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Schlagwortarchiv für: Beweislastumkehr

Dr. Melanie Jänsch

BGH: Sportlehrer müssen Erste Hilfe leisten

Rechtsprechung, Staatshaftung, Startseite

Mit Urteil vom 4.4.2019 (Az.: III ZR 35/18) hat sich der BGH mit Amtshaftungsansprüchen eines (ehemaligen) Schülers gegen das Land Hessen auseinandergesetzt. Bei einem im Sportunterricht erlittenen Zusammenbruch hätten die Sportlehrerin und ihr Kollege – so die Behauptung des Schülers – unzureichende Erste-Hilfe-Maßnahmen ergriffen, was letztlich zu einem Hirnschaden des Schülers geführt habe. Die Vorinstanz, das OLG Frankfurt a.M., hatte mit Urteil vom 25.01.2018 (Az.: 1 U 7/17) eine Amtshaftung abgelehnt, weil nicht bewiesen werde könne, ob das Unterlassen der Erste-Hilfe-Maßnahmen ursächlich für den Hirnschaden war. Dass das Gericht hiervon ausgehend den Beweisantrag des Klägers, ein Sachverständigengutachten zur Kausalität einzuholen, abgelehnt hat, war verfahrensfehlerhaft. Daher hat der BGH das vorangegangene Urteil aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen; auf der Grundlage des bisherigen Sach- und Streitstandes sei ein Schadensersatzanspruch des Klägers nicht auszuschließen und es bedürfe insoweit weiterer tatrichterlicher Feststellungen. Die Entscheidung des BGH ist unter verschiedenen Gesichtspunkten als äußerst klausur- und examensrelevant einzuordnen: Dies betrifft zum einen die Konkretisierung der Amtspflichten, aber auch den Haftungsmaßstab bei Amtsträgerhandeln (Stichwort: analoge Anwendung des § 680 BGB) sowie Fragen zu einer möglichen Beweislastumkehr entsprechend den im Arzthaftungsrecht entwickelten Beweisgrundsätzen bei groben Behandlungsfehlern.
 
A) Sachverhalt (der Pressemitteilung 42/2019 entnommen)
Der seinerzeit 18 Jahre alte Kläger war Schüler der Jahrgangsstufe 13 und nahm im Januar 2013 am Sportunterricht teil. Etwa fünf Minuten nach Beginn des Aufwärmtrainings hörte er auf zu laufen, stellte sich an die Seitenwand der Sporthalle, rutschte dort in eine Sitzposition und reagierte auf Ansprache nicht mehr. Um 15.27 Uhr ging der von der Sportlehrerin ausgelöste Notruf bei der Rettungsleitstelle ein. Die Lehrerin wurde gefragt, ob der Kläger noch atme. Sie befragte dazu ihre Schüler; die Antwort ist streitig. Sie erhielt sodann von der Leitstelle die Anweisung, den Kläger in die stabile Seitenlage zu verbringen. Der Rettungswagen traf um 15.32 Uhr, der Notarzt um 15.35 Uhr ein. Die Sanitäter und der Notarzt begannen sofort mit Wiederbelebungsmaßnahmen, die ungefähr 45 Minuten dauerten. Sodann wurde der intubierte und beatmete Kläger in eine Klinik verbracht. Im dortigen Bericht ist unter anderem vermerkt: „Beim Eintreffen des Notarztes bereits 8 minütige Bewusstlosigkeit ohne jegliche Laienreanimation“. Es wurde ein hypoxischer Hirnschaden nach Kammerflimmern diagnostiziert, wobei die Genese unklar war. Während der stationären Behandlung ergaben sich weitere – teils lebensgefährliche – Erkrankungen. Seit Oktober 2013 ist der Kläger zu 100% als Schwerbehinderter anerkannt.
Der Kläger verlangt nunmehr Schadensersatz vom Land Hessen mit der Begründung, sein gesundheitlicher Zustand sei unmittelbare Folge des erlittenen Hirnschadens wegen mangelnder Sauerstoffversorgung des Gehirns infolge unterlassener Reanimationsmaßnahmen durch seine Sportlehrerin und einen weiteren herbeigerufenen Sportlehrer. Hätten diese im Rahmen der notfallmäßigen Erste-Hilfe-Versorgung eine Atemkontrolle und – angesichts des dabei festgestellten Atemstillstands – anschließend eine Reanimation durch Herzdruckmassage und Atemspende durchgeführt, wäre es nicht zu dem Hirnschaden gekommen.
 
B) Rechtliche Erwägungen
Ansprüche des Klägers gegen das Land Hessen auf Ersatz der Schäden, die durch die von der Sportlehrerin unterlassenen Reanimationsmaßnahmen hervorgerufen wurden, könnten sich aus einem Amtshaftungsanspruch ergeben, der auf einer Zusammenschau von § 839 Abs. 1 BGB und Art. 34 S. 1 GG basiert. Während § 839 BGB als anspruchsbegründende Norm zuerst zu zitieren ist, ergibt sich aus Art. 34 S. 1 GG (so schon Art. 131 WRV) die Überleitung der Haftung auf den Staat. Art. 34 GG fungiert damit als verfassungsrechtlich verbürgte befreiende Schuldübernahme.
 
I. Ausübung eines öffentlichen Amtes
Hierfür müsste die Sportlehrerin in Ausübung eines öffentlichen Amtes gehandelt haben. Maßgeblich ist hierbei der haftungsrechtliche Beamtenbegriff. Dieser setzt voraus, dass der betreffenden Person von der zuständigen Stelle die Ausübung eines öffentlichen Amtes anvertraut worden ist, wobei unter einem öffentlichen Amt jede dienstliche Betätigung zu verstehen ist, die öffentlich-rechtliche Belange wahrnimmt. Das heißt, es muss gerade kein beamtenrechtliches Dienst- und Treueverhältnis im Sinne des staatsrechtlichen Beamtenbegriffs bestehen, sondern auch Personen, die in einem sonstigen öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis oder in einem privatrechtlichen Dienstverhältnis zu einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft stehen, können dem haftungsrechtlichen Beamtenbegriff unterfallen (MüKoBGB/Papier/Shirvani, 7. Aufl. 2017, BGB § 839 Rn. 130 f.). Dies zugrunde legend sind Lehrer an öffentlichen Schulen – die regelmäßig ohnehin als Beamte im staatsrechtlichen Sinne tätig sind – im Rahmen ihrer Tätigkeit offensichtlich auch vom haftungsrechtlichen Beamtenbegriff erfasst (s. hierzu schon BGH v. 15.3.1954 – III ZR 333/52, NJW 1954, 874), und zwar unabhängig davon, ob sie verbeamtet oder angestellt sind. Die Sportlehrerin im vorliegenden Fall befand sich daher in Ausübung eines öffentlichen Amtes.
 
II. Verletzung einer drittbezogenen Amtspflicht
Fraglich ist, ob sie eine Amtspflicht verletzt hat, die ihr gegenüber Dritten oblag. Besondere Amtspflichten ergeben sich aus der Funktion des konkreten Amtes: Nach ständiger Rechtsprechung des BGH trifft Lehrer die Amtspflicht gegenüber ihnen anvertrauten Schülern, diese vor Schäden zu bewahren (s. beispielhaft BGH v. 15.3.1954 – III ZR 333/52, NJW 1954, 874). Dies beinhalte auch die Verpflichtung, Gesundheitsschäden von ihren Schülern abzuwenden. Es handele sich hierbei um eine Nebenpflicht, die neben die allgemeinen Pflichten – Unterrichtung und Erziehung – trete. Dass Sportlehrern konkret die Amtspflicht zukommt, im Notfall Erste Hilfe zu leisten, hat der BGH ausdrücklich klargestellt:

„Den Sportlehrern des beklagten Landes oblag die Amtspflicht, etwa erforderliche und zumutbare Erste-Hilfe-Maßnahmen rechtzeitig und in ordnungsgemäßer Weise durchzuführen.“

Indem dies nur unzureichend geschehen ist, haben die Lehrer also eine Amtspflicht verletzt. Die Amtspflicht ist offensichtlich auch drittbezogen: In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass die dem Lehrpersonal obliegende Pflicht, die Schüler während des Sportunterrichts zur Verhinderung von Schäden zu beaufsichtigen, eine Amtspflicht darstellt, die auch Dritten gegenüber besteht (s. etwa OLG Frankfurt a.M. v. 18.1.2010 – 1 U 185/08, NVwZ-RR 2010, 479). Dann erscheint es nur konsequent, dies bei der Leistung lebensrettender Maßnahmen im Sportunterricht erst recht anzunehmen: Durch die Verpflichtung zur Ergreifung von Erste-Hilfe-Maßnahmen soll in qualifizierter und individualisierbarer Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises von Dritten – Leben und Gesundheit der Schüler – Rücksicht genommen werden. Indem die Lehrer die Vornahme der notwendigen Maßnahme unterlassen haben, haben sie also – so wird dies für diese Lösung unterstellt – eine drittbezogene Amtspflicht verletzt.
 
III. Kausalität
Diese müsste auch kausal zu einer Rechtsgutverletzung – hier: dem Hirnschaden – geführt haben. Ob die Kausalität zwischen Amtspflichtverletzung und Rechtsgutverletzung im vorliegenden Fall gegeben war, konnte jedoch nicht abschließend geklärt werden. Das Berufungsgericht hat offen gelassen, „ob die Sportlehrer nach dem Ergebnis der in erster Instanz durchgeführten Beweisaufnahme ihre Amtspflicht, erforderliche und zumutbare Erste-Hilfe-Maßnahmen zu leisten, verletzt haben. Denn es lasse sich jedenfalls nicht feststellen, dass sich ein etwa pflichtwidriges Unterlassen einer ausreichenden Kontrolle der Vitalfunktionen und etwaiger bis zum Eintreffen der Rettungskräfte gebotener Reanimationsmaßnahmen kausal auf den Gesundheitszustand des Klägers ausgewirkt habe […]. Denn es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Atmung des Klägers erst kurz vor dem Eintreffen der Rettungskräfte ausgesetzt habe oder dass selbst bei Durchführung einer bereits vorher gebotenen Reanimation der Kläger heute in gleicher Weise gesundheitlich beeinträchtigt wäre. Die Wertung des Landgerichts, wonach sich der Zeitpunkt, zu dem der Kläger aufgehört habe zu atmen, nicht verlässlich festlegen lasse, sodass auch nicht festgestellt werden könne, ab wann Wiederbelebungsmaßnahmen geboten gewesen wären, sei nicht zu beanstanden.“ Dann aber hätte das Berufungsgericht – so der BGH – den Beweisantrag des Klägers, ein Sachverständigengutachten zur Kausalität einzuholen, nicht ablehnen dürfen. Für die weiteren Darstellungen wird daher unterstellt, dass der Hirnschaden bei Vornahme der notwendigen Erste-Hilfe-Maßnahmen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten wäre, sodass die Amtspflichtverletzung der Lehrer auch kausal war.
 
IV. Verschulden
1. Grundsatz: Vorsatz oder Fahrlässigkeit
Ihnen müsste auch ein Verschulden anzulasten sein. Hierfür müssten sie entweder vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt haben. Vorsatz bzw. Fahrlässigkeit müssen sich lediglich auf die Amtspflichtverletzung, nicht aber (auch) auf den schädigenden Erfolg beziehen (MüKoBGB/Papier/Shirvani, 7. Aufl. 2017, BGB § 839 Rn. 284). In Betracht kommt hier ersichtlich nur fahrlässiges Handeln, das nach allgemeiner Definition dann vorliegt, wenn der Amtswalter die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat. Ein pflichtgetreuer Durchschnittsbeamter hätte erkannt, dass er bei einem im Sportunterricht erlittenen Zusammenbruch eines Schülers Erste-Hilfe-Maßnahmen ergreifen muss. Insofern ist hier wohl von fahrlässigem Handeln auszugehen.
 
2. Haftungsprivilegierung analog § 680 BGB?
Möglicherweise sind hier jedoch analog § 680 BGB andere Maßstäbe anzulegen, mithin könnte die Haftung auf grobe Fahrlässigkeit beschränkt sein. Nach § 680 BGB hat der Geschäftsführer nur Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten, wenn die Geschäftsführung die Abwendung einer dem Geschäftsherrn drohenden dringenden Gefahr bezweckt. Der BGH hat eine analoge Anwendung jedoch ausdrücklich abgelehnt. Hier komme die Haftung des Landes nicht nur im Falle grober Fahrlässigkeit in Betracht. Denn:

„§ 680 BGB will denjenigen schützen, der sich bei einem Unglücksfall zu spontaner Hilfe entschließt. Dabei berücksichtigt die Vorschrift, dass wegen der in Gefahrensituationen geforderten schnellen Entscheidung ein ruhiges und überlegtes Abwägen kaum möglich ist und es sehr leicht zu einem Sichvergreifen in den Mitteln der Hilfe kommen kann. Die Situation einer Sportlehrkraft, die bei einem im Sportunterricht eintretenden Notfall tätig wird, ist aber nicht mit der einer spontan bei einem Unglücksfall Hilfe leistenden unbeteiligten Person zu vergleichen. Den Sportlehrern des beklagten Landes oblag die Amtspflicht, etwa erforderliche und zumutbare Erste-Hilfe-Maßnahmen rechtzeitig und in ordnungsgemäßer Weise durchzuführen. Um dies zu gewährleisten, mussten die Sportlehrer bereits damals über eine aktuelle Ausbildung in Erster Hilfe verfügen. Die Situation des § 680 BGB entspricht damit zwar der von Schülern, aber nicht der von Sportlehrern, zu deren öffentlich-rechtlichen Pflichten jedenfalls auch die Abwehr von Gesundheitsschäden der Schüler gehört. Selbst wenn es sich nur um eine Nebenpflicht der Sportlehrer handelt, sind Sinn und Zweck von § 680 BGB mit der Anwendung im konkreten Fall nicht vereinbar. Insoweit ist der Anwendungsbereich des § 839 Abs. 1 BGB auch davon geprägt, dass ein objektivierter Sorgfaltsmaßstab gilt, bei dem es auf die Kenntnisse und Fähigkeiten ankommt, die für die Führung des übernommenen Amtes erforderlich sind. Zur Führung des übernommenen Amtes gehören bei Sportlehrern aber auch die im Notfall gebotenen Erste-Hilfe-Maßnahmen. Dazu stände eine Haftungsbeschränkung auf grobe Fahrlässigkeit in Widerspruch. Eine solche einschneidende Haftungsbegrenzung erscheint dem Senat auch vor dem Hintergrund nicht gerechtfertigt, dass mit jedem Sportunterricht für die Schüler gewisse Gefahren verbunden sind. Es wäre aber nicht angemessen, wenn der Staat einerseits die Schüler zur Teilnahme am Sportunterricht verpflichtet, andererseits bei Notfällen im Sportunterricht eine Haftung für Amtspflichtverletzungen der zur Durchführung des staatlichen Sportunterrichts berufenen Lehrkräfte nur bei grober Fahrlässigkeit und damit nur in Ausnahmefällen einträte.“

Der BGH argumentiert überzeugend mit teleologischen Gesichtspunkten: § 680 BGB soll denjenigen privilegieren, der sich im Notfall spontan – ohne Erste-Hilfe-Ausbildung – zur Rettung entschließt. Dieser Gedanke greift aber offensichtlich dann nicht, wenn der betreffende Amtsträger einem Personenkreis angehört, der verpflichtet ist, über eine Erste-Hilfe-Ausbildung zu verfügen, und den ohnehin die Nebenpflicht trifft, Gesundheitsschäden von anderen abzuwenden. Daher vermag eine analoge Anwendung des § 680 BGB mit der Folge, dass der Haftungsmaßstab auf grobe Fahrlässigkeit begrenzt wäre, nicht zu überzeugen. Es bleibt also bei den allgemeinen Regeln, die einfache Fahrlässigkeit genügen lassen. Indem fahrlässiges Handeln zu bejahen ist, trifft die Lehrer also auch ein Verschulden.
 
Anmerkung: Dass § 680 BGB nicht analog auf den Amtshaftungsanspruch anwendbar ist, hat der BGH schon in seiner Entscheidung vom 14.06.2018 – III ZR 54/17, NJW 2018, 2723 festgestellt, in der es um die Haftung eines Feuerwehrbeamten ging, s. hierzu unsere ausführlich Besprechung.
 
V. Kausaler Schaden
Die Amtspflichtverletzung muss bei dem geschützten Dritten zudem einen Vermögensschaden verursacht haben. Dabei ist zu prüfen, welcher Verlauf sich bei pflichtgemäßem Verhalten der Amtsträger ergeben hätte und wie sich in diesem Fall die Vermögenslage des Verletzten darstellen würde (MüKoBGB/Papier/Shirvani, 7. Aufl. 2017, BGB § 839 Rn. 276). Ein Schaden, der auch bei amtspflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre, ist damit nicht kausal, was insbesondere bei einem Unterlassen – wie es im vorliegenden Fall gegeben ist – Relevanz erlangt. „Besteht die Amtspflichtverletzung in einem Unterlassen, kann ein Ursachenzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Schaden nur bejaht werden, wenn der Schadenseintritt bei pflichtgemäßem Handeln mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden worden wäre. Eine bloße Möglichkeit oder eine gewisse Wahrscheinlichkeit genügen nicht (s. BGH v. 27.1.1994 – III ZR 109/92, Rn. 33, juris)“. Da nicht abschließend geklärt werden konnte, ob die unzureichenden Rettungsmaßnahmen kausal für den Hirnschaden bzw. die hiermit verbundenen Kosten waren, kann Abhilfe wohl nur das Sachverständigengutachten schaffen. Auch insoweit muss die Entscheidung des OLG Frankfurt a.M. abgewartet werden.
 
VI. Beweislast
Im Übrigen äußerte sich der BGH zudem zur Beweislast. Nach allgemeinen Grundsätzen ist der Kläger beweisbelastet. Man könnte jedoch erwägen, ob – entsprechend den im Arzthaftungsrecht entwickelten Beweisgrundsätzen bei groben Behandlungsfehlern (s. hierzu ausführlich Spickhoff, NJW 2004, 2345 ff.) – eine Beweislastumkehr stattfindet mit der Folge, dass das Land die Nichtursächlichkeit etwaiger Pflichtverletzungen der Sportlehrer nachweisen muss. Das hat der BGH aber mit überzeugender Begründung verneint:

„Zwar gelten diese Grundsätze nach der Senatsrechtsprechung wegen der Vergleichbarkeit der Interessenlage entsprechend bei grober Verletzung von Berufs- oder Organisationspflichten, sofern diese als Kernpflichten, ähnlich wie beim Arztberuf, spezifisch dem Schutz von Leben und Gesundheit anderer dienen. Dies hat der Senat für Hausnotrufverträge und die Badeaufsicht in Schwimmbädern angenommen. Die Amtspflicht der Sportlehrer zur Ersten Hilfe bei Notfällen ist wertungsmäßig jedoch nur eine die Hauptpflicht zur Unterrichtung und Erziehung begleitende Nebenpflicht. Die Sportlehrer werden an der Schule nicht primär oder in erster Linie – sondern nur „auch“ – eingesetzt, um in Notsituationen Erste-Hilfe-Maßnahmen durchführen zu können. Eine Verletzung dieser Nebenpflicht, auch wenn sie grob fahrlässig erfolgt sein sollte, rechtfertigt keine Beweislastumkehr in Anlehnung an die oben aufgeführten Fallgruppen.“

Für eine Beweislastumkehr sei also erforderlich, dass es sich bei der Pflicht zur Erste-Hilfe-Leistung um eine Hauptpflicht handele. Da dies bei Sportlehrern ersichtlich nicht der Fall sei, bleibe es bei den allgemeinen Grundsätzen, dass den Kläger die Beweislast treffe.
 
VII. Ergebnis
Ein Anspruch aus § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG kommt damit grundsätzlich in Betracht.
 
C) Fazit
Fest steht damit: Sportlehrer trifft die Pflicht, im Notfall zumutbare Erste-Hilfe-Maßnahmen zu ergreifen. Wird dies unterlassen, kommt ein Anspruch gegen das Land aus § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG in Betracht. Dabei kommt ihnen auch keine Haftungsprivilegierung analog § 680 BGB zu. Denn § 680 BGB verfolgt den Zweck, denjenigen zu privilegieren, der sich spontan und ohne Erste-Hilfe-Ausbildung zu Rettungsmaßnahmen entschließt – dieser Gedanke trifft auf Sportlehrer, die ohnehin über eine derartige Ausbildung verfügen müssen, aber nicht zu. Genau wie es der BGH für die Berufsfeuerwehr entschieden hat, ist eine Analogiebildung also auch bei Sportlehrern nicht angezeigt. Ob jedoch im konkreten Fall ein Anspruch bejaht werden kann, ist noch unklar; insofern muss die Entscheidung des OLG Frankfurt a.M. abgewartet werden.
 
 

23.04.2019/1 Kommentar/von Dr. Melanie Jänsch
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Melanie Jänsch https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Melanie Jänsch2019-04-23 09:18:092019-04-23 09:18:09BGH: Sportlehrer müssen Erste Hilfe leisten
Dr. Maximilian Schmidt

BGH: Beweislastumkehr bei Hausnotrufvertrag

Arztrecht, Rechtsprechung, Schuldrecht, Startseite, ZPO

Eine für Klausuren und mündliche Prüfungen interessante Rechtsfrage hat der BGH mit Urteil vom 11. Mai 2017 – III ZR 92/16 entschieden – prüfungsrelevant deswegen, weil die Beweislastumkehr aus dem Arzthaftungsrecht (§ 630h BGB) auf einen anderen Vertrag, nämlich den „Hausnotrufvertrag“, übertragen wird.
Inhalt dieses Vertrags war, dass ein Hausnotrufgerät an eine ständig besetzte Zentrale angeschlossen wird. Von dieser Zentrale sollte im Fall eines Notrufs unverzüglich eine angemessene Hilfeleistung vermittelt (z.B. durch vereinbarte Schlüsseladressen, Rettungsdienst, Hausarzt, Schlüsseldienst) werden. Im entschiedenen Fall betätigte der Nutzer den Notruf. Allerdings reagierte die Zentrale trotz minutenlangem Stöhnen und Röcheln des Nutzers gar nicht, schickte dann nach einiger Zeit lediglich einen Schlüsseldienst. Dieser erkannte zwar die Gesundheitsgefahr, reagierte aber ebenfalls nur durch Hinzurufen eines weiteren Sicherheitsmitarbeiters. Erst nach einiger Zeit benachrichtigten diese dann einen Arzt. Der Patient verstarb allerdings. Offen blieb bis zuletzt, ob der Tod bei ordnungsgemäßer sofortiger Verständigung eines Notarztes hätte vermieden werden können.
An dieser Stelle setzt nun der interessante Teil der Entscheidung ein: Wer muss beweisen, dass die – zweifelsohne gegebene Pflichtverletzung im Rahmen des Dienstvertrages durch die verzögerte Benachrichtung eines Arztes – kausal für den eingetreteten Tod des Nutzers war.
Grundsätzlich trägt der Geschädigte die Darlegungs- und Beweislast für die Pflichtverletzung, die Schadensentstehung und auch den Ursachenzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Schaden. Diesen Beweis hätten die Erben des verstorbenen Patienten wohl kaum führen können. Im Arzthaftungsrecht führt allerdings ein grober Behandlungsfehler, der geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, regelmäßig zur Umkehr der objektiven Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem Gesundheitsschaden. Dies ist neu in § 630h Abs. 5 BGB geregelt – eine Vorschrift, die Prüflinge dringend einmal durchgearbeitete haben sollten.

Hinweis: Die objektive Beweislast ist hierbei die Situation eines non-liquet und ist von der subjektiven Beweislast (oder auch Beweisführungslast) und der Darlegungslast abzugrenzen.

In der Klausur müssen an dieser Stelle die Voraussetzungen einer Analogie sauber dargestellt und begründet werden. Zur planwidrigen Regelungslücke kann man bereits anführen, dass der „Hausnotrufvertrag“ ungeregelt ist und allein den allgemeinen Vorschriften des § 611 BGB unterfällt. Die Vergleichbarkeit der Interessenlage ist hingegen vertieft zu diskutieren. Zwei Argumente dürften den BGH zu Recht zur Übertragung der Grundsätze des § 630h Abs. 5 BGB geführt haben:

  • Erstens dient dieser Vertrag ähnlich wie beim Arztberuf, dem Schutz von Leben und Gesundheit anderer (hier: zumeist älterer und pflegebedürftiger Teilnehmer).
  • Zweitens befindet sich der Anspruchsteller in einer typischen Situation der Beweisnot: Durch die Nachlässigkeit des Angestellten entstehen erhebliche Aufklärungserschwernisse: Konkret bedeutet dies, dass die Beklagte durch den gravierenden Verstoß gegen die ihr nach dem Hausnotrufvertrag obliegenden Kardinalpflichten eine Aufklärung erst unmöglich gemacht hat. Hätten die Angestellten früher reagiert, hätte uU noch festgestellt werden können, ob eine rechtzeitig Alarmierung des Notarztes das Leben gerettet hätte.
  • Letztlich spricht auch eine Betrachtung unter Fehlanreizgesichtspunkten für eine Beweislastumkehr: Je schwerwiegender die Pflichtverletzung der Beklagten ist, desto eher wird eine Kausalität zwischen Pflichtverletzung und Schaden nicht beweisbar sein. Dies könnte zum nicht gewollten Anreiz führen, möglichst schwerwiegend – unter dramatischer Erhöhung der Gefahren für Leib und Leben der Nutzer – gegen Pflichten zu verstoßen, wenn hierdurch einer Haftung entgangen werden könnte.

Die Argumente lassen sich freilich auch auf andere Verträge übertragen. In der Klausur kann daher durchaus Kreativität (und Mut!) gefragt sein, eine Analogie zumindest zu diskutieren. Gerade die Fallgruppe der typischerweise eintretenden Beweisnot kann schlagend sein und sollte in keiner Argumentation fehlen.
 
 

12.05.2017/1 Kommentar/von Dr. Maximilian Schmidt
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maximilian Schmidt https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maximilian Schmidt2017-05-12 12:48:482017-05-12 12:48:48BGH: Beweislastumkehr bei Hausnotrufvertrag
Tom Stiebert

BGH: Brandneues zur Beweislastumkehr nach § 476 BGB

Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Schuldrecht, Startseite, Verbraucherschutzrecht, Zivilrecht, Zivilrecht

Das „neue“ Schuldrecht ist zwar dabei, den Kinderschuhen langsam zu entwachsen, dennoch bestehen noch an vielen Stellen Unklarheiten, die für eine Examensklausur prädestiniert sind. Besonders relevant ist in diesem Kontext die Beweislastumkehr beim Verbrauchsgüterkauf nach § 476 BGB. Der BGH hat nun in einem aktuellen Urteil (BGH v. 12.10.2016 –  VIII ZR 103/15) als Reaktion auf ein Urteil des EuGH (EuGH v. 04.06.2015 – C-497/13 – Faber) eine Neujustierung seiner Rechtsprechung vorgenommen, der tatsächlich das Prädikat „extrem examensrelevant“ verliehen werden kann.
I. Die Vorgeschichte
Die Norm des § 476 BGB postuliert in vermeintlicher Klarheit:

Zeigt sich innerhalb von sechs Monaten seit Gefahrübergang ein Sachmangel, so wird vermutet, dass die Sache bereits bei Gefahrübergang mangelhaft war, es sei denn, diese Vermutung ist mit der Art der Sache oder des Mangels unvereinbar.

Dennoch birgt die Regelung eine Vielzahl von Problemen. Insbesondere ist umstritten, wann das Auftreten eines Sachmangels anzunehmen ist und wann eine Unvereinbarkeit eines solchen Mangels mit der Art der Sache vorliegt. Besondere Bedeutung hat für diese Regelung auch das Unionsrecht. Der Beweislastumkehr liegt die Regelung in Art. 5 Abs. 3 der Verbrauchgüterkaufrichtlinie 1999/44/EG zugrunde, die bestimmt:

Bis zum Beweis des Gegenteils wird vermutet, daß Vertragswidrigkeiten, die binnen sechs Monaten nach der Lieferung des Gutes offenbar werden, bereits zum Zeitpunkt der Lieferung bestanden, es sei denn, diese Vermutung ist mit der Art des Gutes oder der Art der Vertragswidrigkeit unvereinbar.
 Neuerungen resultierten dann aber aus dem Urteil des EuGH in der Rs. Faber (EuGH v. 04.06.2015 – C-497/13 ). Der Gerichtshof stellte hier fest, dass die Beweislastumkehr in folgenden Konstellationen greift:
„wenn der Verbraucher den Beweis erbringt, dass das verkaufte Gut nicht vertragsgemäß ist und dass die fragliche Vertragswidrigkeit binnen sechs Monaten nach der Lieferung des Gutes offenbar geworden ist, d. h., sich ihr Vorliegen tatsächlich herausgestellt hat. Der Verbraucher muss weder den Grund der Vertragswidrigkeit noch den Umstand beweisen, dass deren Ursprung dem Verkäufer zuzurechnen ist.“
Es genügt aus Sicht des EuGH also, dass sich irgendein Mangel innerhalb von 6 Monaten zeigt. Ein Ausschluss dieses Anspruchs ist nur dann möglich, wenn
„der Verkäufer rechtlich hinreichend nachweist, dass der Grund oder Ursprung der Vertragswidrigkeit in einem Umstand liegt, der nach der Lieferung des Gutes eingetreten ist.“
Die Beweislastumkehr ist also nach dem EuGH recht weitgehend.
II. Das Urteil des BGH
In Umsetzung dieser Entscheidung (richtlinienkonforme Auslegung) hatte der BGH nun folgenden Fall zu entscheiden:
1. Sachverhalt
Der Kläger (Verbraucher) kaufte von der Beklagten, einer Kraftfahrzeughändlerin, einen gebrauchten BMW 525d Touring zum Preis von 16.200 Euro. Nach knapp fünf Monaten und einer vom Kläger absolvierten Laufleistung von rund 13.000 Kilometern schaltete die im Fahrzeug eingebaute Automatikschaltung in der Einstellung „D“ nicht mehr selbständig in den Leerlauf; stattdessen starb der Motor ab. Ein Anfahren oder Rückwärtsfahren bei Steigungen war nicht mehr möglich. Nach erfolgloser Fristsetzung zur Mangelbeseitigung trat der Kläger vom Kaufvertrag zurück und verlangte die Rückzahlung des Kaufpreises und den Ersatz geltend gemachter Schäden.
Streitig war in rechtlicher Hinsicht, ob eine Anwendung des § 476 BGB geboten war, da die Fehlerhaftigkeit an sich (also Fehler an der Schaltung) bei Gefahrübergang noch nicht vorgelegen hatte. Unklar – und vom Kläger nicht bewiesen – war, ob die Fehler auf eine zwischenzeitlich eingetretene Schädigung des Freilaufs des hydrodynamischen Drehmomentwandlers durch Bedienfehler zurückzuführen seien, oder ob der Freilauf schon bei der Übergabe des Fahrzeugs mechanische Veränderungen aufgewiesen habe, die im weiteren Verlauf zu dem eingetretenen Schaden geführt haben. Beides konnte durch einen Sachverständigen nicht ausgeschlossen werden.
2. Lösung des BGH
Anstelle einer klausurmäßigen Lösung – bei der natürlich noch eine Vielzahl von zusätzlichen Problemen eingebaut werden könnte (Vertragsschluss; Verbrauchereigenschaft; Fristsetzung; Gewährleistungsausschluss; Besonderheiten Gebrauchtfahrzeug) soll hier allein die Frage der Anwendbarkeit des § 476 BGB diskutiert werden. Zu behandeln wäre diese Frage im Rahmen des Prüfungspunktes „Mangel bei Gefahrübergang“.
a) Bisherige Rechtsprechung
Nach der bisherigen Rechtsprechung des BGH würde die Beweislastumkehr einen solchen Fall nicht erfassen, da gerade nicht klar sei, ob überhaupt beim Gefahrübergang ein Mangel vorgelegen habe und für eine solche Konstellation § 476 BGB nicht greife. Der eigentliche Mangel (Schaltungsschaden) lag offensichtlich nicht vor; hinsichtlich eines Grundmangels besteht hingegen Unklarheit.
Denn nach der Rechtsprechung des BGH begründe diese Vorschrift lediglich eine in zeitlicher Hinsicht wirkende Vermutung dahin, dass ein innerhalb von sechs Monaten ab Gefahrübergang aufgetretener Sachmangel bereits im Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorgelegen habe. Sie gelte dagegen nicht für die Frage, ob überhaupt ein Mangel vorliege. Wenn daher – wie hier – bereits nicht aufklärbar sei, dass der eingetretene Schaden auf eine vertragswidrige Beschaffenheit des Kaufgegenstands zurückzuführen sei, gehe dies zu Lasten des Käufers.
b) Neue Rechtsprechung
Diese Rechtsprechung gibt der BGH nun auf. Hinsichtlich zweier unterschiedlicher Punkte muss der BGH dem EuGH nun Tribut zollen: Geändert wird zunächst die Darlegungs-und Beweislast des Käufers im Rahmen des § 476 BGB. Es genügt nunmehr
lediglich darzulegen und nachzuweisen, dass die erworbene Sache nicht den Qualitäts-, Leistungs- und Eignungsstandards einer Sache entspreche, die er zu erhalten nach dem Vertrag vernünftigerweise erwarten konnte. In richtlinienkonformer Auslegung des § 476 BGB lässt der BGH nunmehr die dort vorgesehene Vermutungswirkung bereits dann eingreifen, wenn dem Käufer der Nachweis gelinge, dass sich innerhalb von sechs Monaten ab Gefahrübergang ein mangelhafter Zustand (eine „Mangelerscheinung“) gezeigt habe.
Dagegen müsse der Käufer fortan weder darlegen und nachweisen, auf welche Ursache dieser Zustand zurückzuführen sei, noch dass diese in den Verantwortungsbereich des Verkäufers falle.
Es genügt also, wenn der Käufer das Auftreten eines Mangels innerhalb von 6 Monaten darlegt und beweist. Unerheblich ist auch, wenn dieser Mangel an sich bei Gefahrübergang noch nicht vorgelegen haben konnte. Der Nachweis eines sog. latenten Mangels entfällt damit:
Danach komme dem Verbraucher die Vermutungswirkung des § 476 BGB fortan auch dahin zugute, dass der binnen sechs Monate nach Gefahrübergang zu Tage getretene mangelhafte Zustand zumindest im Ansatz schon bei Gefahrübergang vorgelegen habe. Damit werde der Käufer – anders als bisher von der BGH-Rechtsprechung gefordert – des Nachweises enthoben, dass ein erwiesenermaßen erst nach Gefahrübergang eingetretener akuter Mangel seine Ursache in einem latenten Mangel habe.
Die Beweislast wird damit stärker als bisher auf den Verkäufer verschoben; der Schutz des Verbrauchers wird gestärkt. Umgekehrt wird der Entlastungsbeweis des Verkäufers erschwert. Unsicherheiten, ob der Mangel als Grundmangel also schon bei Gefahrübergang vorgelegen habe, oder später durch einen Fehler des Käufers eingetreten sei, trägt also der Verkäufer:
Er habe also darzulegen und nachzuweisen, dass ein Sachmangel zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs noch nicht vorhanden war, weil sie ihren Ursprung in einem Handeln oder Unterlassen nach diesem Zeitpunkt habe und ihm damit nicht zuzurechnen sei. Gelinge ihm diese Beweisführung – also der volle Beweis des Gegenteils der vermuteten Tatsachen – nicht hinreichend, greife zu Gunsten des Käufers die Vermutung des § 476 BGB auch dann ein, wenn die Ursache für den mangelhaften Zustand oder der Zeitpunkt ihres Auftretens offengeblieben sei, also letztlich ungeklärt geblieben sei, ob überhaupt ein vom Verkäufer zu verantwortender Sachmangel vorlag.
Alternativ kann der Verkäufer zur Entlastung auch beweisen, dass der Mangel nicht auf einem bei Gefahrübergang vorliegenden Grundmangel beruhen könne:
Daneben verbleibe dem Verkäufer die Möglichkeit, sich darauf zu berufen und nachzuweisen, dass das Eingreifen der Beweislastumkehr des § 476 BGB ausnahmsweise bereits deswegen ausgeschlossen sei, weil die Vermutung, dass bereits bei Gefahrübergang im Ansatz ein Mangel vorlag, mit der Art der Sache oder eines derartigen Mangels unvereinbar sei (§ 476 BGB am Ende).
Insofern würde im hiesigen Fall die Beweislastumkehr greifen, sodass die Mängelgewährleistungsrechte einschlägig sind.
III. Examensrelevanz
Mit dem Begriff Examensgarantie sollte sehr vorsichtig umgegangen werden – für diesen Fall trifft er aber zu. Der Fall wird sicher im Examen laufen und gehört wohl schon in naher Zukunft zum juristischen Einmaleins. Ein sauberes Arbeiten ist hier zwingend erforderlich, um die geänderten Grundsätze herauszustellen. Auch mit der Wiederlegung der Vermutung sollte sich näher beschäftigt werden.

12.10.2016/3 Kommentare/von Tom Stiebert
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tom Stiebert https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tom Stiebert2016-10-12 16:26:252016-10-12 16:26:25BGH: Brandneues zur Beweislastumkehr nach § 476 BGB
Tom Stiebert

BGH: Grobe Behandlungsfehler des Tierarztes führen zur Beweislastumkehr

Arztrecht, Deliktsrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Schuldrecht, Startseite, Zivilrecht, Zivilrecht

Das Deliktsrecht – insbesondere die sehr umfangreiche Kasuistik zu § 823 BGB – gehört wohl zu den meist unterschätzten juristischen Bereichen. Hier können in der Klausur massiv Punkte verloren oder aber eben auch gewonnen werden – je nachdem wie sauber die Prüfung der Voraussetzungen gelingt. Insofern ist die Kenntnis eines Urteils des BGH v. 10.5.2016 (VI ZR 247/15) absoluter Pflichtstoff, der auch interessante Zusammenhänge zu anderen Bereichen zeigt.
I. Sachverhalt
Was war passiert? Ein Pferd hatte durch den Tritt eines anderen Pferdes eine Fissur (einen Haarriss) des Knochens erlitten, die sich zu einer vollständigen Fraktur (einen Bruch) entwickelt hatte. Die Eigentümerin hatte die Fissur nicht erkannt, brachte ihr Pferd aber aufgrund der Beinverletzung zu einem Tierarzt. Dieser verschloss lediglich die von außen sichtbare Wunde, nahm aber keine weiteren Untersuchungen vor. Einige Tage später wurde eine Fraktur des verletzten Beines diagnostiziert, die es sich beim aufstehen an dem bereits vorgeschädigten Bein zugezogen hatte. Eine Operation gelang nicht, sodass das Pferd getötet werden musste. Im Streitfall blieb ungeklärt, ob der grobe Behandlungsfehler dafür ursächlich war, dass sich das Pferd beim Aufstehen das Bein brach.
Die Eigentümerin verlangte vom Tierarzt nun Schadensersatz wegen der fehlerhaften Behandlung ihres Pferdes.
II. Rechtliche Würdigung
Denkbar ist hier entweder ein vertraglicher Anspruch aus § 280 Abs. 1 BGB iVm dem Behandlungsvertrag oder aber ein deliktischer Anspruch aus § 823 BGB. In beiden Konstellationen muss die Rechtsgutsverletzung (hier ggf. fehlerhafte Behandlung) bzw. die Pflichtverletzung (unzureichende Untersuchung) kausal für den eingetretenen Schaden, also den Bruch des Beines sein. Dies war hier gerade nicht aufzuklären. Zwar hätte der Arzt die Fissur entdecken und behandeln müssen, es konnte aber nicht bewiesen werden, dass diese Nichtbehandlung bzw. die Fissur an sich kausal für den Bruch des Beines gewesen sind. Fraglich ist, wer das Risiko dieser Unsicherheit zu tragen hat.
An sich ist derjenige beweisbelastet, der diejenigen Tatsachen vorbringt, die seinen Anspruch begründen. Da hier die Eigentümerin einen Schadensersatzanspruch geltend macht, müsste sie folglich auch sämtlich hierfür notwendigen Tatsachen, mithin also auch die Kausalität beweisen. Dies ist häufig nahezu unmöglich. Auch der BGH hat dies so bestätigt:

Sie knüpfen vielmehr daran an, dass die nachträgliche Aufklärbarkeit des tatsächlichen Behandlungsgeschehens wegen des besonderen Gewichts des Behandlungsfehlers und seiner Bedeutung für die Behandlung in einer Weise erschwert ist, dass der Arzt nach Treu und Glauben – also aus Billigkeitsgründen – dem Patienten den vollen Kausalitätsnachweis nicht zumuten kann. Die Beweislastumkehr soll einen Ausgleich dafür bieten, dass das Spektrum der für die Schädigung in Betracht kommenden Ursachen gerade durch den Fehler besonders verbreitert oder verschoben worden ist (ständige Rechtsprechung so etwa Senat, BGHZ 72, 132, 136; 132, 47, 52; 159, 48, 55; Urteile vom 7. Juni 1983 – VI ZR 284/81 – VersR 1983, 983; vom 28. Juni 1988 – VI ZR 217/87 – VersR 1989, 80, 81; vom 4. Oktober 1994 – VI ZR 205/93 – VersR 1995, 46, 47; vom 16. April 1996 – VI ZR 190/95 – VersR 1996, 976, 979; und vom 11. Juni 1996 – VI ZR 172/95 – VersR 1996, 1148, 1150; Steffen in Festschrift für Brandner 1996 S. 327, 335 f.)
(BGH, Urteil vom 06. Oktober 2009 – VI ZR 24/09 –, Rn. 14, juris)

Aus diesem Grund wird eine Beweislastumkehr bejaht, sodass der Arzt nunmehr die fehlende Ursächlichkeit des Fehlers für den Schaden bejahen muss.
Im Bereich des Arzthaftungsrechts wurde dieses Recht durch § 630h BGB kodifiziert. Dieser gilt aber nicht für die Tierarztbehandlung, vgl. den klaren Wortlaut des § 630a Abs. 1 BGB. Auf diese Konstellationen hat nun aber die Rechtsprechung die Haftung ausgedehnt. Die Situationen seien hier vergleichbar:

Nach Auffassung des BGH sind die in der Humanmedizin entwickelten Rechtsgrundsätze hinsichtlich der Beweislastumkehr bei groben Behandlungsfehlern, insbesondere auch bei Befunderhebungsfehlern, auch im Bereich der tierärztlichen Behandlung anzuwenden. Beide Tätigkeiten bezögen sich auf einen lebenden Organismus. Bei der tierärztlichen Behandlung komme – wie in der Humanmedizin – dem für die Beweislastumkehr maßgeblichen Gesichtspunkt, einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass das Spektrum der für die Schädigung in Betracht kommenden Ursachen wegen der elementaren Bedeutung des Fehlers besonders verbreitert oder verschoben worden sei, eine besondere Bedeutung zu. Auch der grob fehlerhaft handelnde Tierarzt habe durch einen schwerwiegenden Verstoß gegen die anerkannten Regeln der tierärztlichen Kunst Aufklärungserschwernisse in das Geschehen hineingetragen und dadurch die Beweisnot auf Seiten des Geschädigten vertieft.

Der BGH bleibt hier also bei den ungeschriebenen Grundsätzen und wendet nicht, was auch möglich wäre, § 630h BGB analog an. Die genaue Begründung bleibt aber den Urteilsgründen vorbehalten.
III. Examensrelevanz
Tiere sind auch nur Menschen – das möchte der BGH in diesem Urteil wohl sagen. Für Menschen sollte die Rechtsprechung zu § 823 BGB, die eine entsprechende Beweislastumkehr postulierte, bekannt sein. Spätestens seit der expliziten Kodifizierung in § 630h BGB bedarf es aber dieser Rechtsprechung nicht mehr. Auch diese gesetzliche Regelung des Behandlungsvertrages sollte bekannt sein.
Wenige Gründe sind ersichtlich, warum diese Rechtsprechung nicht auch auf den Tierarzt ausgedehnt werden soll. Die Unterschiede sind gering, die Beweislastschwierigkeiten identisch. Insofern ist dem BGH absolut zuzustimmen. Für Examenskandidaten positiv ist, dass sie damit diese Fallgruppe der Beweislastumkehr nicht etwa wegen § 630h BGB umsonst gelernt haben, sondern nun auch auf den Tierarztvertrag anwenden können. Einem neuen Klausurfall sind damit Tür und Tor geöffnet.

11.05.2016/1 Kommentar/von Tom Stiebert
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tom Stiebert https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tom Stiebert2016-05-11 08:45:042016-05-11 08:45:04BGH: Grobe Behandlungsfehler des Tierarztes führen zur Beweislastumkehr
Redaktion

Besonderheiten beim Verbrauchsgüterkauf

Rechtsgebiete, Schuldrecht, Startseite, Verbraucherschutzrecht, Verschiedenes, Zivilrecht


Der Verlag De Gruyter stellt jeden Monat einen Beitrag aus der Ausbildungszeitschrift JURA – Juristische Ausbildung zwecks freier Veröffentlichung auf Juraexamen.info zur Verfügung.
Der heutige Beitrag

“Besonderheiten beim Verbrauchsgüterkauf” von Simona Liauw

gibt einen Überblick über die typischen klausurrelevanten Themen aus dem Bereich des Verbrauchsgüterkaufs. Das Vorliegen eines Verbrauchsgüterkaufs ist dabei regelmäßig die erste Klippe, die es zu umschiffen gilt, um den richtigen Einstieg in eine Klausur aus diesem Bereich zu bekommen. Liegt ein Verbrauchsgüterkauf vor, gibt es zahlreiche Besonderheiten im Vergleich zum „normalen“ Kaufvertrag. Von Bedeutung ist dies vor allem bei der Prüfung von Mängelgewährleistungsansprüchen.
Den Beitrag findet Ihr hier.
 

26.05.2015/1 Kommentar/von Redaktion
https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2015-05-26 09:00:162015-05-26 09:00:16Besonderheiten beim Verbrauchsgüterkauf

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