessen ist, das heißt die Schwere des Eingriffs nicht außer Verhältnis zu den ihn rechtfertigenden Gründen steht.

(1) Legitimer Zweck

Der Gesetzgeber müsste einen legitimen Zweck verfolgen:

 „Die angegriffenen Vorschriften des Masernschutzgesetzes bezwecken einen verbesserten Schutz vor Maserninfektionen, insbesondere bei Personen, die regelmäßig in Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen mit anderen Personen in Kontakt kommen […]. Das soll nicht nur die Einzelnen gegen die Erkrankung schützen, sondern gleichzeitig die Weiterverbreitung der Krankheit in der Bevölkerung verhindern, was eine ausreichend hohe Impfquote in der Bevölkerung erfordert. So können auch Personen geschützt werden, die aus medizinischen Gründen selbst nicht geimpft werden können, bei denen aber schwere klinische Verläufe im Fall einer Infektion drohen. […] Zudem will der Gesetzgeber das von der Weltgesundheitsorganisation verfolgte Ziel unterstützen, die Masernkrankheit in den Mitgliedstaaten sukzessiv zu eliminieren, um die Krankheit schließlich weltweit zu überwinden […]. […] Damit kommt der Gesetzgeber erkennbar seiner in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wurzelnden Schutzpflicht nach. Lebens- und Gesundheitsschutz sind bereits für sich genommen überragend wichtige Gemeinwohlbelange und daher verfassungsrechtlich legitime Gesetzeszwecke. Die Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG greift nicht erst dann ein, wenn Verletzungen bereits eingetreten sind, sondern ist auch in die Zukunft gerichtet. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, der den Schutz Einzelner vor Beeinträchtigungen ihrer körperlichen Unversehrtheit und ihrer Gesundheit umfasst, kann daher auch eine Schutzpflicht des Staates folgen, Vorsorge gegen Gesundheitsbeeinträchtigungen zu treffen […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 106-107.

Die Impfpflicht verfolgt daher einen legitimen Zweck.

(2) Geeignetheit

Die gesetzliche Regelung müsste geeignet zur Erreichung dieses Zwecks sein, das heißt sie müsste in der Lage sein, diesen Zweck zu fördern:

„Sie können sowohl dazu beitragen, die Impfquote in der Gesamtbevölkerung zu erhöhen als auch dazu, diejenige in solchen Gemeinschaftseinrichtungen zu steigern, in denen vulnerable Personen betreut werden oder zumindest regelmäßig Kontakt zu den Einrichtungen und den dort betreuten und tätigen Personen haben. Werden dort künftig grundsätzlich nur noch Kinder mit Impfschutz oder Immunität betreut, trägt das ‒ ebenso wie das Betreuungsverbot des § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG ‒ zu einer Reduzierung der Ansteckungsgefahr mit dem Masernvirus bei. Angesichts einer Betreuungsquote in Kindertagesbetreuung von 34,3 % bei unter 3-Jährigen und von 93 % bei 3- bis 5-Jährigen […] erhöht sich hierdurch auch insgesamt die Impfquote in der Bevölkerung. Bei einer von § 20 Abs. 8 Satz 2 IfSG vorgegebenen zweifachen Impfung gegen Masern wird nach gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen von einer Impfeffektivität von 95 bis 100 % im Mittel ausgegangen. Das gilt auch bei der Verwendung eines von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG erfassten Kombinationsimpfstoffs […] Der Impfschutz wirkt lebenslang.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 114-115

Die Impfpflicht ist zur Zielerreichung geeignet.

(3) Erforderlichkeit

Dies gesetzliche Regelung müsste erforderlich sein, das heißt es dürften keine gleich geeigneten, milderen Mittel zur Zweckerreichung zur Verfügung stehen. Dem Gesetzgeber steht dabei grundsätzlich eine Einschätzungsprärogative zu, die umso weiter reicht, je komplexer die zu regelnde Materie ist.

„Aus den ihm vorliegenden wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen konnte der Gesetzgeber daher […] den Schluss ziehen, dass diese Maßnahmen bislang nicht genügt haben, um eine Herdenimmunität gegen Masern herzustellen. […] Der Erforderlichkeit der angegriffenen Regelungen steht nicht entgegen, dass § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG den Aufweis einer durch Impfung erlangten Masernimmunität auch dann verlangt, wenn lediglich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen und es im Inland seit einigen Jahren auch keine zugelassenen Monoimpfstoffe mehr gibt. […] Denn die Frage der gleichen Eignung muss anhand des Gesetzeszwecks beurteilt werden. Die Bekämpfung sonstiger Krankheiten ist aber nicht Zweck der allein gegen Masern gerichteten Regelung. Gegen die gleiche Eignung einer nur auf Monoimpfstoffe gerichteten Regelung spricht jedoch, dass es im Inland mittlerweile keine Masernmonoimpfstoffe mehr gibt, für früher angebotene Monoimpfstoffe inzwischen mangels Nutzung sogar die Zulassung entfallen ist. Vor diesem Hintergrund wäre der Zweck des Gesetzes mit einer auf Monoimpfstoffe beschränkten Verpflichtung weniger gut zu erreichen, weil alle Kinder ungeimpft blieben, deren Eltern der Verwendung eines Kombinationsimpfstoffs nicht freiwillig zustimmen. Auch eine gesetzliche Verpflichtung zuständiger staatlicher Stellen, solche Monoimpfstoffe herstellen zu lassen oder sonst für deren Verfügbarkeit im Inland zu sorgen, wäre keine gleich geeignete Maßnahme im Sinne der verfassungsrechtlichen Erforderlichkeit […] Ist allerdings der von § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG geforderte Impfschutz durch einen, etwa auf der Grundlage von § 73 Abs. 3 Halbsatz 1 AMG aus dem Ausland eingeführten, Monoimpfstoff erlangt worden, ist dies regelmäßig als zur Erreichung des Gesetzeszwecks ebenso geeignetes Mittel anzusehen […]. Die Impfung mit einem im Inland zur Verfügung stehenden Mehrfachimpfstoff ist dann nicht erforderlich und darf zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit nicht gefordert werden.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 125-128

Die Impfpflicht ist daher zur Zielerreichung erforderlich.

(4) Angemessenheit

Die gesetzliche Regelung müsste angemessen sein, das heißt die Schwere des Eingriffs darf nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der verfolgten Zwecke stehen:

(aa) Eingriffsintensität

Fraglich ist, als wie gewichtig die Eingriffsintensität der Impfpflicht zu beurteilen ist.

„Der Eingriff in das Grundrecht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG erfolgt mittelbar durch die Einwirkung auf die Ausübung des die Gesundheitssorge betreffenden Elternrechts. Entscheiden sich die sorgeberechtigten Eltern zwecks Meidung des Betreuungsverbots aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG, ihr in einer betroffenen Einrichtung betreutes Kind impfen zu lassen, geht dies mit einer Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit des Kindes einher. Allerdings ist dieser mittelbare Eingriff weder nach der Art der sich anschließenden körperlichen Einwirkung selbst noch aufgrund der Beeinträchtigung der Dispositionsfreiheit über die körperliche Unversehrtheit besonders schwerwiegend. Zwar kann selbst eine Impfung mit erprobten, weitgehend komplikationslosen Impfstoffen […] nicht ohne Weiteres als unbedeutender vorbeugender ärztlicher Eingriff eingeordnet werden […]. Die Wahrscheinlichkeit gravierender, mitunter tödlicher Komplikationen im Falle einer Maserninfektion ist jedoch um ein Vielfaches höher als die Wahrscheinlichkeit schwerwiegender Impfkomplikationen. Etwas häufiger vorkommende harmlose Impfreaktionen erhöhen das Gewicht des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit nicht maßgeblich […]. […] Zwar gewährleistet das auf die körperliche Integrität bezogene Selbstbestimmungsrecht im Grundsatz auch, Entscheidungen über die eigene Gesundheit nicht am Maßstab objektiver Vernünftigkeit auszurichten […]. Zur Wahrnehmung dieser Autonomie ist ein Kind anfangs allerdings zunächst entwicklungsbedingt nicht in der Lage. […] Mit dem Grundrecht des Kindes aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbindet sich darum kein ebenso weitreichendes Recht auf medizinisch unvernünftige Entscheidung wie bei Erwachsenen, die über den Umgang mit ihrer eigenen Gesundheit nach eigenem Gutdünken entscheiden können […]. Dem stärker an medizinischen Standards auszurichtenden körperlichen Kindeswohl dienlich ist regelmäßig die Vornahme empfohlener Impfungen, nicht ihr Unterbleiben. Das gilt auch für die Verabreichung von Kombinationsimpfstoffen […]. Daher kann den angegriffenen, gerade zur Vornahme einer empfohlenen Impfung anreizenden gesetzlichen Regelungen kein besonders hohes Gewicht des Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG beigemessen werden. Dabei wird das Gewicht des Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auch dadurch abgemildert, dass die angegriffenen Maßnahmen die Freiwilligkeit der Impfentscheidung der Eltern als solche nicht aufheben und diesen damit die Ausübung der Gesundheitssorge für ihre Kinder im Grundsatz belassen. Sie ordnen keine mit Zwang durchsetzbare Impfpflicht an […]. Vielmehr verbleibt den für die Ausübung der Gesundheitssorge zuständigen Eltern im Ergebnis ein relevanter Freiheitsraum […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 142-145

Die Eingriffe wiegen nicht besonders schwer.

(bb) Überwiegen die verfolgten Interessen diese Intensität?

Die verfolgten Interessen müssten diese Eingriffsintensität überwiegen.

„Trotz der nicht unerheblichen Eingriffe in das Abwehrrecht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und das Grundrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG konnte der Gesetzgeber der Schutzpflicht für die körperliche Unversehrtheit durch eine Masernerkrankung gefährdeter Personen den Vorrang einräumen. Für die Schutzpflicht streiten die hohe Übertragungsfähigkeit und Ansteckungsgefahr sowie das nicht zu vernachlässigende Risiko, als Spätfolge der Masern eine für gewöhnlich tödlich verlaufende Krankheit (die subakute sklerosierende Panenzephalitis, SSPE) zu erleiden. Bei Kindern unter fünf Jahren liegt dieses Risiko bei etwa 0,03 und bei Kindern unter einem Jahr bei etwa 0,17 % […].

Demgegenüber treten bei einer Impfung nur milde Symptome und Nebenwirkungen auf; ein echter Impfschaden ist extrem unwahrscheinlich […]. Die Gefahr für Ungeimpfte, an Masern zu erkranken, ist deutlich höher als das Risiko, einer auch nur vergleichsweise harmlosen Nebenwirkung der Impfung ausgesetzt zu sein. Hinzu kommt, dass die realistische Möglichkeit der Eradikation der Masern die staatliche Schutzpflicht stützt, weshalb selbst bei einer sinkenden Inzidenz von Krankheitsfällen – zu einem Sinken dürfte es kommen, je näher das Ziel der Herdenimmunität durch eine steigende Impfquote rückt – das Abwehrrecht der Beschwerdeführenden, in das die Auf- und Nachweispflicht zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit Impfunfähiger mittelbar eingreift, aufgrund geringerer Gefahrennähe weniger Gewicht für sich beanspruchen kann, als der vom Gesetzgeber verfolgte Schutz impfunfähiger Grundrechtsträger. Es ist verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber im Rahmen seiner Prognose die Gefahren in der Weise bewertet, dass das geringe Restrisiko einer Impfung im Vergleich zu einer Wildinfektion mit Masern bei gleichzeitiger Beachtung der – auch den betroffenen Kindern zugutekommenden – Impfvorteile zurücksteht. Im Ergebnis führt die Masernimpfung daher zu einer erheblich verbesserten gesundheitlichen Sicherheit des Kindes. […]

Die Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit der Kinder und das Elternrecht ihrer sorgeberechtigten Eltern sind auch nicht insoweit unzumutbar, als § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG eine Auf- und Nachweispflicht selbst dann vorsieht, wenn zur Erlangung des Masernimpfschutzes – wie es derzeit in Deutschland der Fall ist – ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen […]. Zwar führt dies faktisch dazu, dass die Kinder bei entsprechender Entscheidung ihrer Eltern die Impfung mit zusätzlichen Wirkstoffen hinnehmen müssen, derer es zum Erfüllen der Auf- und Nachweispflicht aus § 20 Abs. 8 und 9 IfSG nicht bedarf und auf deren Schutzeffekte das Gesetz nicht zielt. Das führt jedoch nicht zur Unangemessenheit der angegriffenen Regelungen. Sofern Impfschutz durch einen, etwa auf der Grundlage von § 73 Abs. 3 Halbsatz 1 AMG aus dem Ausland eingeführten, Monoimpfstoff erlangt wurde, ist die Impfung mit einem im Inland zur Verfügung stehenden Kombinationsimpfstoff ohnehin nicht erforderlich und darf dessen Verwendung nicht gefordert werden.

Aber selbst wenn dies nicht der Fall ist, überwiegen im Ergebnis die für den Aufweis anhand eines Mehrfachimpfstoffs sprechenden Argumente. Denn die aktuell in den Mehrfachimpfstoffen enthaltenen weiteren Wirkstoffe betreffen ebenfalls von der Ständigen Impfkommission empfohlene, also eine positive Risiko-Nutzen-Analyse aufweisende Impfungen. Sie sind deshalb ihrerseits grundsätzlich kindeswohldienlich, wenngleich insoweit weder ein mit Masern vergleichbar hohes Infektionsrisiko besteht noch entsprechende schwere Krankheitsverläufe eintreten können. Ausweislich der Stellungnahmen des Paul-Ehrlich-Instituts und der Ständigen Impfkommission besteht zwischen dem Nebenwirkungsprofil eines Monoimpfstoffs und den in Deutschland zugelassenen Kombinationsimpfstoffen jedenfalls kein wesentlicher Unterschied. Dem steht die Dringlichkeit gegenüber, diejenigen Personen, die sich nicht selbst durch Impfung schützen können, mittels Gemeinschaftsschutz zu schützen. Für diesen bedarf es der genannten Impfquote von 95 %, die gerade auch in den Altersgruppen nicht erreicht ist, die in den hier betroffenen Gemeinschaftseinrichtungen betreut werden. Würde die Pflicht zum Auf- und Nachweis der Masernimpfung auf Situationen beschränkt, in denen ein Monoimpfstoff zur Verfügung steht, würde die erforderliche Impfquote weniger gut erreicht. In der Gesamtabwägung ist es vertretbar, dass der Gesetzgeber den Schutz für vulnerable Personen gegen Masern so hoch gewertet hat, dass dafür auch die Grundrechtsbeeinträchtigungen durch den vom Gesetzgeber mit der Anordnung in § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG in Kauf genommenen Einsatz der aktuell einzig verfügbaren Kombinationsimpfstoffe hinzunehmen sind. Auch weil damit objektiv ein Schutz gegen die weiteren durch Kombinationsimpfstoffe erfassten Krankheiten verbunden ist, ist das Interesse, dass mangels verfügbarer Monoimpfstoffe Kombinationsimpfstoffe zum Einsatz kommen, höher zu gewichten als die Interessen der betroffenen Kinder und Eltern, diese nicht verwenden zu müssen. Angesichts des die Beeinträchtigungen deutlich überwiegenden Interesses am Schutz vulnerabler Personen gegen Masern erscheint zudem derzeit auch zur Wahrung der Angemessenheit nicht geboten, dass der Staat durch Beschaffung, Herstellung oder Marktintervention die Verfügbarkeit von Monoimpfstoff sichert.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 149-152
(cc) Zwischenergebnis

Die verfolgten Zwecke überwiegen damit das Gewicht des Eingriffs, die verfassungskonform ausgelegte Regelung ist angemessen.

(5) Zwischenergebnis

Die Regelung ist verhältnismäßig.

cc) Zwischenergebnis

Die Regelung ist materiell verfassungsmäßig.

4. Ergebnis

Die Regelung ist nach verfassungskonformer Auslegung sowohl formell als auch materiell verfassungsmäßig. Der Eingriff in das Grundrecht ist mithin gerechtfertigt. Die Beschwerdeführer sind in ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht verletzt.

II. Verletzung von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG

Es könnte jedoch eine Verletzung des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG vorliegen. Dies wäre der Fall, wenn ein nicht gerechtfertigter Eingriff in den Schutzbereich vorliegt.

1. Schutzbereich

Der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG müsste eröffnet sein:

„Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Eltern können grundsätzlich frei von staatlichen Einflüssen und Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen […]. Das Elternrecht unterscheidet sich allerdings von den anderen Freiheitsrechten des Grundrechtskatalogs wesentlich dadurch, dass es keine Freiheit im Sinne einer Selbstbestimmung der Eltern, sondern eine solche zum Schutze des Kindes und in dessen Interesse gewährt […]. Dazu gehört im Grundsatz die Sorge für das körperliche Wohl, worunter die Gesundheitssorge insgesamt und damit auch die Entscheidung über medizinische Maßnahmen fällt […]. Schon wegen der möglichen Auswirkungen von Impfungen auf die weitere Entwicklung des Kindes ([…] handelt es sich bei der elterlichen Entscheidung darüber um ein wesentliches Element des Sorgerechts.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 67-69

Der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist mithin eröffnet.

2. Eingriff

Es müsste ein Eingriff in dieses Grundrecht vorlegen:

„Wollen Eltern ihren vorhandenen Wunsch nach solcher Betreuung umsetzen, ist dies rechtlich grundsätzlich nur dann möglich, wenn sie einen Nachweis über die Masernimpfung ihrer Kinder vorlegen (§ 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG). Die Entscheidung selbst, Kinder impfen zu lassen, ist wiederum wesentlicher Teil des durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantierten elterlichen Sorgerechts, das die Entscheidungsbefugnis über die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der Kinder umfasst. Bei Ausbleiben des Nachweises wirken die angegriffenen Vorschriften erheblich auf die Entschließungsfreiheit der Eltern bei der Ausübung des Elternrechts in beiden Komponenten ein. Die gesetzlichen Regelungen über die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung sowie das Betreuungsverbot bei Ausbleiben dieses Nachweises kommen in Zielsetzung und Wirkung als funktionales Äquivalent dem direkten Eingriff gleich, der durch eine rechtlich durchsetzbare Impfpflicht bewirkt würde.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 74-75

Auch ein Eingriff in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG liegt mithin durch § 20 IfSG vor.

3. Rechtfertigung

Der Eingriff in das Grundrecht ist nicht verfassungswidrig, wenn er gerechtfertigt ist. Dies ist der Fall, wenn das Gesetz formell und materiell verfassungsmäßig ist.

a) formelle Verfassungsmäßigkeit

Hinsichtlich Zuständigkeit und Verfahren wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Fraglich ist jedoch, ob auch in Bezug auf Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG das Zitiergebot eingehalten wurde.

Dafür müsste es für Art. 6 Abs. 2 S. 1 jedoch überhaupt Anwendung finden.

„Das Zitiergebot dient der Sicherung derjenigen Grundrechte, die aufgrund eines spezifischen, vom Grundgesetz vorgesehenen Gesetzesvorbehalts über die im Grundrecht selbst angelegten Grenzen hinaus eingeschränkt werden können […]. Von solchen Grundrechtseinschränkungen grenzt es andersartige grundrechtsrelevante Regelungen ab, die der Gesetzgeber in Ausführung ihm obliegender, im Grundrecht vorgesehener Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenziehungen vornimmt […]. Kommt es danach für die Anwendbarkeit von Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG maßgeblich auf das Vorhandensein grundrechtsspezifischer Gesetzesvorbehalte an, fällt das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nicht in den Anwendungsbereich. Es unterliegt gerade keinem solchen Gesetzesvorbehalt und ist deshalb lediglich sich aus der Verfassung selbst ergebenden Einschränkungen zugänglich […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 92

Das Zitiergebot musste daher nicht gewahrt werden, es kann der Verfassungsmäßigkeit nicht entgegenstehen.

b) materielle Verfassungsmäßigkeit

Ein Verstoß gegen Art. 20 GG liegt bei verfassungskonformer Auslegung der Regelung nicht vor. Es handelt sich um ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht, welches nur durch verfassungsimmanente Schranken im Wege der praktischen Konkordanz eingeschränkt werden kann. Eine Rechtfertigung des Eingriffs im Wege der praktischen Konkordanz setzt voraus, dass ein kollidierendes Verfassungsgut vorliegt und ein verhältnismäßiger Ausgleich der kollidierenden Güter gewählt wurde. Dies ist der Fall, wenn die Maßnahme zum Ausgleich geeignet, erforderlich und angemessen ist.

aa) Verfolgung des Schutzes eines anderen Verfassungsgutes.

In Gestalt der staatlichen Schutzpflicht verfolgt die gesetzliche Regelung den Schutz eines anderen Verfassungsgutes.

bb) Eignung

Die Maßnahme ist zur Herstellung praktischer Konkordanz geeignet, siehe oben.

cc) Erforderlichkeit

Selbiges gilt für die Erforderlichkeit

dd) Angemessenheit

Der Interessenausgleich müsste angemessen erfolgt sein, dies ist der Fall, wenn die Einschränkung des einen Verfassungsgutes nicht außer Verhältnis zum Gewicht des den Eingriff rechtfertigenden Verfassungsgutes steht.

(1) Eingriffsgewicht

Fraglich ist, wie gewichtig der Eingriff ist.

„Die angegriffenen Regelungen greifen in das vom Elternrecht umfasste Recht auf Gesundheitssorge ein, da sie gebieten, dass Eltern einer Impfung ihrer Kinder zustimmen. Zwar sind sie letztlich nicht unausweichlich verpflichtet, einer Impfung zuzustimmen. Tun sie dies aber nicht, ist dies jedoch mit spürbaren Nachteilen für sie selbst und ihre Kinder verbunden. […] Mit der angegriffenen Nachweispflicht verengt das Infektionsschutzrecht die Wahlmöglichkeit der Eltern nicht unbeträchtlich, indem der Betreuungsanspruch ohne Impfnachweis entfällt oder zumindest nicht durchgesetzt werden kann […]. Dabei dient die Nachweispflicht nicht ihrerseits der Förderung der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern im Alter vor Schuleintritt, sondern bezweckt neben deren Eigenschutz gegen eine Maserninfektion vor allem den Gemeinschaftsschutz vor den Gefahren von Maserninfektionen […]. Das verstärkt die Intensität des Eingriffs in das Elternrecht, weil die betroffenen Eltern im fremdnützigen Interesse des Schutzes der Bevölkerung entgegen den eigenen Vorstellungen zu einer Disposition über die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder gedrängt werden. Da die Wahrnehmung des Betreuungsanspruchs aus § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 IfSG an den Auf- und Nachweis der Masernimpfung geknüpft ist (vgl. § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG), wirken die beanstandeten Vorschriften auch auf das auf die Gesundheitssorge bezogene Elternrecht ein. […] (135) Bei den hier zu beurteilenden Regelungen ist das Gewicht des die Gesundheitssorge treffenden Eingriffs in das Elternrecht dadurch reduziert, dass die Impfung nach medizinischen Standards gerade auch dem Gesundheitsschutz der auf- und nachweisverpflichteten Kinder selbst dient. Nach fachgerichtlicher Einschätzung bilden die Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission den medizinischen Standard ab, und der Nutzen der jeweils empfohlenen „Routineimpfung“ überwiegt das Impfrisiko […]. Regelmäßig ist damit die Vornahme empfohlener Impfungen dem Kindeswohl dienlich. Davon geht auch die fachgerichtliche Rechtsprechung für Sorgerechtsentscheidungen bei Streitigkeiten über empfohlene Schutzimpfungen zwischen gemeinsam sorgeberechtigten Eltern aus […]. Das lässt den Eingriff in das Gesundheitssorgerecht der Eltern zwar nicht entfallen. Deren Entscheidungen in Fragen der Gesundheitssorge für ihr Kind bleiben auch bei entgegenstehenden medizinischen Einschätzungen im Ausgangspunkt verfassungsrechtlich schutzwürdig. Da das Grundgesetz ihnen aber die Gesundheitssorge wie alle anderen Bestandteile der elterlichen Sorge im Interesse des Kindes ‒ insoweit zum Schutz seiner durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Gesundheit ‒ überträgt, ist es jedoch für die Eingriffstiefe von Bedeutung, wenn die Einschränkung der Gesundheitssorge ihrerseits nach medizinischen Standards gerade den Schutz der Gesundheit des Kindes fördert. […] Das Elternrecht bleibt ein dem Kind dienendes Grundrecht. Ein nach medizinischen Standards gesundheitsförderlicher Eingriff in die elterliche Gesundheitssorge wiegt weniger schwer als ein Eingriff, der nach fachlicher Einschätzung die Gesundheit des Kindes beeinträchtigte. Dieser objektiv vorhandene Impfvorteil für die Kinder mindert daher das Gewicht des Eingriffs in die elterliche Gesundheitssorge durch das Betreuungsverbot. […]

Eingriffsintensivierend wirkt dagegen unter einem anderen Aspekt des Elternrechts das bei ausbleibendem Impfnachweis geltende Betreuungsverbot aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG. Denn dadurch wird die Vereinbarkeit von Familie und Elternschaft mit der Erwerbstätigkeit der Eltern […] beeinträchtigt. […] Betroffene Eltern müssen daher entweder auf Betreuung außerhalb von Einrichtungen nach § 33 Nr. 1 und 2 IfSG ausweichen oder die eigene Erwerbstätigkeit umgestalten, um die Kinderbetreuung selbst wahrnehmen zu können. Daher geht mit dem Betreuungsverbot wegen der durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten Freiheit von Eltern, ihr familiäres Leben nach ihren Vorstellungen zu planen und zu verwirklichen, ein nicht unerhebliches Eingriffsgewicht einher. Das Gewicht des Eingriffs in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG unter diesem Aspekt wird durch die Beeinträchtigung damit korrespondierender Rechtspositionen der Kinder verstärkt. […] Das Betreuungsverbot aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG versperrt aber betroffenen Kindern, auch den jeweiligen Beschwerdeführenden zu 3), die Wahrnehmung ihres Anspruchs, wenn die Eltern eine das Verbot auslösende Entscheidung zur Gesundheitssorge getroffen haben. Dem kommt Gewicht auch deshalb zu, weil nicht allein der dargestellte fachrechtlich eingeräumte Förderanspruch von Kindern betroffen ist, sondern wegen der in § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB VIII erfolgten Ausgestaltung auch das in Art. 2 Abs. 1 GG wurzelnde, gegen den Staat gerichtete Recht von Kindern auf Unterstützung und Förderung bei ihrer Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Person in der sozialen Gemeinschaft […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 134-139

Der Eingriff ist daher nicht besonders schwerwiegend, aber auch nicht unerheblich.

(2) Ausgleich der Interessen

In Bezug auf den Interessenausgleich lässt sich weitestgehend nach oben verweisen, die dort angeführten Argumente lassen sich hier erneut platzieren.

ee) Zwischenergebnis

Die gesetzliche Regelung stellt einen angemessenen Ausgleich her, der Eingriff ist im Wege praktischer Konkordanz gerechtfertigt.

4. Ergebnis

Auch der Eingriff in das Grundrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist gerechtfertigt

III. Gesamtergebnis

Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet, die Beschwerdeführer sind nicht in ihren verfassungsrechtlich geschützten Rechten verletzt.

C. Eine kurze und abschließende Summa

Die wesentlichen Kernaussagen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Eine Impfpflicht für Masern ist zumutbar, auch wenn nur ein Kombinationsimpfstoff zur Verfügung steht. Die Vorschrift ist verfassungskonform so auszulegen, dass nur die Kombinationsimpfstoffe verwendet werden dürfen, die im Zeitpunkt des Erlasses der Norm vorliegen. Ein Impfstoff, der ausschließlich Wirkstoffe gegen Masern enthält, wäre jedoch ein milderes und gleichgeeignetes Mittel, sobald diese in Deutschland verfügbar sind, müssen diese verimpft werden. Letztlich sind sowohl Eingriffe in das Elternrecht, aber auch Eingriffe in das Recht auf körperliche Unversehrtheit angesichts der staatlichen Schutzpflicht für vulnerable Gruppen – also für Menschen, die nicht durch eine Impfung geschützt werden können – gerechtfertigt. Dies dürfte auch auf eine denkbare Beeinträchtigung der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG zu übertragen sein. Auch mit Blick auf die Corona-Impfpflicht der in Gesundheitseinrichtungen tätigen Personen nach § 20a IfSG dürfte das BVerfG die entscheidenden Weichen gestellt haben.

18.08.2022/3 Kommentare/von Dr. Yannick Peisker
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannick Peisker https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannick Peisker2022-08-18 11:03:272022-08-18 15:18:28Masernimpfpflicht verfassungsmäßig – Klausurlösung
Dr. Lena Bleckmann

AfD scheitert vor dem Bundesverfassungsgericht – Kein Anspruch auf Wahl eines Vizepräsidenten oder einer Vizepräsidentin des Bundestages

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Mit einer gestern veröffentlichten Entscheidung (Az. 2 BvE 9/20) hat das Bundesverfassungsgericht der Bundestagsfraktion der Alternative für Deutschland (AfD) einen Dämpfer verpasst. Nach Einschätzung des BVerfG hat die Fraktion keinen Anspruch darauf, dass ein von ihr vorgeschlagener Abgeordneter oder eine von ihr vorgeschlagene Abgeordnete zum Stellvertreter oder zur Stellvertreterin des Präsidenten bzw. der Präsidentin des Deutschen Bundestages gewählt wird. Im Folgenden ein Überblick über die wichtigsten Aspekte der Entscheidung.

I. Sachverhalt

Der Sachverhalt ist schnell erzählt. Nach § 2 Abs. 1 S. 1 GO-BT wählt der Bundestag einen Bundestagspräsidenten und seine Stellvertreter und Stellvertreterinnen (VizepräsidentInnen), wobei jede Fraktion nach § 2 Abs. 1 S. 1 GO-BT durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten ist.

Nachdem der Bundestag die Zahl der Stellvertreter und Stellvertreterinnen für die 19. Legislaturperiode entsprechend der Zahl der im Bundestag vertretenen Fraktionen auf sechs festgelegt hatte, wurde die Wahl der Vizepräsidenten und Vizepräsidentinnen gemäß § 2 Abs. 2 GO-BT durchgeführt. Einzig der AfD-Kandidat konnte auch in drei Wahlgängen keine Mehrheit auf sich vereinen. Das Schauspiel wiederholte sich im Laufe der Legislaturperiode: Insgesamt fünf weitere vorgeschlagene Abgeordnete der AfD-Fraktion fielen in jeweils drei Wahlgängen durch. Bis zum Ende der 19. Legislaturperiode gab es keinen Stellvertreter des Bundestagspräsidenten aus der AfD-Fraktion.

Hierdurch sieht die Fraktion ihre Rechte aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG und ihr Recht auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung sowie den Grundsatz der Organtreue verletzt. Sie macht geltend, wenn eine Bestellung eines Gremiums von einer Mehrheitswahl abhängig gemacht werde, müsse dafür Sorge getragen werden, dass Kandidaten nicht aus sachwidrigen Gründen abgelehnt würden. Dies habe der Antragsgegner (der Deutsche Bundestag) durch geeignete Vorkehrungen sicherzustellen. Er müsse verfassungswidrigen Blockaden durch eine oder mehrere Fraktionen oder eine Mehrheit der Abgeordneten durch ein formelles oder informelles Verfahren entgegenwirken.

II. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Diese Einschätzung hat das Bundesverfassungsgericht in typischer Art abgelehnt, man möchte fast sagen abgebügelt – der Antrag sei offensichtlich unbegründet. In seiner Untermauerung dieser These geht das BVerfG in drei Schritten vor. Zunächst setzt es sich mit der möglichen Verletzung des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG auseinander, sodann mit einer solchen des Rechts auf effektive Opposition und schließlich dem Grundsatz der Organtreue.

  1. Prozessuales

Die Zulässigkeit des Antrags lässt das BVerfG demgegenüber offen. Prozessual hatte die Bundestagsfraktion der AfD ein Organstreitverfahren gegen den Deutschen Bundestag als Antragsgegner angestoßen. Die einzelnen Prüfungspunkte sollen an dieser Stelle nicht wiederholt werden. Sollte sich der Sachverhalt jedoch einmal in einer Klausur wiederfinden, sollten Prüflinge sich jedenfalls kurz mit der Antragsbefugnis der Fraktion auseinandersetzen. Nach § 64 Abs. 1 BVerfGG muss der Antragsteller geltend machen, dass er oder das Organ, dem er angehört, in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. „Durch das Grundgesetz“ ist hier der entscheidende Satzteil – das verletzte oder gefährdete organschaftliche Recht muss ein solches sein, das durch die Verfassung gewährleistet wird. An Rechtspositionen, die allein aus der Geschäftsordnung des Bundestags folgen, kann ein Organstreitverfahren nicht geknüpft werden.

Achtung: Zwar nennt Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG auch andere Beteiligte, die durch das Grundgesetz oder die Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Die Nennung der Geschäftsordnungsrechte bezieht sich hier aber allein auf die Beteiligtenfähigkeit im Organstreit, nicht aber auf die Antragsbefugnis (vgl. Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge/Bethge, § 64 BVerfGG, Rn. 61).

Das schließt nicht aus, dass die GO-BT im Rahmen der Antragsbefugnis relevant werden kann. Die von ihr gewährten Rechte müssen sich aber an ein bereits aus der Verfassung folgendes Statusrecht des antragstellenden Organs ergeben und dieses ausgestalten (vgl. etwa BVerfGE 87, 207, 208 f.). 

Hinweis: Das BVerfG hat die Frage der Zulässigkeit zwar offen gelassen, es erscheint in der Klausur angezeigt, die Antragsbefugnis mit Blick auf die Möglichkeitstheorie zunächst zu bejahen und die relevanten Probleme in der Begründetheit zu erörtern.

  1. Zu Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG

Erster Anknüpfungspunkt ist Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, der zunächst einmal das freie Mandat der Abgeordneten des Bundestages regelt. Aus dieser Norm leitet das Bundesverfassungsgericht auch die Rechtsstellung der Fraktionen und insbesondere ein Recht auf formale Gleichheit der Abgeordneten und Fraktionen ab:

„Die Antragstellerin ist als Fraktion im Deutschen Bundestag ein Zusammenschluss von Abgeordneten, dessen Rechtsstellung – ebenso wie der Status der Abgeordneten – aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG abzuleiten ist. Dementsprechend haben die Fraktionen gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ein Recht auf formal gleiche Mitwirkung an der parlamentarischen Willensbildung.“ (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 28, Nachweise im Zitat ausgelassen).

Das Recht auf Gleichbehandlung erstreckt sich dabei nach den Ausführungen des BVerfG auch auf Fragen der Organisation des Bundestages, auch für die Besetzung von Ämtern und damit auf für den Zugang zum Bundestagspräsidium (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 28).

Mag so auch ein Recht auf gleichberechtigte Mitwirkung der Abgeordneten am und im Präsidium bestehen, so wird dieses doch wiederum begrenzt durch Art. 40 Abs. 1 S. 1 GG, der die Wahl (!) des Bundestagspräsidenten und der Stellvertreter und Schriftführer vorsieht. Das BVerfG nimmt dies zum Anlass, die Grundsätze und Bedeutung von Wahlen zu erläutern:

„Dabei ist die Wahl nach Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG frei. Wahlen zeichnen sich gerade durch die Wahlfreiheit aus, wenngleich die Wählbarkeit von der Erfüllung bestimmter Voraussetzungen abhängen kann. Der mit einer Wahl einhergehende legitimatorische Mehrwert könnte nicht erreicht werden, wenn es eine Pflicht zur Wahl eines bestimmten Kandidaten oder einer bestimmten Kandidatin gäbe. Der Wahlakt unterliegt grundsätzlich keiner über Verfahrensfehler hinausgehenden gerichtlichen Kontrolle, weswegen sein Ergebnis auch keiner Begründung oder Rechtfertigung bedarf.“ (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 31, Nachweis im Zitat ausgelassen).

Dies knüpft das Gericht ergänzend an das freie Mandat der Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG und das Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 GG. An einer späteren Stelle im Urteil heißt es darüber hinaus, „mit einer freien Wahl im Sinne des Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG wäre es unvereinbar, wenn eine Fraktion das Recht auf ein bestimmtes Wahlergebnis hätte. Könnte eine Fraktion – mittels der von der Antragstellerin begehrten „prozeduralen Vorkehrungen“ oder gar durch ein Besetzungsrecht – einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin durchsetzen, wäre die Wahl ihres Sinns entleert.“ (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 35).

Weder könnten daher die Abgeordneten oder Fraktionen verpflichtet werden, die Stimmabgabe offenzulegen oder zu begründen, noch soll das Recht der Fraktionen aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG durch prozedurale Vorkehrungen, welche die Wahl letztlich steuern und einengen, beschränkt werden (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 33, 36). Diese Grundsätze führen das BVerfG zu dem folgenden, eindeutigen Ergebnis:

„Der Anspruch einer Fraktion auf Mitwirkung und Gleichbehandlung mit den anderen Fraktionen bei der Besetzung des Präsidiums aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG steht mit Blick auf Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG unter dem Vorbehalt der Wahl. Er ist darauf beschränkt, dass eine Fraktion einen Kandidaten für die Wahl vorschlagen kann und dass die freie Wahl ordnungsgemäß durchgeführt wird. Gelingt die Wahl nicht, bleibt die Stellvertreterposition unbesetzt, solange nicht ein von der zu vertretenden Fraktion einzubringender neuer Personalvorschlag die erforderliche Mehrheit erreicht. Das in § 2 Abs. 1 und Abs. 2 GO-BT vorgesehene Vorschlags- und Wahlrecht sichert hinreichend das Mitwirkungsrecht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG und bringt dieses in einen angemessenen Ausgleich zu der verfassungsrechtlichen Vorgabe in Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG.“ (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 37).

  1. Zum Recht auf effektive Opposition

Deutlich kürzer fasst sich das Gericht im Hinblick auf das Recht auf effektive Opposition. Ein solches ist zwar in der Rechtsprechung des BVerfG anerkannt (BVerfGE 142, 22, Rn. 85 ff.).  Es begründet aber keine spezifischen Oppositionsrechte, was auch mit der Freiheit des Mandats nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG nicht vereinbar wäre (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 42).

Hinweis: Das BVerfG spricht hier einen Klausurklassiker an. Wem das Recht auf effektive Opposition nichts sagt, der sollte hier noch einmal im Lehrbuch oder Kommentar nachlesen!

Dass dieses Recht hier nicht betroffen ist, begründet das BVerfG weiterhin damit, dass es  nicht dazu dienen kann, die Minderheit vor Entscheidungen der Mehrheit im Rahmen freier Wahlen zu bewahren, sowie damit, dass das Bundestagspräsidium zu parteipolitischer Zurückhaltung angehalten ist und Oppositionsarbeit im Amt gerade nicht angezeigt ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 43).

  1. Zum Grundsatz der Organtreue

Auch mit dem Grundsatz der Organtreue ließ sich das von der AfD-Fraktion gewünschte Ergebnis nicht begründen. Da die Wahlvorgänge für alle vorgeschlagenen Abgeordneten gleichermaßen durchgeführt wurden und die AfD-Fraktion ihr Vorschlagsrecht (mehrfach) ausüben konnte, sah das BVerfG keine Anhaltspunkte für eine gleichheitswidrige Behandlung oder unfaire oder illoyale Durchführung der Wahlvorgänge (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 45).

III. Was bleibt?

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts liest sich wie ein Grundkurs in Sachen Demokratie. Das ist insbesondere den Ausführungen zu den Grundsätzen der freien Wahl und auch dem freien Mandat der Abgeordneten geschuldet. Das Thema bleibt politisch brisant, zeichnet sich doch für die jetzige Legislaturperiode bereits ein ähnliches Spiel ab. Der Fall bietet viel Argumentationsspielraum und Möglichkeiten, Bezüge verschiedener Normen innerhalb des Grundgesetzes zueinander aufzuzeigen. Es wäre daher nicht überraschend, ihn früher oder später als Gegenstand von Klausuren oder mündlichen Prüfungen wiederzufinden.

23.03.2022/0 Kommentare/von Dr. Lena Bleckmann
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2022-03-23 11:38:002022-07-21 09:00:22AfD scheitert vor dem Bundesverfassungsgericht – Kein Anspruch auf Wahl eines Vizepräsidenten oder einer Vizepräsidentin des Bundestages
Dr. Lena Bleckmann

Neues zur Schmähkritik – Das BVerfG entscheidet zu Hasskommentaren bei Facebook

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Dass die in sozialen  Medien mögliche Anonymität einige Nutzer zuweilen verleitet, unter ihrem Deckmantel Hass und Hetze zu verbreiten, dürfte inzwischen hinlänglich bekannt sein. Insbesondere Politiker sehen sich solchen Hasskommentaren besonders häufig ausgesetzt. Einzelne wissen sich jedoch zu wehren: Renate Künast, MdB und Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen, verlangte, nachdem ihr gegenüber auf Facebook Dinge geäußert wurden, die man ihr wohl kaum ins Gesicht gesagt hätte, von dem Unternehmen die Auskunft über die Bestandsdaten der jeweiligen Nutzer – zum Zwecke der Rechtsverfolgung wollte sie die Identität der Nutzer herausfinden.
Das Verfahren hat bereits erhebliche mediale Aufmerksamkeit erlangt. Zu mehreren Entscheidungen der Berliner Gerichte tritt nun ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19.12.2021, Az. 1 BvR 1073/20. Die wichtigsten Eckpunkte der Entscheidung des BVerfG sollen im Folgenden überblicksweise dargestellt werden.


I. Was bisher geschah
Im Instanzenzug war Künast nur teilweise erfolgreich – so gestattete das LG Berlin (Beschl. v. 21.1.2020 – 27 AR 17/19) die Auskunft über die Bestandsdaten der Nutzer in sechs Fällen, das KG Berlin (Beschl. v. 11.3.2020 – 10 W 13/20) später für weitere sechs Kommentare. Im Übrigen sahen die Gerichte die Schwelle zur strafbaren Beleidigung nicht überschritten. Voraussetzung für einen Auskunftsanspruch über die Daten nach § 14 Abs. 3 Telemediengesetz a.F., der hier noch einschlägig war, ist jedoch eine Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche wegen Verletzung absolut geschützter Rechte aufgrund rechtswidriger Inhalte, die von § 10a Abs. 1 des Telemediengesetzes oder § 1 Abs. 3 des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) in der damaligen Fassung erfasst werden, begehrt wird. Rechtswidrig i.d.S. sind insbesondere Äußerungen, die tatbestandlich eine Straftat gegen die persönliche Ehre nach §§ 185 ff. StGB darstellen.
Hinweis: Zur Wiederholung der Prüfung der §§ 185 ff. StGB siehe hier unseren Beitrag zu dem Thema.
Hinsichtlich von Äußerungen wie „Pädophilen-Trulla“, „Die ist Geisteskrank“, „Ich könnte bei solchen Aussagen diese Personen die Fresse polieren“ oder „Gehirn Amputiert“ führte das KG Berlin jedoch aus:
„Der Senat verkennt dabei keineswegs, dass es sich insoweit gleichfalls um erheblich ehrenrührige Bezeichnungen und Herabsetzungen der Ast. handelt. Unter Berücksichtigung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben ist allerdings festzustellen, dass die Schwelle zum Straftatbestand der Beleidigung gem. § 185 StGB nicht überschritten wird. Denn es liegt kein Fall der abwägungsfreien Diffamierung (Angriff auf die Menschenwürde, Formalbeleidigung bzw. Schmähkritik) vor und die Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Ast. erreicht auch nicht ein solches Gewicht, dass die Äußerungen unter Einbeziehung des konkret zu berücksichtigenden Kontexts – anders als die zu Ziff. I. zu beurteilenden Äußerungen lediglich als persönliche Herabsetzung und Schmähung der Ast. erscheinen (…)“  (KG Berlin, Beschl. v. 11.3.2020 – 10 W 13/20)
Insbesondere aufgrund eines Bezugs zu dem Ausgangspost bejahte das KG für einzelne Äußerungen einen Sachbezug und stützte darauf die Ansicht, die Grenze der Beleidigung sei, da der Kommentar damit nicht ausschließlich der Diffamierung diene, nicht überschritten. In dem Ausgangspost wurde eine Äußerung Künasts aus einer Bundestagsdebatte derart verkürzt wiedergegeben, dass für den Leser der Eindruck entstehen konnte, Künast billige pädophile Praktiken.


 II. Die Entscheidung des BVerfG im Überblick
Künast zog schließlich vor das Bundesverfassungsgericht – und dort bekam sie nun Recht. Das BVerfG sieht die Beschwerdeführerin in ihrem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verletzt. Wie immer befasst sich das BVerfG nur mit der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts. Dieses müssen die Fachgerichte bei der Entscheidung hinreichend berücksichtigen. Zentrale Frage ist daher: Haben die Fachgerichte das Allgemeine Persönlichkeitsrecht so interpretationsleitend berücksichtigt, dass sein „wertsetzender Gehalt auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt“  (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20, Rn. 27).
In Fällen wie dem hier in Rede stehenden bewegt man sich im Spannungsbereich zwischen der Meinungsäußerungsfreiheit und dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Aufhänger für die Grundrechtsprüfung musste vorliegend insbesondere § 185 StGB sein. Ist dessen Tatbestand erfüllt, liegt eine rechtswidrige Äußerung i.S.d. § 1 Abs. 3 NetzDG in der damaligen Fassung vor, ebenso wie eine Verletzung eines Schutzgesetzes nach § 823 Abs. 2 BGB sowie die Verletzung des APR als absolut geschütztes Recht, was einen Unterlassungsanspruch nach § 1004 Abs. 1 BGB analog eröffnet.
Für die Prüfung, ob denn eine strafbare Beleidigung nach § 185 StGB vorliegt, haben die Gerichte nun schrittweise vorzugehen. Zunächst muss der Inhalt der Äußerungen erfasst und bei Interpretationsspielraum gedeutet werden. Zur Erinnerung: Schon auf dieser ersten Stufe ist die Meinungsfreiheit des sich Äußernden zu berücksichtigen, bei mehreren möglichen Auslegungsmethoden ist meinungsfreundliche Auslegungsvariante zugrunde zu legen (vgl. auch Kahl/Ohlendorf, JuS 2008, 682, 684)
Ist der Sinngehalt der Äußerung ermittelt, erfordert die Feststellung einer Beleidigung i.S.d. § 185 StGB weiterhin grundsätzlich eine Abwägung von Meinungsfreiheit und Allgemeinem Persönlichkeitsrecht. Der strafrechtliche Schutz der persönlichen Ehre darf nicht zu einer unverhältnismäßigen Einschränkung des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG führen, zugleich muss ein hinreichender Schutz des Persönlichkeitsrechts gleichwohl gewährleistet sein. Mit den Worten des BVerfG:
„Die Belange der Meinungsfreiheit finden demgegenüber vor allem in § 193 StGB Ausdruck, der bei der Wahrnehmung berechtigter Interessen eine Verurteilung wegen ehrverletzender Äußerungen ausschließt und – vermittelt über  § 823 Absatz 2 BGB – auch im Zivilrecht zur Anwendung kommt. Diese Vorschriften tragen dem Umstand Rechnung, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht vorbehaltlos gewährleistet ist. Nach  Artikel 2 Absatz 1 GG wird es durch die verfassungsmäßige Ordnung einschließlich der Rechte anderer beschränkt. Zu diesen Rechten gehört auch die Freiheit der Meinungsäußerung aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 GG. Auch diese ist nicht vorbehaltlos garantiert. Sie findet nach Artikel 5 Absatz 2 GG ihre Schranken unter anderem in den allgemeinen Gesetzen und in dem Recht der persönlichen Ehre (…)“ (BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20, Rn. 26, Nachweise im Zitat ausgelassen).
Die Abwägung der betroffenen Rechtsgüter kann allerdings im Einzelfall entbehrlich sein – dies insbesondere dann, wenn ein Fall von Schmähkritik vorliegt. Schmähkritik liegt vor, „wenn eine Äußerung keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr im Grunde nur um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht“ (BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20, Rn. 29).
Einen solchen Fall von Schmähkritik hatte das KG Berlin nun abgelehnt, der Sachbezug insbesondere der Äußerung „Pädophilen-Trulla“ wurde ausdrücklich betont (a.a.O.). Hier kann die Prüfung nun allerdings nicht stehen bleiben. Denn: Dass eine Äußerung keine Schmähkritik darstellt, heißt noch nicht, dass es sich auch nicht um eine strafbare Beleidigung handelt. Das BVerfG moniert in der aktuellen Entscheidung aber nun eine solche Gleichsetzung von Beleidigung und Schmähkritik:
„Es mag die im Ausgangsverfahren vertretene Auffassung der Beschwerdeführerin gewesen sein, dass es sich bei der Äußerung um Schmähkritik handele. Dies dispensiert aber das Fachgericht nicht davon, bei Nichtvorliegen einer besonderen Anforderungen unterworfenen Schmähkritik die einfache Beleidigung, die eine Abwägung der betroffenen Rechtspositionen erfordert, in Betracht zu ziehen und zu prüfen. Vorliegend hat sich das Fachgericht aufgrund einer fehlerhaften Maßstabsbildung, die eine Beleidigung letztlich mit der Schmähkritik gleichsetzt, mit der Abwägung der Gesichtspunkte des Einzelfalls nicht auseinandergesetzt. Hierin liegt eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin. Bereits dieser – praktisch vollständige – Abwägungsausfall muss zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung führen.“ (BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20, Rn. 45 f.)
Das Kammergericht hätte mithin nach der Ablehnung einer Schmähkritik noch eine weitere Abwägung der betroffenen Rechtsgüter – Meinungsfreiheit und Allgemeines Persönlichkeitsrecht – vornehmen müssen. Schon die Tatsache, dass dies nicht erfüllt ist, stellt nach Ansicht des BVerfG eine Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin dar und führt daher zum Erfolg der Verfassungsbeschwerde. Welche Punkte in die vorzunehmende Abwägung mit einzubeziehen sind, ist im Beschluss des BVerfG unter den Randnummern 30 ff. nachzulesen.


III. Was aus der Entscheidung mitzunehmen ist
Was Klausur- und Examenskandidaten aus der Entscheidung mitnehmen sollten, lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Schmähkritik und strafrechtlich relevante Beleidigung sind keine Synonyme. Die Ablehnung des Vorliegens von Schmähkritik befreit nicht von der Notwendigkeit einer Abwägung der betroffenen Rechtsgüter. Die Entscheidung enthält damit wenig grundlegend Neues. Sie sollte aber allemal als Anlass genommen werden, die Grundsätze der Meinungsfreiheit, des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts und ihres Verhältnisses zueinander zu wiederholen. Da strafrechtliche Erwägungen in Klausuren hier oft den Aufhänger bieten, sollten auch die §§ 185 ff. StGB in ihrer Relevanz nicht unterschätzt werden.

03.02.2022/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2022-02-03 14:33:112022-08-03 08:36:07Neues zur Schmähkritik – Das BVerfG entscheidet zu Hasskommentaren bei Facebook
Dr. Lena Bleckmann

Der Entschädigungsanspruch bei Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts und seine Vererblichkeit

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Im Juni 2017 verstarb Altkanzler Helmut Kohl. In den Jahren zuvor hatte er einen Rechtsstreit gegen einen Autor geführt, der auf Grundlage von ursprünglich für die Memoiren Kohls geführten Interviews das Buch „Vermächtnis – die Kohl-Protokolle“ veröffentlichte. Kohl sah sich hierin falsch zitiert und machte insgesamt 116 Verletzungen seines Allgemeinen Persönlichkeitsrechts gerichtlich geltend und verlangte hierfür neben Unterlassung insbesondere Geldentschädigung. Eine Entschädigung in Höhe von 1.000.000 Euro sprach das LG Köln dem Altkanzler auch zu (LG Köln. Urt. v. 27.4.2017 – 14 O 323/15, BeckRS 2017, 125934). Vor Rechtskraft des Urteils verstarb Kohl allerdings, der Rechtsstreit wurde durch seine Witwe und Alleinerbin weitergeführt. Nun hat er ein Ende gefunden – der BGH hat die Klage mit Urteil vom 29.11.2021 (Az. VI ZR 258/18) mangels Vererblichkeit des Entschädigungsanspruchs in dieser Hinsicht abgewiesen (siehe PM Nr. 218/2021 v. 29.11.2021).
Diese topaktuelle Entscheidung sollte Anlass geben, sich mit dem Entschädigungsanspruch wegen Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG auseinanderzusetzen. Dieser ist bei Prüfern nicht unbeliebt, die Klausur- und Examensrelevanz dürfte durch die neue Entscheidung noch steigen. Der folgende Beitrag gibt einen kurzen Überblick über die Prüfung und beleuchtet insbesondere die Frage der Vererblichkeit des Anspruchs.
I. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht als absolutes Recht i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB
Nach § 823 Abs. 1 BGB ist derjenige, der vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht wird hier nicht ausdrücklich als Schutzgut genannt. Die Erweiterung des Tatbestands um „sonstige Rechte“ gewährleistet allerdings einen Schutz anderer absoluter Rechte über die Aufzählung hinaus. Einschränkend ist der Begriff des „sonstigen Rechts“ so zu verstehen, dass es sich um ein mit Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit und Eigentum vergleichbar bedeutsames, absolutes Recht handeln muss (BeckOK BGB/Förster, § 12 Rn. 143). Dass hierzu auch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht zählt, ist heute einhellig anerkannt (BeckOK BGB/Förster, § 823 Rn. 177; Schulze BGB, § 823 Rn. 42).
Neben dem Ersatz materieller Schäden kann auf Grundlage des § 823 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG auch eine Geldentschädigung für einen entstandenen Nichtvermögensschaden erlangt werden. Voraussetzung ist allerdings, dass ein hinreichend schwerer Eingriff vorliegt und die Beeinträchtigung nicht auf andere Weise ausgeglichen werden kann (etwa BGH, Urt. v. 17.12.2013 – VI ZR 211/12, NJW 2014, 2029 (2033). Hierbei handelt es sich nicht im immateriellen Schadensersatz nach § 253 BGB. Vielmehr gründet der Entschädigungsanspruch unmittelbar auf dem Schutzauftrag des verfassungsrechtlich gewährleisteten Persönlichkeitsrechts (BeckOK BGB/Förster, § 12 Rn. 389). Dem Anspruch kommt dabei in erster Linie eine Genugtuungs- und Ausgleichsfunktion zu, wobei die Genugtuung im Vordergrund steht (vgl. BGH, Urt. v. 5.11.1994 – VI ZR 56/94, NJW 1995, 861 (865)).
II. Hinweise zur Prüfung des Anspruchs nach § 823 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG
Die Prüfungsreihenfolge der Tatbestandsvoraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB gilt auch bei Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts – festzustellen sind mithin Rechtsgutsverletzung, Verletzungshandlung, haftungsbegründende Kausalität, Rechtswidrigkeit und Verschulden. Zur Feststellung, ob das Allgemeine Persönlichkeitsrecht betroffen ist, sind Kenntnisse aus dem Verfassungsrecht erforderlich, die von dort bekannten Fallgruppen gelten auch hier. Besondere Aufmerksamkeit bedarf bei der Prüfung des § 823 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG die Voraussetzung der Rechtswidrigkeit. Denn das Allgemeine Persönlichkeitsrecht ist, wie das ebenfalls als „sonstiges Recht“ geschützte Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ein sog. Rahmenrecht. Rahmenrechte dienen als Auffangtatbestände dem Füllen von Schutzlücken (Brockmann/Künnen, JuS 2020, 910 (912)). Notwendigerweise unterliegt ihr Schutzbereich daher keiner festen Grenzziehung. Die hieraus folgende Weite führt dazu, dass nicht jedes den Schutzbereich betreffende Verhalten als rechtswidrig eingeordnet werden kann – anders als bei der Verletzung anderer von § 823 Abs. 1 BGB geschützter Rechtsgüter wird die Rechtswidrigkeit daher nicht durch die Tatbestandsmäßigkeit indiziert, sondern ist positiv festzustellen (MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 7). Hierzu ist eine Interessenabwägung vorzunehmen, bei der aufseiten des Schädigers bestehende, schutzwürdige Interessen ebenso zu berücksichtigen sind, wie die Intensität des Grundrechtseingriffs aufseiten des Betroffenen. Diese ist unter Heranziehen der Sphärentheorie des BVerfG zu bestimmen (Brockmann/Künnen, JuS 2020, 910 (914)). Auch eine Wiederholung des Eingriffs kann eine besondere Schwere begründen (BeckOK BGB/Förster, § 12 Rn. 391).

Hinweis: Soweit hier Lücken bestehen, sollte der Streit zur Prüfung der Rechtswidrigkeit im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB (Stichwort Lehre vom Handlungs-/Erfolgsunrecht) wiederholt werden.

Aus dem Charakter des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts als Rahmenrecht folgt weiterhin seine Subsidiarität – speziellere Persönlichkeitsrechte sind daher vorrangig zu prüfen! (Brockmann/Künnen, JuS 2020, 910 (915))
III. Vererblichkeit des Entschädigungsanspruchs
Besteht der Entschädigungsanspruch nun, ist der Geschädigte aber verstorben, so wie es im Fall von Helmut Kohl geschehen ist, stellt sich die Frage nach dem Anspruchsübergang auf dessen Erben. Nach § 1922 Abs. 1 BGB geht mit dem Tode einer Person deren Vermögen als Ganzes auf den oder die Erben über.
Für eine Vererblichkeit des Entschädigungsanspruchs wurde diejenige des Schmerzensgeldes angeführt – seit der Abschaffung des § 847 Abs. 1 S. 2 BGB a.F. zum 1.7.1990 können Schmerzensgeldansprüche im Todesfalle auf die Erben übergehen. Bei abweichender Beurteilung im Rahmen des § 823 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG soll ein Verstoß gegen den Allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG vorliegen (siehe Nachweise bei BGH, Urt. v. 29.4.2014 – VI ZR 246/12, NJW 2014, 2871).
In der genannten Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 2014 schloss sich der BGH indes der Gegenansicht an; ausgehend vom Zweck des Entschädigungsanspruchs wurde die Vererblichkeit verneint.
„Bei der Zuerkennung einer Geldentschädigung im Falle einer schweren Persönlichkeitsrechtsverletzung steht regelmäßig der Genugtuungsgedanke im Vordergrund. Da einem Verstorbenen Genugtuung für die Verletzung seiner Persönlichkeit nicht mehr verschafft werden kann, scheidet nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats die Zuerkennung einer Geldentschädigung im Falle der Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsschutzes aus. Erfolgt die Verletzung des Persönlichkeitsrechts zwar noch zu Lebzeiten des Verletzten, stirbt dieser aber, bevor sein Entschädigungsanspruch erfüllt worden ist, verliert die mit der Geldentschädigung bezweckte Genugtuung regelmäßig ebenfalls an Bedeutung. Gründe, vom Fortbestehen des Geldentschädigungsanspruchs über den Tod des Verletzten hinaus auszugehen, bestehen unter diesem Gesichtspunkt im Allgemeinen mithin nicht. Der von der Revision herangezogene Gedanke der Prävention kann vorliegend zu keiner anderen Beurteilung führen. Zwar trifft es zu, dass der Geldentschädigungsanspruch auch der Prävention dient. Der Präventionsgedanke vermag die Gewährung einer Geldentschädigung – auch in dem von der Revision vorliegend für gegeben erachteten Fall der Zwangskommerzialisierung – aber nicht alleine zu tragen. Dies wirkt sich nicht nur – wie im Falle postmortaler Persönlichkeitsrechtsverletzungen – auf die Beurteilung der Frage aus, ob der Geldentschädigungsanspruch auch unabhängig von seiner Genugtuungsfunktion entstehen kann, sondern auch darauf, ob er – wie im vorliegend zu beurteilenden Fall – bei Fortfall dieser Funktion weiterbestehen kann.“ (BGH, Urt. v. 29.4.2014 – VI ZR 246/12, NJW 2014, 2871 (2872 f.), Nachweise im Zitat ausgelassen).
Aus der Streichung des § 847 Abs. 1 S. 2 BGB a.F. lasse sich auch kein anderweitiger gesetzgeberische Wille ableiten (BGH, Urt. v. 29.4.2014 – VI ZR 246/12, NJW 2014, 2871 (2872); ebenso Urt. v. 32.5.2017 – VI ZR 261/16, NJW 2017, 3004 (3005)). Weiterhin soll sich an der fehlenden Vererblichkeit auch weder durch die Anhängigkeit des Anspruchs (hierzu BGH, Urt. v. 29.4.2014 – VI ZR 246/12, NJW 2014, 2871 (2873)), noch durch dessen Rechtshängigkeit etwas ändern (hierzu BGH, Urt. v. 32.5.2017 – VI ZR 261/16, NJW 2017, 3004 (3005 f.)). Mit Eintritt der Rechtskraft allerdings kann der Anspruch vererbt werden, da sodann eine gesicherte Rechtsposition entstanden ist. Hierzu der BGH:
„Der erkennende Senat hat bereits mehrfach klargestellt, dass bei der Zuerkennung einer Geldentschädigung im Fall einer schweren Persönlichkeitsrechtsverletzung – anders als beim Schmerzensgeld – regelmäßig der Genugtuungsgedanke im Vordergrund steht, während der Präventionsgedanke die Gewährung einer Geldentschädigung nicht alleine zu tragen vermag. Der Senat hat deshalb für die Frage der Vererblichkeit eines bereits anhängigen Entschädigungsanspruchs ausgeführt, dass die Anhängigkeit einer auf Geldentschädigung gerichteten Klage nichts daran ändert, dass die von der Geldentschädigung bezweckte Genugtuung mit dem Tod des Verletzten an Bedeutung verliert. Aus dem Gedanken der Genugtuung folgt weiter, dass auch ein rechtshängiger Geldentschädigungsanspruch wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht vererblich ist. Denn ebenso wenig wie der Erblasser Genugtuung bereits mit der Einreichung der Klage erlangt, erlangt er sie mit deren Zustellung. Sie tritt erst mit der rechtskräftigen Zuerkennung eines Anspruchs auf Geldentschädigung ein. Denn mit der Rechtskraft und nicht – wie die Revision meint – mit der Zustellung der Klage, mit der allenfalls eine Aussicht auf Genugtuung entsteht, wird eine gesicherte Position erlangt. Der Senat hat in dem Urteil vom 29.4.2014 formuliert, sterbe der Erblasser, bevor sein Entschädigungsanspruch erfüllt worden sei, verliere die mit der Geldentschädigung bezweckte Genugtuung regelmäßig ebenfalls an Bedeutung. Daraus kann nicht abgeleitet werden, Genugtuung werde erst mit der Erfüllung erlangt. Stirbt der Erblasser nach Rechtskraft der Entscheidung, geht der rechtskräftig zuerkannte Anspruch auf seinen Erben über.“ (BGH, Urt. v. 32.5.2017 – VI ZR 261/16, NJW 2017, 3004 (3005 f.), Nachweise im Zitat ausgelassen, Hervorh. d. Verf.).
IV. Festhalten an der Rechtsprechungslinie auch im Jahr 2021
An dieser Entscheidungspraxis hält der BGH ausweislich der Pressemitteilung zum Abschluss des Verfahrens im Fall Kohl fest: Durchgreifende Gründe, die Rechtsprechung aufzugeben, habe der Senat nicht gesehen (PM Nr. 218/2021 v. 29.11.2021). Da die Entscheidung des LG Köln, die dem Altkanzler einen Entschädigungsanspruch zusprach, zum Zeitpunkt seines Todes noch nicht rechtskräftig war, geht der Anspruch in Millionenhöhe nicht auf seine Witwe und Alleinerbin über.
Viel Neues folgt aus der Entscheidung also nicht – für Studenten wie Examenskandidaten ist sie gleichwohl wichtig, denn dem einen oder anderen Prüfer dürfte sie in Erinnerung rufen, wie gut sich doch eine Prüfung des § 823 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG mit erbrechtlichem Einschlag für Klausuren in Studium und Examen eignet.
 

02.12.2021/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2021-12-02 09:19:482021-12-02 09:19:48Der Entschädigungsanspruch bei Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts und seine Vererblichkeit
Dr. Lena Bleckmann

BGH: Der Staat haftet nicht für schlechte Gesetze – Neues zur Amtshaftung für legislatives Unrecht

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Am 28.1.2021 erging eine Entscheidung des BGH (III ZR 25/20), der viele mit Spannung entgegengeblickt haben. Das Verfahren zur Amtshaftung aufgrund einer unwirksamen Mietpreisbremse hat hohe praktische Relevanz, sind die vom BGH angewandten Grundsätze doch auf andere Fälle des legislativen Unrechts übertragbar. Staatshaftungsrecht ist bei Studenten bekanntermaßen nicht sonderlich beliebt – die hochaktuelle Entscheidung dürfte aber umso mehr für Klausurrelevanz sorgen. Die Lektüre lohnt sich also, insbesondere auch zur Wiederholung der Grundsätze der Amtshaftung.
I. Worum es geht
Nach § 556d Abs. 2 S. 1 BGB haben die Länder die Möglichkeit, durch Verordnung Gebiete mit angespannter Wohnsituation festzulegen und so den Mechanismus der Mietpreisbremse nach § 556d Abs. 1 BGB auszulösen. Zu Beginn des Mietverhältnisses darf die Miete die ortsübliche Vergleichsmiete dann um höchstens 10 % übersteigen. Eine solche Verordnung hat das Land Hessen u.a. für einen Stadtteil von Frankfurt am Main erlassen, allerdings die in § 556d Abs. 2 S. 5-7 BGB festgelegte Begründungspflicht verletzt. In der Folge erklärte der BGH die Verordnung für unwirksam (BGH, Urt. v. 17.7.2019 – VIII ZR 130/18). Damit konnte die Mietpreisbremse für den betroffenen Stadtteil nicht gelten, was für ein Ehepaar bedeutete, dass ihre Miete nicht wie erwartet um mehr als 200 € sank. Der Rechtsdienstleister wenigermieter.de, an den das Ehepaar seine Ansprüche abgetreten hatte, forderte nach der Entscheidung des BGH über die Unwirksamkeit der Verordnung Ersatz vom Staat. Dieser habe seine Amtspflicht gegenüber den Mietern verletzt.
II. Rechtliche Grundlagen
Maßgeblich geht es also um eine Amtshaftung nach § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG. Die grundsätzliche Konstruktion der Amtshaftung ist bekannt – § 839 Abs. 1 S. 1 BGB normiert zunächst die persönliche Einstandspflicht des handelnden Beamten, die Haftung wird aber durch Art. 34 GG auf den Staat übergeleitet. Voraussetzung für einen Amtshaftungsanspruch ist, dass jemand in Ausübung eines hoheitlichen Amtes die einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht verletzt, dies kausal zu einem Schaden führt und der Beamte dies zu verschulden hat. Der Begriff des Beamten ist hier weit zu fassen – Beamte im staatshaftungsrechtlichen Sinne sind alle Personen, denen öffentliche Gewalt anvertraut wurde und die ihre Tätigkeit nach den Bestimmungen des öffentlichen Rechts ausüben (s. BeckOK BGB/Reinert, § 839 Rn. 4, 15). Dies ist unter Anwendung der modifizierten Subjektstheorie zu bestimmen. Einschränkungen der Haftung folgen aus § 839 Abs. 1 S. 2 BGB (bei Fahrlässigkeit besteht kein Anspruch, wenn der Betroffene auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermag), Abs. 2 (Spruchrichterprivileg) und Abs. 3 (kein Ersatz bei schuldhafter Versäumnis von Rechtsmitteln). Der Anspruch wird vor den ordentlichen Gerichten geltend gemacht, Art. 34 S. 3 GG, § 40 Abs. 2 S. 1 VwGO.
III. Die aktuelle Entscheidung des BGH im Kontext der Amtshaftung
Angewandt auf den zu entscheidenden Fall ist nun zunächst eindeutig, dass jemand – die Landesregierung bzw. deren Mitglieder – bei Erlass der Verordnung in Ausübung eines öffentlichen Amts agierte: Die in § 556d Abs. 2 BGB vorgesehene Verordnungsermächtigung berechtigt ausschließlich die Landesregierung als Trägerin hoheitlicher Gewalt und ist somit dem öffentlichen Recht zuzuordnen. Auf Grundlage dieser Norm agierte die Regierung in Ausübung eines öffentlichen Amtes, ihre Mitglieder sind Beamte im staatshaftungsrechtlichen Sinne.
Entscheidend ist demgegenüber das Merkmal der Verletzung einer drittbezogenen Amtspflicht. Der Begriff der Amtspflicht ist weit zu fassen und umfasst insbesondere auch die Pflicht zu rechtmäßigem Handeln. Indem die Begründungspflicht nach § 556d Abs. 2 S. 5-7 BGB verletzt wurde, wurde auch eine Amtspflicht verletzt, denn es liegt eine rechtswidrige Amtsausübung vor. Das reicht für den Amtshaftungsanspruch jedoch noch nicht – verletzt werden muss gerade eine drittgerichtete Amtspflicht. Das setzt voraus, dass die Amtspflicht gerade auch der Wahrung der Interessen des Dritten dient. Der BGH führt in seiner Pressemitteilung hierzu aus:

„Es muss mithin eine besondere Beziehung zwischen der verletzten Amtspflicht und dem geschädigten „Dritten“ bestehen. Gesetze und Verordnungen enthalten hingegen durchweg generelle und abstrakte Regeln, und dementsprechend nimmt der Gesetzgeber in der Regel ausschließlich Aufgaben gegenüber der Allgemeinheit wahr, denen die Richtung auf bestimmte Personen oder Personenkreise fehlt.“ (BGH, Pressemitteilung Nr. 018/2021)

Damit greift das Gericht die anerkannten Grundsätze zur Haftung – bzw. fehlenden Haftung – für legislatives Unrecht auf. Die Pflicht zum rechtmäßigen Handeln in ihrer Ausprägung, nur rechtmäßige Gesetze zu erlassen, dient i.d.R. nicht dem Einzelnen, sondern den Interessen der Allgemeinheit. Ein Amtshaftungsanspruch scheidet damit aus. Das muss aber nicht ausnahmslos in allen Fällen legislativen Unrechts gelten, wie auch der BGH anmerkt:

„Nur ausnahmsweise – etwa bei sogenannten Maßnahme- oder Einzelfallgesetzen – kann etwas Anderes in Betracht kommen und können Belange bestimmter Einzelner unmittelbar berührt werden, so dass sie als „Dritte“ im Sinne des § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB angesehen werden können.“ (BGH, Pressemitteilung Nr. 018/2021)

Die Verordnung zur Mietpreisbremse sei aber kein derartiges Maßnahme- oder Einzelfallgesetz, denn sie betreffe keine individuellen Mieter, sondern aufgrund der Weite ihres räumlichen Geltungsbereichs einen unüberschaubar großen und nicht individuell begrenzten Personenkreis.
Dies hätte womöglich schon gereicht, um den Amtshaftungsanspruch abzulehnen. Der BGH ging in seinen Ausführungen aber noch weiter und merkte an, dass auch der Eingriff in eine grundrechtlich geschützte Rechtsposition nicht zu einem Amtshaftungsanspruch führe:

„Nicht jede Grundrechtsbeeinträchtigung durch staatliche Amtsträger führt zur Staatshaftung. Der Gesetzgeber kann Voraussetzungen und Umfang von Amtshaftungs- und Entschädigungsansprüchen näher ausgestalten. Eine solche Ausgestaltung ist mit § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB erfolgt, wonach ein Amtshaftungsanspruch nur besteht, wenn ein Beamter die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht verletzt. Damit ist eine Haftung wegen der Verletzung von Amtspflichten, die dem Beamten nicht spezifisch dem Träger des betroffenen Grundrechts gegenüber obliegen, nicht vereinbar.“ (BGH, Pressemitteilung Nr. 018/2021)

Und auch das enttäuschte Vertrauen der Mieter in die Wirksamkeit der hessischen Mietpreisbremsenverordnung könne für sich genommen keinen Ersatzanspruch nach sich ziehen – ein allgemeiner Anspruch diesbezüglich ist nicht anerkannt, die Voraussetzungen der Amtshaftung mangels Drittbezogenheit nicht erfüllt.
IV. Was bleibt?
Der BGH ist seiner lang etablierten Linie treu geblieben und hat eine Haftung des Staates für mangelhafte und damit unwirksame Gesetze abgelehnt. Eine andere Entscheidung hätte weitreichende Folgen haben können – nicht nur zahlreiche Verordnungen zu Mietpreisbremsen sind in der Vergangenheit für unwirksam erklärt worden, die Entscheidung hätte Ausstrahlungswirkung auf sämtliche anderen unwirksamen Normen gehabt und so zu umfangreichen Haftungssummen führen können. Dies hat das Urteil abgewendet. Für Studenten und Examenskandidaten ist das begrüßenswert – es bleibt bei den bislang geltenden Grundsätzen, nach denen eine Haftung für legislatives Unrecht i.d.R. nicht besteht. Mieter und sonst von letztlich unwirksamen Gesetzen Betroffene dürften dem anders gegenüberstehen.

01.02.2021/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2021-02-01 08:30:102021-02-01 08:30:10BGH: Der Staat haftet nicht für schlechte Gesetze – Neues zur Amtshaftung für legislatives Unrecht
Dr. Maike Flink

Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 4/2019 und 1/2020) – Teil 1: Verfassungsrecht

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Bei der Vorbereitung auf die schriftliche und vor allem mündliche Examensprüfung, aber auch auf Klausuren des Studiums, ist die Kenntnis aktueller Rechtsprechung von entscheidender Bedeutung. Der folgende Überblick ersetzt zwar keinesfalls die vertiefte Auseinandersetzung mit den einzelnen Entscheidungen, soll hierfür aber Stütze und Ausgangspunkt sein. Dargestellt wird daher eine Auswahl der examensrelevanten Entscheidungen der vergangenen Monate anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen und ergänzender kurzer Ausführungen aus den Gründen, um einen knappen Überblick aktueller Rechtsprechung auf dem Gebiet des Öffentlichen Rechts zu bieten.
 
BVerfG (Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16): Minderung von Hartz IV bei unterbliebener Mitwirkung teilweise verfassungswidrig
 Die Regelungen zur Minderung bzw. zum Entzug der Sozialhilfe nach § 31a I SGB II und § 31b SGB II, welche die Mitwirkungspflichten nach § 31 I SGB II durchsetzen sollen, sind in ihrer konkreten Ausgestaltung nicht mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 I GG i.V.m. Art. 20 IGG) vereinbar: Zwar sind Mitwirkungspflichten – ebenso wie Sanktionen bei unterlassener Mitwirkung – im Rahmen der Gewährung existenzsichernder Leistungen grundsätzlich zulässig, jedoch müssen sie in ihrer konkreten Ausgestaltung auch verhältnismäßig sein. Denn die Minderung existenzsichernder Leistungen steht in einem erheblichen Spannungsverhältnis zur aus Art. 1 I GG i.V.m. Art. 20 I GG abgeleiteten Existenzsicherungspflicht des Staates. Daher gilt ein strenger Verhältnismäßigkeitsmaßstab:

„Wird eine Mitwirkungspflicht zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit ohne wichtigen Grund nicht erfüllt und sanktioniert der Gesetzgeber das durch den vorübergehenden Entzug existenzsichernder Leistungen, schafft er eine außerordentliche Belastung. Dies unterliegt strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit; der sonst weite Einschätzungsspielraum zur Eignung, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit von Regelungen zur Ausgestaltung des Sozialstaates ist hier beschränkt. Prognosen zu den Wirkungen solcher Regelungen müssen hinreichend verlässlich sein; je länger die Regelungen in Kraft sind und der Gesetzgeber damit in der Lage ist, fundierte Einschätzungen zu erlangen, umso weniger genügt es, sich auf plausible Annahmen zu stützen. Zudem muss es den Betroffenen tatsächlich möglich sein, die Minderung existenzsichernder Leistungen durch eigenes Verhalten abzuwenden; es muss also in ihrer eigenen Verantwortung liegen, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung auch nach einer Minderung wieder zu erhalten.“

Zwar dienen die Sanktionsregelungen in § 31a I SGB II sowie § 31b SGB II mit der Durchsetzung dieser Mitwirkungspflichten einem legitimen Ziel, da nur durch ein „Fördern und Fordern“ die dauerhafte Finanzierbarkeit der Sozialhilfe gewährleistet werden kann. Allerdings sind die konkreten Regelungen unverhältnismäßig, da sie Leistungskürzungen in unzumutbarer Höhe – einschließlich des vollständigen Wegfalls existenzsichernder Leistungen – ermöglichen. Zudem können auch nur geringe Kürzungen gegenwärtig ohne weitere Prüfung, beispielsweise von besonderen Härten, erfolgen. Letztlich endet die Leistungskürzung unabhängig von den Umständen des Einzelfalls stets nach einer starren Frist, sodass auch eine Nachholung der Mitwirkung unbeachtlich ist. Aufgrund vorstehender Erwägungen verstoßen die Sanktionen bei Unterlassen einer Mitwirkungshandlung in ihrer konkreten Ausgestaltung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
 
 BVerfG (Beschl. v. 6.11.2019 – 1 BvR 16/13): Recht auf Vergessen I
Das BVerfG räumt der Prüfung am Maßstab der Grundrechte des GG nunmehr einen Vorrang ein, sofern sich die Anwendungsbereiche von GG und GRCh überschneiden. Grundsätzlich prüft das Gericht nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts, weshalb es die GRCh – bislang – nicht als Prüfungsmaßstab heranziehen konnte. Um dadurch nicht die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu gefährden, treten die Grundrechte des GG grundsätzlich zurück, sofern der Anwendungsbereich der GRCh eröffnet ist, d.h. wenn die Mitgliedstaaten Unionsrecht durchführen (Art. 51 I 1 GRCh). Dies gilt jedenfalls, solange der europäische Grundrechtsstandard im Wesentlichen mit dem Schutzniveau des Grundgesetzes vergleichbar ist.  Soweit den Mitgliedstaaten eigene Umsetzungsspielräume verbleiben, bleiben die Grundrechte des GG jedoch anwendbar. Denn in einem solchen Fall ist wegen der verbleibenden mitgliedstaatlichen Spielräume eine vollständig einheitliche Anwendung des Unionsrechts gar nicht intendiert. Die Grundrechte des GG treten damit – wie das BVerfG nunmehr ausdrücklich feststellt – neben die Grundrechte der GRCh. Bei paralleler Anwendbarkeit mehrerer Grundrechtskataloge gilt grundsätzlich das jeweils höhere Schutzniveau (Art. 53 GRCh). In diesem Zusammenhang stellt das BVerfG fest, dass zu vermuten ist, dass das Schutzniveau der Grundrechte des GG demjenigen der GRCh zumindest entspricht oder dieses sogar übersteigt.

„Wenn danach regelmäßig anzunehmen ist, dass das Fachrecht, soweit es den Mitgliedstaaten Spielräume eröffnet, auch für die Gestaltung des Grundrechtsschutzes auf Vielfalt ausgerichtet ist, kann sich das BVerfG auf die Vermutung stützen, dass durch eine Prüfung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes das Schutzniveau der Charta, wie sie vom EuGH ausgelegt wird, in der Regel mitgewährleistet ist. […] Die primäre Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes bedeutet nicht, dass insoweit die Grundrechte-Charta ohne Berücksichtigung bleibt. Der Einbettung des Grundgesetzes wie auch der Charta in gemeinsame europäische Grundrechtsüberlieferungen entspricht es vielmehr, dass auch die Grundrechte des Grundgesetzes im Lichte der Charta auszulegen sind.“

 S. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
BVerfG (Beschl. v. 6.11.2019 – 1 BvR 276/17): Recht auf Vergessen II
Enthält das durch die Mitgliedstaaten umzusetzende und zu vollziehende Unionsrecht keine Gestaltungsspielräume, finden die Grundrechte des GG keine Anwendung; sie treten hinter der GRCh zurück. Allerdings hat das BVerfG nunmehr klargestellt, dass es sich berechtigt sieht, die Grundrechte der GRCh selbst anzuwenden und als Prüfungsmaßstab im Rahmen der Verfassungsbeschwerde heranzuziehen. So heißt es ausdrücklich:

„Soweit das BVerfG die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Prüfungsmaßstab anlegt, übt es seine Kontrolle in enger Kooperation mit dem EuGH aus.“

Nur so könne das BVerfG einen effektiven Grundrechtsschutz gewährleisten. Da die Grundrechte der GRCh letztlich ein Funktionsäquivalent der Grundrechte des GG seien und auf unionsrechtlicher Ebene kein effektiver Individualrechtsbehelf bestehe, komme dem BVerfG die Aufgabe zu, den effektiven Schutz auch der Grundrechte der GRCh im Rahmen der Verfassungsbeschwerde sicherzustellen:

„Die Gewährleistung eines wirksamen Grundrechtsschutzes gehört zu den zentralen Aufgaben des BVerfG. […]Auch die Unionsgrundrechte gehören heute zu dem gegenüber der deutschen Staatsgewalt durchzusetzenden Grundrechtsschutz. Sie sind nach Maßgabe des Art. 51 I GRCh innerstaatlich anwendbar und bilden zu den Grundrechten des Grundgesetzes ein Funktionsäquivalent. […] Ohne Einbeziehung der Unionsgrundrechte in den Prüfungsmaßstab des BVerfG bliebe danach der Grundrechtsschutz gegenüber der fachgerichtlichen Rechtsanwendung nach dem heutigen Stand des Unionsrechts unvollständig. Dies gilt insbesondere für Regelungsmaterien, die durch das Unionsrecht vollständig vereinheitlicht sind. Da hier die Anwendung der deutschen Grundrechte grundsätzlich ausgeschlossen ist, ist ein verfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz nur gewährleistet, wenn das BVerfG für die Überprüfung fachgerichtlicher Rechtsanwendung die Unionsgrundrechtezum Prüfungsmaßstab nimmt.“

 S. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
BVerfG (Beschl. v. 30.1.2020 – 2 BvR 1005/18): Das Verbot, Hunde in eine Arztpraxis mitzuführen, benachteiligt Blinde unangemessen
Ein gegenüber blinden Menschen ausgesprochenes Verbot, mit einem Blindenführhund eine Arztpraxis zu durchqueren, stellt eine mit Art. 3 III 2 GG – der jede Benachteiligung wegen der Behinderung verbietet – nicht zu vereinbarende Benachteiligung dar. Eine Schlechterstellung von Menschen mit Behinderung ist nur ausnahmsweise zulässig, sofern sie durch zwingende Gründe gerechtfertigt werden kann. Dies gilt auch im Rechtsverhältnis zwischen Privaten, denn das Benachteiligungsverbot ist zugleich eine objektive Wertentscheidung des Gesetzgebers und hat daher auch Einfluss auf Anwendung und Auslegung des Zivilrechts. Das Verbot, Hunde in eine Arztpraxis mitzuführen, benachteiligt blinde Menschen in besonderem Maße, soweit es ihnen dadurch insgesamt verwehrt wird, die Praxisräume selbstständig zu durchqueren. Unerheblich ist dabei, dass die betroffenen blinden Personen selbst nicht daran gehindert werden, die Praxisräume zu betreten, sondern sich daran lediglich deshalb gehindert fühlen, weil sie ihren Blindenführhund nicht mitnehmen können. Denn Art. 3 III 2 GG möchte jede Bevormundung behinderter Menschen verhindern und ihnen Autonomie ermöglichen. Wird einem Blinden jedoch verwehrt, seinen Blindenführhund mit in die Praxis zu nehmen, so folgt daraus zugleich, dass er sich von anderen Menschen helfen lassen und sich damit von anderen abhängig machen muss, um die Praxisräume zu durchqueren. Die betroffene Person muss sich – ohne dies zu wollen – anfassen und führen oder im Rollstuhl schieben lassen, was einer Bevormundung gleichkommt und daher mit Art. 3 III 2 GG unvereinbar ist. Diese erhebliche Beeinträchtigung überwiegt die entgegenstehende Berufsausübungsfreiheit sowie die allgemeine Handlungsfreiheit das Praxisinhabers. Denn es bestehen keine sachlichen Gründe für ein Verbot, Blindenhunde mitzuführen: Dies gelte insbesondere soweit auf die Gewährleistung der nötigen Hygiene verwiesen werde. Denn sofern die blinde Person mit ihrem Blindenführhund lediglich den Wartebereich durchqueren möchte – den auch andere Menschen mit Straßenschuhe und Straßenkleidung betreten – sei keine nennenswerte Beeinträchtigung der Hygiene durch den Hund zu erkennen.
 
BVerfG (Urt. v. 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15 u.a.): Grundrecht auf Suizid
Das BVerfG hat § 217 StGB, der die geschäftsmäßige Sterbehilfe unter Strafe stellte, für verfassungswidrig erklärt und damit zugleich ein Grundrecht auf Suizid geschaffen. § 217 StGB hatte bislang jede Form der geschäftsmäßigen Sterbehilfe unter Strafe gestellt, wobei Geschäftsmäßigkeit in diesem Zusammenhang keine Gewinnerzielungsabsicht erforderte, sondern es allein auf eine Wiederholungsabsicht, die auch bei Ärzten angenommen werden konnte, ankam. Die Norm verletzt das Grundrecht der betroffenen Sterbewilligen auf selbstbestimmtes Sterben, das sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG) herleiten lässt und in jeder Phase menschlicher Existenz besteht. Zwar verfolgt die Norm das legitime Ziel des Autonomie- und Lebensschutzes. Indes führte das BVerfG aus:

„Die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung hat zur Folge, dass das Recht auf Selbsttötung als Ausprägung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in bestimmten Konstellationen faktisch weitgehend entleert ist. Dadurch wird die Selbstbestimmung am Lebensende in einem wesentlichen Teilbereich außer Kraft gesetzt, was mit der existentiellen Bedeutung dieses Grundrechts nicht in Einklang steht.“

Weitergehend setzte sich das Gericht auch mit einer möglichen Verletzung der Grundrechte der betroffenen Ärzte, Rechtsanwälte und Sterbehilfevereine auseinander, die sich ihrerseits auf Art. 12 I GG und subsidiär auf Art. 2 I GG berufen können. Denn die Möglichkeit, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, ist in tatsächlicher Hinsicht davon abhängig, dass Dritte auch bereit sind, diese zu leisten. Nur wenn Dritte Sterbehilfe straffrei durchführen können, kann auch das Grundrecht auf Suizid tatsächlich verwirklicht werden.
 S. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
BVerfG (Beschl. v. 27.2.2020 – 2 BvR 1333/17): Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen
Das BVerfG hat das Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen, das es ihnen untersagt, Tätigkeiten, bei denen sie von Bürgern als Repräsentanten der Justiz oder des Staates wahrgenommen werden können, mit Kopftuch auszuüben, als verfassungsgemäß eingestuft. Das Verbot stelle keine Verletzung der Religionsfreiheit (Art. 4 I, II GG), der Berufsfreiheit (Art. 12 I GG) oder des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG) dar. Im Schwerpunkt setzte das BVerfG sich mit der Religionsfreiheit der Beschwerdeführerin auseinander: Die Pflicht, bei Tätigkeiten, bei denen die Beschwerdeführerin als Repräsentantin des Staates wahrgenommen werden könnte, gegen ihre religiös begründeten Bekleidungsregeln zu verstoßen, stellt zwar einen Eingriff in den Schutzbereich der Religionsfreiheit dar, da sie dadurch vor die Wahl gestellt werde, „entweder die angestrebte Tätigkeit auszuüben oder dem von ihr als verpflichtend angesehenen religiösen Bekleidungsgebot Folge zu leisten.“ Allerdings ist dieser Eingriff nach Auffassung des BVerfG gerechtfertigt, da der Staat seinerseits zur Neutralität verpflichtet sei.

„Hierbei entspricht die Verpflichtung des Staates zur Neutralität einer Verpflichtung seiner Amtsträger: Der Staat kann nur durch seine Amtsträger handeln, sodass diese das Neutralitätsgebot zu wahren haben, soweit ihr Handeln dem Staat zugerechnet wird.
Hier ist eine besondere Betrachtung des Einzelfalls erforderlich. Nicht jede Handlung eines staatlich Bediensteten ist dem Staat in gleicher Weise zuzurechnen. […] Die Situation vor Gericht ist indes besonders dadurch geprägt, dass der Staat dem Bürger klassisch-hoheitlich gegenübertritt. Auch ist eine besondere Formalität und Konformität dadurch gegeben, dass die Richter eine Amtstracht tragen.
[…] Aus Sicht des objektiven Betrachters kann insofern das Tragen eines islamischen Kopftuchs durch eine Richterin oder eine Staatsanwältin während der Verhandlung als Beeinträchtigung der weltanschaulich-religiösen Neutralität dem Staat zugerechnet werden.“

Weitere Erwägungen für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Kopftuchverbotes sind zudem das Vertrauen des Bürgers in die Rechtspflege und die Justiz sowie sie negative Religionsfreiheit Dritter, die durch den unausweichlichen Anblick des Kopftuchs im Gerichtssaal verletzt sein kann. Unter Berufung auf diese Argumente lehnte das BVerfG daher auch eine Verletzung der Berufsfreiheit und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin ab.
S. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.

08.04.2020/1 Kommentar/von Dr. Maike Flink
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maike Flink https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maike Flink2020-04-08 10:00:122020-04-08 10:00:12Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 4/2019 und 1/2020) – Teil 1: Verfassungsrecht
Dr. Yannik Beden, M.A.

Grundrechte: Die 30 wichtigsten Definitionen für Klausur und Examen

Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht, Verschiedenes

Wer das juristische Studium erfolgreich absolvieren will, muss Zusammenhänge verstehen und auch für Unbekanntes praktikable Lösungsansätze entwickeln können. Bloßes Auswendiglernen führt nicht zum Ziel. Trotzdem gilt, dass einige wesentliche Begrifflichkeiten in fast jedem Rechtsgebiet bekannt sein sollten – nicht zuletzt, um in der Klausur wertvolle Zeit einzusparen. Der Grundrechtskatalog umfasst eine überschaubare Anzahl an Begriffen, die jeder ambitionierte Student und Examenskandidat im Handumdrehen definieren können sollte. Die nachstehende Auflistung enthält diejenigen Definitionen, die für die Grundrechtsklausur notwendig sind. Wer diese beherrscht, ist für den Ernstfall bestens gewappnet:
(1) Eingriff
Nach dem sog. klassischen Eingriffsverständnis ist ein Eingriff jeder staatliche Akt, der final und unmittelbar die Rechtssphäre des Bürgers verkürzt und mit Befehl und Zwang durchsetzbar ist. Nach dem sog. modernen Eingriffsbegriff ist ein Eingriff bereits jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht.
(2) Geeignetheit
Geeignet ist eine Maßnahme, wenn sie zur Erreichung des verfolgten Zwecks dienlich bzw. förderlich sein kann.
(3)Erforderlichkeit
Erforderlich ist eine Maßnahme, wenn es keine milderen, den Bürger weniger belastende Mittel gibt, die zur Erreichung des verfolgten Zwecks gleich geeignet sind.
(4) Angemessenheit
Angemessen ist eine Maßnahme, wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt.
(5) Verfassungsmäßige Ordnung
Verfassungsmäßige Ordnung i.S.v. Art 2 Abs. 1 GG meint alle Rechtsnormen, die formell und materiell mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Beachte: Der Begriff findet sich auch in Art. 9 Abs. 2 GG und Art. 20 Abs. 3 GG und hat in diesen Zusammenhängen andere Bedeutung!
(6) Glaube
Die Auffassung über die Stellung des Menschen in der Welt und seine Beziehung zu höheren Mächten und tieferen Seinsschichten.
(7) Gewissen
Der Begriff meint jede ernste und sittliche, an den Kategorien „Gut“ und „Böse“ orientiere Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, sodass er gegen diese nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte.
(8) Wissenschaft
Jeder ernsthafte, auf einem gewissen Kenntnisstand aufbauende Versuch zur Ermittlung der wahren Erkenntnisse durch methodisch geordnetes und kritisch reflektierendes Denken.
(9) Formeller Kunstbegriff
Danach sind Kunst nur solche Tätigkeiten, die einer traditionellen Kunstform zuzuordnen sind (Malerei, Theater, Dichtung etc.).
(10) Materieller Kunstbegriff
Kunst liegt vor, wenn das Werk das geformte Ergebnis einer freien, schöpferischen Gestaltung ist, in dem der Künstler seine Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse in einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung bringt und das auf kommunikative Sinnvermittlung nach Außen gerichtet ist.
(11) Offener Kunstbegriff
Ein Kunstwerk liegt vor, wenn das Werk interpretationsfähig und -bedürftig sowie vielfältigen
Interpretationen zugänglich ist. 
(12) Meinung
Meinung ist jedes Werturteil, das durch Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder des Meinens geprägt ist.
(13) Tatsache
Tatsachen sind dem Beweis zugängliche Zustände oder Ereignisse. Der Wahrheitsgehalt der Äußerung steht bei der Tatsachenbehauptung im Vordergrund.
(14) Allgemeine Gesetze
Hierunter fallen alle Gesetze, die sich nicht gegen die Meinungsfreiheit oder die Freiheit von Presse und Rundfunk an sich oder gegen die Äußerung einer bestimmten Meinung richten, sondern vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen, welches in der Rechtsordnung allgemein geschützt wird.
(15) Presse
Der Begriff meint alle Druckerzeugnisse, die unabhängig von der Anzahl ihrer Vervielfältigung zur allgemeinen Verbreitung geeignet und bestimmt sind (Bücher, Zeitungen, Zeitschriften o.ä.).
(16) Rundfunk
Rundfunk meint jede an eine unbestimmte Vielzahl von Personen gerichtete, drahtlose oder drahtgebundene Übermittlung von Gedankeninhalten im Wege elektrischer Schwingungen.
(17) Enger Versammlungsbegriff
Nach dem engen Versammlungsbegriff, den das BVerfG vertritt, ist eine Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zwecks gemeinschaftlicher Erörterung und Kundgebung mit dem Ziel der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung.
(18) Erweiterter Versammlungsbegriff
Nach dem erweiterten Versammlungsbegriff bedeutet Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zwecks gemeinschaftlicher Meinungsbildung und Meinungsäußerung. Im Gegensatz zum engen Versammlungsbegriff muss die kollektive Meinungsbildung nicht auf öffentliche Angelegenheiten gerichtet sein.
(19) Weiter Versammlungsbegriff
Nach dem weiten Versammlungsbegriff versteht man unter einer Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen, zwischen denen durch einen gemeinsamen Zweck eine innere Verbindung besteht. Der weite Versammlungsbegriff verzichtet auf das Merkmal der kollektiven Meinungsäußerung und Meinungsbildung und lässt jede Art von Verbundenheit der Teilnehmer ausreichen.
(20) Verein
Verein ist ohne Rücksicht auf die Rechtsform jede Vereinigung, zu der sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen hat.
(21) Beruf
Unter Beruf ist jede auf Erwerb gerichtete Tätigkeit zu verstehen, die auf Dauer angelegt ist und der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage dient.
(22) Berufsausübungsregelung
Eine solche liegt vor, wenn der Gesetzgeber eine reine Ausübungsregelung trifft, die auf die Freiheit der Berufswahl nicht zurückwirkt, vielmehr nur bestimmt, in welcher Art und Weise die Berufsangehörigen ihre Berufstätigkeit im Einzelnen zu gestalten haben.
(23) Subjektive Berufswahlregelung
Bei der subjektiven Berufswahlregelung wird auf persönliche Eigenschaften und Fähigkeiten, erworbene Abschlüsse oder erbrachte Leistungen abgestellt, wobei es nicht auf den Einfluss des Betroffenen auf die Eigenschaften ankommt.
(24) Objektive Berufswahlregelung
Bei der objektiven Berufswahlregelung erfolgt die Beschränkung der Berufsfreiheit anhand von objektiven Kriterien, die nicht in der Person des Betroffenen liegen und auf die der Betroffene keinen Einfluss hat.
(25) Freizügigkeit
Freizügigkeit umfasst das Recht, an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Aufenthalt und Wohnung zu nehmen. Hierzu gehört die Einreise nach Deutschland zum Zwecke der Wohnsitznahme und die Freizügigkeit zwischen Ländern, Gemeinden und innerhalb einer Gemeinde.
(26) Wohnung
Der Begriff der Wohnung meint die räumliche Privatsphäre und damit jeden Raum, den der Einzelne der allgemeinen Zugänglichkeit entzieht und zum Mittelpunkt seines Lebens und Wirkens bestimmt. Auch Betriebs- und Geschäftsräume fallen unter den Schutzbereich; wegen des teilweise erheblichen Sozialbezugs von Betriebs- und Geschäftsräumen ist grundsätzlich aber ein im Vergleich zu privaten Wohnräumen geringeres Schutzniveau anzunehmen.
(27) Eigentum
Art. 14 GG ist ein „normgeprägtes Grundrecht“, sodass der Begriff des Eigentums nur schwerlich abschließend definiert werden kann. „Eigentum“ i.S. des GG sind jedenfalls alle vermögenswerten Rechte, die die Rechtsordnung dem Einzelnen dergestalt zuweist, dass dieser ausschließlich über das Recht verfügen kann. Eigentum iSd Art. 14 GG sind alle dinglichen Rechte des Zivilrechts, Ansprüche und Forderungen des privaten Rechts.   
(28) Inhalts- und Schrankenbestimmung
Unter Inhalts- und Schrankenbestimmungen ist die generelle und abstrakte Festlegung von Rechten und Pflichten durch den Gesetzgeber hinsichtlich solcher Rechtsgüter, die als Eigentum geschützt werden, zu verstehen.
(29) Enteignung
Enteignung ist die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter, durch Art. 14 GG gewährleisteter Rechtspositionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben. Die Enteignung beschränkt sich auf Vorgänge, bei denen Güter hoheitlich beschafft werden.
(30) Mittelbare Drittwirkung
Grundrechte entfalten mittelbar Wirkung in privaten Rechtsbeziehungen, indem Generalklausen und unbestimmte Rechtsbegriffe des Zivilrechts grundrechtskonform ausgelegt und angewendet werden („Ausstrahlungswirkung“).
 
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18.11.2019/0 Kommentare/von Dr. Yannik Beden, M.A.
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannik Beden, M.A. https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannik Beden, M.A.2019-11-18 09:30:182019-11-18 09:30:18Grundrechte: Die 30 wichtigsten Definitionen für Klausur und Examen
Dr. Yannik Beden, M.A.

Tätowierung bei Polizeibeamten: Bewerber darf nicht ohne gesetzliche Grundlage abgelehnt werden

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht

Eine brandaktuelle Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen beschäftigt sich mit dem nach wie vor kontrovers diskutierten Problemfeld des zulässigen Ausmaßes von Tätowierungen bei Beamten. Mit seiner Entscheidung vom 12.9.2018 – 6 A 2272/18 urteilte das Gericht, dass einem Bewerber für den Polizeivollzugsdienst seine Einstellung nicht aufgrund einer großflächigen Tätowierung am Unterarm untersagt werden darf. Die Entscheidung steht in engem Zusammenhang zu einem Grundsatzurteil des BVerwG aus dem vergangenen Jahr (Urteil v. 17.11.2017 – 2 C 25/17, NJW 2018, 1185), nach dem Regelungen über das zulässige Ausmaß von Tätowierungen bei Beamten eine hinreichend bestimmte gesetzliche Ermächtigung voraussetzen. Beide Urteile behandeln eine Fülle höchst examensrelevanter Problemstellungen (Parlamentsvorbehalt, Grundrechte im Beamtenverhältnis, Reichweite des APR usw.), die im Folgenden aufgezeigt werden:  
I. Sachverhalt der OVG Münster Entscheidung (Pressemitteilung entnommen)
„Der in Mülheim lebende Kläger hatte sich für die Einstellung in den Polizeivollzugsdienst des Landes Nordrhein-Westfalen zum 1. September 2017 beworben. Er trägt auf der Innenseite seines linken Unterarms eine Tätowierung in Gestalt eines Löwenkopfes mit einer Größe von 20 cm x 14 cm. Das zuständige Landesamt lehnte unter Berufung auf einen entsprechenden Verwaltungserlass die Einstellung des Klägers ab, weil sich die Tätowierung – beim Tragen der Sommeruniform – im sichtbaren Bereich befinde und mehr als handtellergroß sei. Nachdem das Verwaltungsgericht Düsseldorf das Land im Eilverfahren verpflichtet hatte, den Kläger zum weiteren Auswahlverfahren zuzulassen (Beschluss vom 24. August 2017 – 2 L 3279/17 -), wurde er nach dessen erfolgreichem Abschluss zum Kommissaranwärter ernannt. Das Land behielt sich aber ausdrücklich eine spätere Entlassung vor, sollte es im gerichtlichen Hauptsacheverfahren obsiegen. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf entschied mit Urteil vom 8. Mai 2018, dass das Land den Kläger nicht allein wegen seiner Tätowierung hätte ablehnen dürfen.“ (Ergänzung: Hiergegen legte das Land Berufung ein)
II. Urteil des Oberverwaltungsgerichts

Das OVG Münster wies die vom Land eingelegte Berufung zurück. Im Kern entscheidend ist: Regelungen über die Zulässigkeit von Tätowierungen im Beamtenverhältnis bedürfen aufgrund ihrer besonderen Grundrechtsintensität einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage. Das Stichwort lautet hier „Parlamentsvorbehalt“ als Konkretisierung des Prinzip des Gesetzesvorbehalts. Den schonenden Ausgleich zwischen widerstreitenden Grundrechten sowie kollidierende Verfassungspositionen ist dem Parlament vorbehalten, was bedeutet, dass die auch die wesentlichen Inhalte des Beamtenverhältnisses zwingend durch Gesetz zu regeln sind (vgl. BVerwG Urteil v. 17.11.2017 – 2 C 25/17, NJW 2018, 1185 (1188)). Da im streitigen Fall nur ein Erlass der Verwaltung regelte, welche Tätowierungen zur Ablehnung eines Bewerbers führen und keine gesetzliche Grundlage vorlag, durfte der Kläger nicht aufgrund seiner Tätowierung abgelehnt werden. Der parlamentarische Gesetzgeber – so das OVG Münster – müsse die für die Grundrechtsverwirklichung bedeutsamen Regelungen selbst treffen (Parlamentsvorbehalt!) und dürfe die Entscheidung über den konkreten Ausgleich der widerstreitenden Interessen nicht der Entscheidungsgewalt der Exekutive schrankenlos überlassen. Zudem sei es auch Aufgabe des Gesetzgebers, die gesellschaftlichen Wertungen hinsichtlich Tätowierungen und die daraus resultierende rechtliche Relevanz einzuschätzen und festzulegen. Entscheidend sei nach Auffassung des Gerichts vor allem, dass aus einer solchen parlamentarischen Regelung klar hervorgehen müsse, welche Maßnahmen dem Bürger gegenüber rechtmäßig sein sollen. Blickt man auf die bisherige Judikatur des BVerwG,  gilt danach auch für Verordnungsermächtigungen, dass die parlamentarische Leitentscheidung aus der Ermächtigung erkennbar und vorhersehbar sein muss (BVerwG Urteil v. 17.11.2017 – 2 C 25/17, NJW 2018, 1185 (1188), Beschluss v. 21.4.2015 – 2 BvR 1322/12, NVwZ 2015, 1279 (1280)).
III. Reglementierung von Tätowierungen im Beamtenverhältnis nach BVerwG – Die Grundsatzentscheidung vom 17.11.2017
Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts bestätigt die jüngste Entwicklung in der Rechtsprechung des BVerwG. In seinem Urteil vom 17.11.2017 setzte sich das Gericht mit der Entfernung eines Polizeikommissars aus dem Beamtenverhältnis wegen diverser Tätowierungen mit verfassungsfeindlichem Inhalt auseinander. Der damalige Beklagte war an verschiedenen Körperregionen mit nationalsozialistisch geprägten Kennzeichen tätowiert, etwa die Sigrune in ihrer doppelten Verwendung als Kennzeichen der Waffen-SS sowie die Wolfsangel, welche von mehreren Panzerdivisionen als Emblem verwendet wurde (ausführlich BVerwG Urteil v. 17.11.2017 – 2 C 25/17, NJW 2018, 1185 (1188 f.)). Das BVerwG judizierte in dieser Entscheidung, dass Regeln über das zulässige Ausmaß von Tätowierungen bei Beamten eine hinreichend bestimmte gesetzliche Ermächtigung voraussetzen. Zu einem ähnlichen Entschluss fand das BVerwG bereits in einer vorherigen Entscheidung bezüglich Bestimmungen zu Einstellungshöchstaltersgrenzen, die traditionell durch Verwaltungsvorschriften bestimmt worden sind, nunmehr aber – als Konsequenz einer weitgehenderen Anwendung des Parlamentsvorbehalts i.R.v. Art. 33 Abs. 2 GG – ebenso auf einer hinreichend bestimmten Entscheidung des parlamentarischen Gesetzgebers beruhen müssen (vgl. BVerwG Beschluss v. 21.4.2015 – 2 BvR 1322/12, 2 BvR 1989/12, NVwZ 2015, 1279).
Den Ausgangspunkt der Entwicklung in der Rechtsprechung bildet die Feststellung, dass Grundrechte auch im Beamtenverhältnis Wirkung entfalten. Berührt eine Regelung grundrechtlich geschützte Rechtspositionen, bedarf es für die Austarierung der widerstreitenden Grundrechtspositionen bzw. der kollidierenden Verfassungspositionen einer parlamentarischen Entscheidung. Geht es um die Zulässigkeit von Tätowierungen, sieht das BVerwG neben dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 Abs. 1 GG i.Vm. Art. 1 Abs. 1 GG auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) berührt. Dies mag auf den ersten Blick verwundern, da das Gericht für Fälle des Schneidens von Kopfhaaren den Anwendungsbereich noch verneint hat (BVerwG Urteil v. 2.3.2006 – 2 C 3/05, NVwZ-RR 2007, 781). Für Tätowierungen sei diese Judikatur jedoch aufgrund des offenkundigen körperlichen Schmerzes, der mit der Entfernung von Tätowierungen verbunden sei, nicht übertragbar. In der Summe lässt sich sagen: Nach der neueren Rechtsprechung handelt es sich bei Vorschriften zu Art und Umfang zulässiger Tätowierungen im Beamtenverhältnis um einen derart grundrechtsensiblen Regelungsbereich, dass der Parlamentsvorbehalt eine eigenständige Entscheidung des Gesetzgebers unabdingbar macht. Der Konkretisierung durch die Exekutive muss diese Entscheidung auch jedenfalls in Gestalt einer Verordnungsermächtigung vorangestellt werden.     
IV. Kurze Summa
Regelungen über die Zulässigkeit von Tätowierungen im Beamtenverhältnis bedürfen aufgrund ihrer besonderen Grundrechtsintensität einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage. Das Urteil des OVG Münster bestätigt insoweit die jüngste Rechtsprechung des BVerwG. Die Entscheidungen machen deutlich, dass der Parlamentsvorbehalt mit Blick auf Art. 33 Abs. 2, 5 GG von besonderer Bedeutung ist, da Grundrechte auch im Beamtenverhältnis Wirkung entfalten. Wesentliche Entscheidungen über Beschränkung und Austarierung grundrechtlich geschützter Positionen müssen vom Gesetzgeber getroffen werden. Summa summarum also ein Urteil, welches eine vertiefte Auseinandersetzung verdient.

17.09.2018/1 Kommentar/von Dr. Yannik Beden, M.A.
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannik Beden, M.A. https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannik Beden, M.A.2018-09-17 14:53:342018-09-17 14:53:34Tätowierung bei Polizeibeamten: Bewerber darf nicht ohne gesetzliche Grundlage abgelehnt werden
Gastautor

Dashcams – Einsatz von Minikameras im Straßenverkehr

Examensvorbereitung, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Öffentliches Recht, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes

Wir freuen uns heute einen Gastbeitrag von Juliane Böcken veröffentlichen zu können.
Dashcams – Einsatz von Minikameras im Straßenverkehr
Der Einsatz von Minikameras (sog. Dashcams) im Straßenverkehr wird immer beliebter und ihre Zulässigkeit seit längerem diskutiert. Denn ihre Verwendung ist aufgrund möglicher Eingriffe in das Persönlichkeits- und Datenschutzrecht höchst bedenklich. Mittlerweile wird das Thema auch bei den Prüfern immer beliebter und erhält damit hohe Examensrelevanz – sowohl für das Erste als auch für das Zweite Examen. In der Mündlichen Prüfung ist es schon häufig gelaufen und auch für Klausuren ist es „heiß“!
Zum Hintergrund
Bei Dashcams („dash“ = engl. f. Armaturenbrett) handelt es sich um kleine Kameras, die z.B. auf dem Armaturenbrett oder der Windschutzscheibe eines Fahrzeugs angebracht werden. Während der Fahrt zeichnen sie dann das gesamte Verkehrsgeschehen und damit auch andere Verkehrsteilnehmer auf. Die Fahrer erhoffen sich dadurch regelmäßig die Erlangung eines Videobeweises, etwa für den Fall eines späteren Unfalls.
Daraus ergibt sich folgendes Problem: Die betroffenen Verkehrsteilnehmer wissen meist nicht, dass sie gefilmt und ihre Daten (wie z.B. Auto-Kennzeichen) gespeichert werden.
Entscheidungen des AG Münchens
Besondere Brisanz erhält die Diskussion um die Zulässigkeit von Dashcams auch deshalb, weil dasselbe Gericht, nämlich das Amtsgericht München, diese Frage uneinheitlich beantwortet hat. So hat das Gericht ihre Verwendung einmal für zulässig (vgl. Urt. v. 06.06.2013, Az.: 343 C 4445/13) und in einer anderen Entscheidung für unzulässig (vgl. Beschl. v. 13.08.2014, Az.: 345 C 5551/14) erachtet.
In beiden Entscheidungen hatte sich die Frage nach der Verwertbarkeit des gewonnenen Videomaterials als Beweismittel im Zivilprozess gestellt.
In der Entscheidung vom 06.06.2013 (Az.: 343 C 4445/13) hat das AG München die Verwertung einer von einem Fahrradfahrer mit einer Helmkamera aufgenommenen Videoaufzeichnung für zulässig erachtet. Nach Ansicht des Gerichts stellten die Aufzeichnungen keinen Eingriff in ein fremdes Grundrecht dar, da die Situation mit der Aufnahme von Urlaubsbildern vergleichbar sei. Zu der Zeit, als das Video aufgenommen wurde, habe der Aufnehmende damit allerdings auch noch keinen bestimmten Zweck verfolgt, so dass die Aufnahmen als verhältnismäßig anzusehen waren.
Etwa ein Jahr später in der Entscheidung vom 13.08.2014 (Az.: 345 C 5551/14) hat das Amtsgericht allerdings die Auffassung vertreten, dass die von einer in einem Pkw installierten Dashcam gemachten Aufnahmen im Zivilprozess nicht als Beweismittel verwertbar seien. Einer Verwertung würden Persönlichkeitsrechte sowie Bestimmungen des Datenschutzes und des Kunsturhebergesetzes entgegenstehen.
Zur Prüfung im Einzelnen:
Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts

  1. Schutzbereich

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts i.S.d. Art. 2 Abs. 1, Art. 1 GG umfasst auch das Recht am eigenen Bild. Dazu gehört die Möglichkeit, sich in der Privatsphäre und in der Öffentlichkeit frei zu bewegen, ohne befürchten zu müssen ohne Kenntnis oder Zustimmung von einer Videoaufnahme erfasst und aufgezeichnet zu werden (Balzer/Nugel NJW 2014, 1622).

  1. Eingriff

Durch die unbefugte Erstellung von Fotoaufnahmen wird in dieses Grundrecht eingegriffen. Mit Dashcams gemachte Videos ohne Einwilligung können somit grundsätzlich einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der anderen Verkehrsteilnehmer darstellen.

  1. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

Ob ein solcher Eingriff ggf. gerechtfertigt ist, hängt von der Prüfung seiner Verhältnismäßigkeit unter Abwägung der Interessen aller Beteiligten ab.
Das Recht auf Informationelle Selbstbestimmung kann insbesondere durch konkurrierende Grundrechte Dritter eingeschränkt werden (Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 58 ff.). Als ein solches Grundrecht kommt das Interesse des Verwenders an einer fairen Handhabung des Beweisrechts in Betracht (vgl. AG München, BeckRS 2014, 16291). Dieses Interesse ist in seinem Grundsatz auch legitim, da sich gerade im Verkehrsrecht mitunter erhebliche Beweisprobleme und -schwierigkeiten ergeben können, etwa wenn Mitfahrer als Zeugen zu vernehmen sind.
Werden die Kameras zur Erlangung eines Videobeweises im Falle eines Verkehrsunfalls eingesetzt, stellt sich die Frage, ob eine Aufzeichnung während der gesamten Fahrt erforderlich ist. So wird vertreten, dass nur die Speicherung von Aufnahmen im engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Unfallereignis erforderlich ist und bei derart eingegrenzten Aufnahmen das Interesse der anderen Unfallbeteiligten an der Aufklärung des Unfallgeschehens zum Schutz zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche den kurzfristigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht überwiegen kann (Balzer/Nugel NJW 2014, 1622, 1627). Das generelle Aufnehmen des Verhaltens anderer Verkehrsteilnehmer während der gesamten Fahrt sei jedoch eingriffsintensiver. Auch nach Auffassung des Düsseldorfer Kreises (einer Aufsichtsbehörde für den Datenschutz) werden die anderen Verkehrsteilnehmer bei permanenten Aufzeichnungen zum Objekt einer Videoüberwachung gemacht, die sie ohne Anlass unter einen Generalverdacht stellen, dem sie sich nicht entziehen können (Beschl. v. 25./26.02.2014). Die Interessen der anderen Verkehrsteilnehmer dürften dann überwiegen, so dass ein Eingriff nicht gerechtfertigt wäre.
Vereinbarkeit mit dem Datenschutz
Aufnahmen aus dem Einsatz einer Dashcam können gegen § 6b Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 3 BDSG verstoßen. Nach dieser Vorschrift ist die Beobachtung öffentlich zugänglicher Räume mit Videoüberwachung nur zulässig, wenn sie für einen konkreten Zweck erforderlich ist und nicht andere schutzwürdige Interessen überwiegen.
Die schutzwürdigen Interessen der anderen Verkehrsteilnehmer dürften überwiegen, sofern der Hauptzweck der Aufnahmen in der Dokumentation eines möglichen Unfallhergangs besteht. Das Interesse des Autofahrers, für den theoretischen Fall eines Unfalls Aufnahmen als Beweismittel zu haben, könne den gravierenden Eingriff durch die permanente Aufzeichnung in das Persönlichkeitsrecht der Verkehrsteilnehmer nicht rechtfertigen (Beschl. d. Düsseldorfer Kreises v. 25./26.02.2014).
Verstoß gegen § 22 S. 1 KustUrhG
Die Verwendung der Autokamera kann ferner gegen § 22 S. 1 KunstUrhG verstoßen. Danach dürfen Bildnisse nur mit Einwilligung des Abgebildeten verbreitet oder öffentlich zur Schau gestellt werden. Ein Verstoß könnte bei einer permanenten Verwendung ohne Anlass angenommen werden (vgl. AG München, BeckRS 2014, 16291).
Eine Ausnahme kann nach § 23 Abs. 1 Nr. 2 KunstUrhG für Aufnahmen bestehen, auf denen die Personen nur als Beiwerk neben einer Landschaft oder sonstigen Örtlichkeiten erscheinen.
Verwertbarkeit der Aufnahmen im Zivilprozess
Selbst wenn die Erstellung der Aufnahmen als rechtswidrig zu qualifizieren ist, muss dies nicht zwingend zu einer Unverwertbarkeit führen (Bacher in: BeckOK ZPO, § 284, Rn. 22.2). Wenn die Videoaufnahmen einer Dashcam aber in das allgemeine Persönlichkeitsrecht eingreifen oder aus datenschutzrechtlichen Gründen als unzulässig anzusehen sind, sind sie im Zivilprozess wohl nur in engen Ausnahmefällen verwertbar (vgl. auch Balzer/Nugel NJW 2014, 1622, 1627). Und das auch nur, soweit den Grundsätzen der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen wird.
Zudem ist noch Folgendes zu beachten: Es besteht die Möglichkeit, dass das von dem Verwender der Kamera erlangte Beweismaterial – sofern es denn zugelassen ist – in einem Prozess auch gegen ihn verwendet werden kann (vgl. AG München, BeckRS 2013, 11584). So kann sich bei der Beweisaufnahme auch ergeben, dass der Verwender den aufgenommenen Unfall überwiegend selbst verschuldet hatte.
Fazit
Ob die Verwendung von Dashcams in Deutschland zulässig ist, ist bislang noch nicht abschließend geklärt. In der Rechtsprechung und Literatur ist dennoch eine Tendenz dahingehend zu erkennen, dass die Verwendung der Kameras mit dem Ziel einen Beweis zu erlangen – zumindest bei permanenter Aufzeichnung – wohl als unzulässig anzusehen ist. Ihr Einsatz kann jedenfalls zu erheblichen Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und Unvereinbarkeit mit dem Datenschutzrecht führen. Dies kann gegen eine Verwertbarkeit von den gewonnenen Aufnahmen im Zivilprozess sprechen. Zulässig dürfte der Einsatz der Kamera hingegen für ausschließlich private Zwecke sein, zumindest solange die Aufzeichnungen nicht veröffentlicht werden.
Denkbare Examenskonstellationen
Sowohl im Ersten als auch im Zweiten Examen kann das Thema „Dashcams“ in der Mündlichen Prüfung abgefragt werden.
Im Zweiten Examen lässt sich die dargestellte Problematik zudem insbesondere in Verkehrsunfall-Klausuren sehr gut einbauen. Da sich die Verwender der Minikameras erhoffen im Falle einer verkehrsrechtlichen Auseinandersetzung einen Videobeweis zu erlangen, ist dann zu prüfen, ob das gewonnene Videomaterial vor Gericht als Beweismittel überhaupt zulässig ist.
Aber auch im Ersten Examen ist zumindest eine kleine StPO-Zusatzfrage denkbar, bei der dann eine gute Argumentation gefragt ist.
 

02.03.2015/3 Kommentare/von Gastautor
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2015-03-02 10:48:042015-03-02 10:48:04Dashcams – Einsatz von Minikameras im Straßenverkehr
Dr. Christoph Werkmeister

Wählen per Internet als Lösung für die niedrige Wahlbeteiligung?

Öffentliches Recht, Verfassungsrecht

Niedrige Wahlbeteiligung
Die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl an diesem Sonntag ist auf einen historischen Tiefstand gefallen. Nach Angaben des ZDF belief sich die Wahlbeteiligung auf lediglich 71,2%. Damit machten nochmals deutlich weniger Deutsche von ihrem Wahlrecht Gebrauch als bei der vorangegangenen Bundestagswahl.
2005 wurde bereits mit 77,7% die bis dahin niedrigste Wahlbeteiligung bei einer Bundestagswahl verzeichnet. Insgesamt waren diesmal mehr als 62 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen, ihre Stimme abzugeben.
Meines Erachtens besteht ein Grund für die niedrige Wahlbeteiligung darin, dass viele Leute schlichtweg zu faul sind, den Weg zum Wahllokal anzutreten, um ihre Stimme abzugeben. Ein Entgegenwirken zugunsten einer höheren Wahlbeteiligung könnte demnach durch eine elektronische Wahl über eine Internetplattform bewirkt werden.
Internetwahl noch nicht in Sicht
Bundeswahlleiter Roderich Egeler hat jedoch als Reaktion auf die niedrige Wahlbeteiligung darauf hingewiesen, dass eine Stimmabgabe vom heimischen Computer aus bei Wahlen in Deutschland weiterhin nicht in Sicht ist. Das Bundesverfassungsgericht hatte im März 2009 den Einsatz solcher Geräte zwar für grundsätzlich zulässig erklärt. Die elektronische Auszählung der Stimmen sei vom Wähler aber bei den bisher eingesetzten Geräten nicht hinreichend kontrollierbar.
Die Wahlcomputerentscheidung des BVerfG
Nach dem Urteil des Zweiten Senats des BVerfG vom 3. März 2009 (Az. 2 BvC 3/07, 2 BvC 4/07) gebietet der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl aus Art. 38 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG, dass alle wesentlichen Schritte der Wahl öffentlicher Überprüfbarkeit unterliegen, soweit nicht andere verfassungsrechtliche Belange eine Ausnahme rechtfertigen.
Zudem müssen beim Einsatz elektronischer Wahlgeräte die wesentlichen Schritte der Wahlhandlung und der Ergebnisermittlung vom Bürger zuverlässig und ohne besondere Sachkenntnis überprüft werden können.
Es wurden somit vom BVerfG hohe Anforderungen an ein elektronisches Wahlsystem gestellt. Nichtsdestotrotz sind solche Hürden überwindbar. Im heutigen Zeitalter ist es definitiv machbar, eine transparente, für den Bürger nachzuvollziehende Internetplattform zu errichten. Insofern halte ich die Aussage des Bundeswahlleiters für verfehlt und plädiere deswegen dafür, dass Initiativen zugunsten der Entwicklung eines solchen Systems ins Leben gerufen werden.
Examensrelevanz
Angesichts der noch jungen Bundestagswahl dürften je nach Prüfer die Wahlrechtsgrundsätze nach Art. 38 GG in seinen spezifischen Ausprägungen beliebter Prüfungsstoff sein. Auch die Vorgaben nach dem BundeswahlG, insbesondere Überhangmandate und deren Verfassungswidrigkeit (Thema: negatives Stimmgewicht), sollten bekannt sein.
Das Wahlcomputerurteil und dessen Einbettung in die sonst weniger relevante Wahlprüfungsschwerde vor dem BVerfG bieten sich zudem auch für Klausuren aus dem Ö-Recht an. Hierzu gilt es zu sagen, dass das Wahlprüfungsverfahren sich vom Schema her nicht sonderlich von einer abstrakten Normenkontrolle unterscheidet; die Vorgaben, die es zu beachten gilt, ergeben sich nach einem kurzen Blick in Art. 41 (Abs. 2) GG und das Wahlprüfungsgesetz.

28.09.2009/3 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2009-09-28 14:22:132009-09-28 14:22:13Wählen per Internet als Lösung für die niedrige Wahlbeteiligung?

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