Mit dem Urteil vom 23.9.2025 (Akz. 1 BvR 1796/23) hat der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts überraschend – hielten doch einige namenhafte Institutionen die Regelung für verfassungsgemäß (vgl. Rn. 54 ff.) – die gesetzliche Altersgrenze für Anwaltsnotare gemäß § 47 Nr. 2 Variante 1, § 48a BNotO als mit der Berufsfreiheit aus Art. 12 I GG unvereinbar und damit für verfassungswidrig erklärt.
Der Tatsache geschuldet, dass es sich zwar bei den Normen der Bundesnotarordnung (BNotO) um eine für Studierende unbekannte Materie handelt, die Prüfung des Art. 12 I GG aber zu den beliebtesten Verfassungsnormen in der rechtswissenschaftlichen Ausbildung zählt, wird diese Entscheidung sicherlich zukünftig Prüfungsstoff darstellen. Daher lohnt sich eine Auseinandersetzung mit dieser Entscheidung umso mehr.
Im Folgenden sollen die wesentlichen Erwägungen des Urteils gutachterlich und prüfungsnah aufgearbeitet und dargeboten werden.
I. Sachverhalt (verkürzt)
Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen seit 1983 zur Anwaltschaft zugelassenen Rechtsanwalt, der im Jahr 1992 zum sog. Anwaltsnotar bestellt und ihm ein Bezirk des Oberlandesgerichts Düsseldorf zugewiesen wurde. Nachdem er am 30.11.2023 das siebzigste Lebensjahr vollendet hat, erlosch sein Notariat gemäß § 47 Nr. 2 Var. 1, § 48a BNotO mit diesem Tag (Rn. 37).
Eine daraufhin von ihm eingereichte berufsgerichtliche Klage wurde vom zuständigen Oberlandesgericht Köln jedoch abgelehnt. Auch die Berufung gegen die Entscheidung vor dem Bundesgerichtshof sowie eine darauffolgende Nichtigkeitsklage wegen einer vermeintlichen Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 267 III AEUV wurde vom BGH als unzulässig verworfen (Rn. 39 ff.).
Aufgrund dessen legte der Beschwerdeführer gegen die Urteile und Beschlüsse des BGH und das Urteil des Oberlandesgerichts Köln sowie mittelbar gegen die in Rede stehenden Normen Verfassungsbeschwerde ein, mit der er insbesondere eine Verletzung der Berufsfreiheit aus Art. 12 I GG rügte.
II. Exkurs: Unterschied Anwaltsnotariat und „Nur“-Notariat
Für das richtige Verständnis ist allerdings unweigerlich eine genaue Differenzierung zwischen dem sog. Anwaltsnotariat und dem Nur-Notariat nötig. Denn das Bundesverfassungsgericht stellt ausdrücklich klar, dass sich die Entscheidung nur auf das Anwaltsnotariat, nicht aber auch das Nur-Notariat bezieht.
Zwar läuft die Amtsausübung parallel bzw. identisch ab, allerdings muss zwischen der äußeren Organisation des Notariats unterschieden werden, vgl. § 3 BNotO.
So üben Anwaltsnotare das Notariat nicht hauptberuflich aus (Nur-Notariat), sondern gleichzeitig mit ihrer Tätigkeit als Rechtsanwalt (Rn. 7). Die Unterschiede werden zudem dadurch deutlich, dass der hauptberufliche Notar keine weiteren Berufe neben seiner notariellen Tätigkeit ausüben darf, während der Anwaltsnotar, der das Notariat nur als Nebenberuf ausübt, daran nicht gehindert wird (Rn. 9). Aber auch die Voraussetzungen, die den Zugang des Berufs betreffen divergieren. Nach § 5a BNotO müssen hauptberufliche Notare in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis als Notarassessor drei Jahre lang tätig gewesen sein, wohingegen Anwaltsnotare fünf Jahre als Rechtsanwalt gearbeitet haben müssen, davon drei Jahre im vorgesehenen Amtsbereich, vgl. § 5b BNotO, die Fachprüfung nach § 7a BNotO bestanden haben und gemäß § 5b IV BNotO hinreichend mit der notariellen Berufspraxis vertraut sind (Rn. 10).
Zu weiteren Unterschieden führt das BVerfG zudem aus:
(3) Ein neu bestellter hauptberuflicher Notar ist regelmäßig der Amtsnachfolger eines aus dem Amt ausgeschiedenen Notars, dessen Personal und Sachmittel er übernimmt, so dass oft auch die Mandantenbeziehungen übergehen. Nach der Verwaltungspraxis im Anwaltsnotariat hat ein ausscheidender Notar hingegen keinen Amtsnachfolger. Sein Notariat wird abgewickelt (vgl. Seebach, in: Frenz/Miermeister, BNotO, 6. Aufl. 2024, § 51 Rn. 11 ff.; Frisch, in: Eschwey, BeckOK BNotO, § 51 Rn. 9 f. (Aug. 2025)).
(4) Während sich hauptberufliche Notare nur mit Notaren, die am selben Amtssitz bestellt sind, verbinden dürfen, ist Anwaltsnotaren darüber hinaus auch die gemeinsame Berufsausübung mit Angehörigen bestimmter anderer freier Berufe gestattet (§ 9 BNotO).
Dass das BVerfG in seiner Entscheidung ausschließlich auf das Anwaltsnotariat rekurriert und nicht auf das Nur-Notariat, liegt insbesondere daran, dass der in Rede stehende und für die Begründung maßgebliche Bewerbermangel bei diesem nicht vorliegt (vgl. Rn. 33 f.).
Diese „Teilung“ bzw. „Beschränkung“ der Entscheidung lediglich auf das Anwaltsnotariat ist auch nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG möglich, denn diese sog. qualitative Teilnichtigkeit bezieht sich nur auf die ohnehin divergierende äußere Organisation des Notariats und führt somit nicht dazu, dass die Regelung aus sich heraus nicht mehr verständlich sei, sodass keine Rechtsunsicherheit (-unklarheit) vorliegt (Rn. 77 f.).
III. Gutachterliche Aufarbeitung (verkürzt)
Fraglich ist somit, ob die Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg hat.
Die Verfassungsbeschwerde müsste dafür zulässig und begründet sein.
1. Zulässigkeit
Die Beschwerde ist zulässig, wenn die Sachentscheidungsvoraussetzungen gegeben sind.
a) Zuständigkeit
Das Bundesverfassungsgericht ist gemäß Art. 94 I Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a, §§ 90 ff. BVerfGG für Verfassungsbeschwerden zuständig.
b) Beschwerdegegenstand
Es müsste auch ein tauglicher Beschwerdegegenstand gegeben sein.
Zulässige Beschwerdegegenstände sind nach Art. 94 I Nr. 4a GG alle Akte der öffentlichen Gewalt. Dazu zählen vornehmlich Gerichtsentscheidungen, aber auch Rechtssätze aller Rangstufen (vgl. BeckOK/Morgenthaler, Art. 94 GG, Rn. 48).
Sowohl die unmittelbar angegriffenen Entscheidungen des BGH und des OLG Köln als auch die mittelbar angegriffenen Normen der BNotO sind Akte der Judikative bzw. der Legislative und somit Akte der öffentlichen Gewalt.
Problematisch könnte nur sein, dass die Altersgrenze als berufsbezogene Diskriminierung in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG fällt und damit in einen Rechtsakts der Europäischen Union.
Das Bundesverfassungsgericht überprüft unionsrechtliches Fachrecht grundsätzlich nicht am Maßstab des Grundgesetzes, es sei denn, der unabdingbare Grundrechtsschutz ist nicht mehr gewährleistet (vgl. BVerfGE 73, 339 (387); 102, 147 (162f.); 125, 260 (306); 152, 216 (236 Rn. 47 a.E.) – Recht auf Vergessen II)
Allerdings gilt dies nur für zwingendes Unionsrecht; bei § 47 Nr. 2 Var. 1, § 48a BNotO handelt es sich hingegen um keine zwingende Regelung, die nicht vollständig determiniert sind.
Somit prüft das BVerfG die angegriffene Norm am Maßstab des Grundgesetzes.
Die gerichtlichen Entscheidungen und § 47 Nr. 2 Var. 1, § 48a BNotO stellen taugliche Beschwerdegegenstände dar.
c) Beschwerdebefugnis
Die Beschwerdebefugnis ergibt sich aus Art. 94 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG. Danach bedarf es einer hinreichend substantiierten Behauptung, dass der angegriffene Akt der öffentlichen Gewalt einen möglicherweise in den Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt. Zudem muss die eigene, unmittelbare und gegenwärtige Betroffenheit vorliegen (Rn. 81).
Fraglich ist dabei, ob die Beschwerdebefugnis auch für alle angegriffene Beschwerdegegenstände anzunehmen ist.
Der Beschwerdeführer müsste zunächst eine Verletzung durch das BGH-Urteil rügen. Gleiches gilt auch für eine Verletzung mittelbar durch die Normen der Bundesnotarordnung:
„Ausgehend von diesen Maßstäben legt der Beschwerdeführer nachvollziehbar dar, durch das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 7. August 2023 sowie durch den mittelbar angegriffenen § 47 Nr. 2 Variante 1, § 48a BNotO in Art. 12 Abs. 1 GG verletzt zu sein. Insbesondere zeigt er auf, weshalb der Eingriff nicht gerechtfertigt sei. Dabei weist er auf die Möglichkeit hin, die Altersgrenze – abweichend von früherer Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – mittlerweile als unverhältnismäßig einzustufen“ (Rn. 83).
Die Möglichkeit einer Verletzung der Berufsfreiheit aus Art. 12 I GG unmittelbar durch das BGH-Urteil und mittelbar durch die § 47 Nr. 2 Var. 1, § 48a BNotO wurde somit substantiiert genug dargelegt.
Die Verletzung anderer Grundrechte wie Art. 3 I, Art. 33 II GG sowie Art. 15 I, Art. 16 und Art. 21 I GRCh hingegen nicht ausreichend substantiiert dargelegt worden. Gleiches gilt auch für die Rügen der Verletzung der Verfahrensgrundrechte aus Art. 101 I 2 GG und Art. 103 I GG (Rn.90 ff.).
Des Weiteren hat sich der Beschwerdeführer nicht näher argumentativ mit der Entscheidung des OLG Köln auseinandergesetzt. Es fehlt diesbezüglich an substantiierten Ausführungen zur Möglichkeit einer Verletzung aus Art. 12 I GG.
Problematisch könnte noch das Merkmal der Gegenwärtigkeit sein. Danach muss die mögliche Grundrechtsverletzung noch im Zeitpunkt der Verfassungsbeschwerde schon oder noch vorliegen (BeckOK/Morgenthaler, Art. 94 GG, Rn. 54).
Aufgrund der Tatsache, dass die Regelung nach § 47 Nr. 2 Var. 1, § 48a BNotO nicht nur das Amt löscht, sondern auch die Wiederbestellung des jeweiligen Notars sperrt, wirkt der Grundrechtseingriff fort, sodass die mögliche Verletzung noch vorliegt.
Mitunter liegt hinsichtlich der Ausführungen zu Art. 12 I GG eine Beschwerdebefugnis vor.
d) Rechtswegerschöpfung
Die Erschöpfung des Rechtswegs gemäß § 90 II 1 BVerfGG ist gegeben (Rn. 97).
e) Subsidiarität
Zudem müsste aber auch der aus § 90 II BVerfGG abgeleitet allgemeine Grundsatz der Subsidiarität eingehalten worden sein. Danach müssen – zusätzlich zur bloßen formellen Erschöpfung (s.o.) – vorher auch alle zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergriffen worden sein, um einen Verfassungsverstoß gar nicht erst zuzulassen oder bereits eingetretene Grundrechtsverletzungen wieder zu beseitigen (Rn. 99; BeckOK/Morgenthaler, Art. 94 GG, Rn. 59). Grundsätzlich obliegt es danach auch dem Beschwerdeführer in den vorherigen Verfahren, den Sachverhalt so dazulegen, dass die Gerichte des Ausgangsverfahrens eine verfassungsrechtliche Prüfung durchführen können (Rn. 99). Dies ist hier gewahrt worden, denn:
„Weder die Beschwerdeschrift noch der Tatbestand des angegriffenen Urteils des Bundesgerichtshofs lassen erkennen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Beschwerdeführer im Ausgangsverfahren verfassungsrechtliche Erwägungen vorgetragen hat. Dies ist hier allerdings unschädlich. Denn das Urteil beruhte nicht auf einem etwaigen Unterlassen des Beschwerdeführers. Der Bundesgerichtshof hat sich ausweislich der Entscheidungsgründe mit der Vereinbarkeit der Regelungen nach § 47 Nr. 2 Variante 1, § 48a BNotO mit dem Grundgesetz auseinandergesetzt. Er ist auf Grundlage seiner ständigen Rechtsprechung zu dem Schluss gekommen, die Altersgrenze sei mit dem Grundgesetz vereinbar“ (Rn. 100).
Dem Grundsatz der Subsidiarität ist somit genüge getan.
f) Zwischenergebnis
Die Verfassungsbeschwerde ist (teilweise) zulässig (Rn. 73).
2. Begründetheit
Die Verfassungsbeschwerde müsste auch begründet sein. Dies ist der Fall, wenn das Urteil des Bundesgerichtshofs und/oder § 47 Nr. 2 Var. 1, § 48a BNotO den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten verletzen. Eine solche Verletzung liegt vor, wenn sie in den Schutzbereich eines Grundrechts aa) eingreifen bb) und dies unverhältnismäßig ohne Rechtfertigung geschieht cc) (v. Münch/Kunig/Paulus, Art. 94 GG, Rn. 75). Vorliegend kommt insbesondere eine Verletzung der Berufsfreiheit von Art. 12 I GG in Betracht.
a) Normen der Bundesnotarordnung
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit die Regelung der Altersgrenze nach § 47 Nr. 2 Var. 1, § 48a BNotO den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten verletzt.
aa) Schutzbereich
Primär müsste der Schutzbereich der Berufsfreiheit aus Art. 12 I GG eröffnet sein.
Es handelt sich hierbei um ein einheitliches Grundrecht, das sowohl die Berufsausübung als auch die Berufswahl schützt (Rn. 103). Ein Beruf ist dabei jede Tätigkeit, die auf Dauer angelegt ist und der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage dient (Dürig/Herzog/Scholz/Remmert, Art. 12 Abs. 1 GG, Rn. 76).
„Die Berufsfreiheit umfasst eine wirtschaftliche und eine auf die Entfaltung der Persönlichkeit bezogene Dimension (vgl. BVerfGE 7, 377 <397>; vgl. auch BVerfGE 50, 290 <362>; 110, 226 <251>). Sie konkretisiert das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit im Bereich der individuellen Leistung sowie der Existenzgestaltung und -erhaltung. Die Gewährleistung zielt auf eine möglichst unreglementierte berufliche Betätigung ab“ (Rn. 103).
Der Beruf des Anwaltsnotars ist danach vom Schutzbereich der Berufsfreiheit umfasst. Der Schutzbereich ist eröffnet.
bb) Eingriff
Es müsste auch in die Berufsfreiheit eingegriffen worden sein.
Die Altersgrenze nach § 47 Nr. 2 Variante 1, § 48a BNotO greift in den Schutzbereich ein. Sie beschränkt die Berufswahlfreiheit unmittelbar, indem die betroffenen Berufsträger von der weiteren Tätigkeit als Anwaltsnotar ausgeschlossen sind. Ihr Beruf ist kraft Gesetzes mit Erreichen der Altersgrenze beendet. Über eine Fortsetzung ihrer Notartätigkeit können sie nicht selbst entscheiden (Rn. 104).
cc) Rechtfertigung
Der Eingriff ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn er den Anforderungen entspricht, die das Grundgesetz an Eingriffe dieser Art stellt. Das ist dann der Fall, wenn er von den verfassungsrechtlichen Schranken unter Berücksichtigung der Schranken-Schranken gedeckt ist.
(1) Schranke
Aufgrund der Einheitlichkeit des Grundrechts umfasst der Regelungsvorbehalt das gesamte Grundrecht und nicht nur die Berufsausübungsfreiheit (BeckOK/Ruffert, Art. 12 GG, Rn. 74). Art 12 I GG steht damit unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt (Rn. 105). § 47 Nr. 2 Var. 1, § 48a BNotO erfüllt die Voraussetzungen, die an die Schranke gerichtet sind.
Eine Schranke liegt somit vor.
(2) Schranken-Schranke
Weiterhin müssten diese aber auch formell und materiell verfassungsgemäß sein.
(a) Formelle Verfassungsmäßigkeit
„(D)ie angegriffene Regelung (ist) formell verfassungsgemäß, insbesondere nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG kompetenzgemäß erlassen. (Rn. 106).
(b) Materielle Verfassungsmäßigkeit
Weiterhin müsste die Regelung aber auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Dieser verlangt, dass die angegriffene Regelung einen legitimen Zweck verfolgt, der Eingriff geeignet und erforderlich ist sowie die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne gewahrt ist.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch eine zunächst verfassungskonforme Regelung verfassungswidrig werden kann, wenn sich die Verhältnisse dergestalt ändern, dass die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit nicht mehr erfüllt werden (Rn. 107).
(aa) Legitimer Zweck
Zunächst müsste die Regelung einen legitimen Zweck verfolgen.
Ein Zweck ist jedenfalls dann legitim, wenn er seinerseits nicht verfassungsrechtlich unzulässig ist (BeckOK/Rux, Art. 20 GG, Rn. 193).
Welche Zwecke erfolgt werden, ergibt sich regelmäßig aus dem objektiven Willen des Gesetzgebers und ist mit Hilfe der anerkannten Auslegungsmethoden zu ermitteln.
Ausweislich diesem dient die Regelung unterschiedlichen legitimen Zwecken:
Die Regelung soll eine funktionstüchtige Rechtspflege gewährleisten (aa), denn ein überaltertes Notariat würde dazu führen, dass die nachrückenden Amtsträger wegen einer späteren Zulassung eine geringere Berufserfahrung haben und die Mandatierung einer bevorzugten Altersgruppe wäre schwieriger, sodass die Funktionsfähigkeit gefährdet wäre (Rn. 112).
Des Weiteren sollen durch die Regelungen einen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Zweck verfolgt werden, indem die Berufschancen zwischen den Generationen in einen gerechten Ausgleich gebracht werden (bb). Schließlich soll sichergestellt werden, dass die Leistungsfähigkeit der Notare, die durch ein erhöhtes Alter gefährdet sein könnte, gewahrt wird (cc) (Rn. 114 f.).
(bb) Geeignetheit
Die Regelung müsste ihrerseits aber auch geeignet sein, die unterschiedlichen legitimen Zwecke zu erreichen.
Der Geeignetheit ist dabei bereits genüge getan, wenn die Möglichkeit besteht, den Gesetzeszweck zu erreichen. Somit ist dies erst zu versagen, wenn dieser in keiner Weise gefördert wird oder sich sogar gegenläufig auswirkt (Rn. 121).
Indem die Altersgrenze dafür sorgt, dass durch das Ausscheiden lebensälterer Notare regelmäßig neue Stellen des gesetzlich kontingentierten Notarberufs frei werden (Rn. 123), eröffnet sie lebensjüngeren Anwärtern den Zugang zum Notarberuf.
Zwar sorgen die gewandelten tatsächlichen Gegebenheiten – die Zahl der geeigneten Kandidaten ist rückläufig, sodass ein dauerhaftes Defizit an Bewerben gegeben ist – dafür, dass die Altersgrenze nicht mehr die ursprüngliche Wirkung hat. Dennoch ist eine pauschale Bewertung hier verfehlt, vielmehr bedarf es einer genauen regionalen Differenzierung, denn dieser Rücklauf kann insbesondere für großstädtisch geprägte Bezirke nicht angenommen werden. Hier zeigt sich weiterhin ein Überangebot an Bewerbern, sodass die Regelung zur Förderung der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und der Berufschancen jüngerer Bewerber führt (Rn. 127). Demnach liegt eine Eignung weiterhin vor.
Weiterhin nehmen im Alter insbesondere kognitive Fähigkeiten weiter ab. Auch das Risiko einer Demenz steigt. Zwar sind diese negativen Entwicklungen stark individuell geprägt, sodass sich auch hier eine Pauschalisierung verbietet. Jedoch sorgt die Altersgrenze somit zumindest dafür, dass Berufsausübende erfasst werden, die die Eignung für das Amt nicht mehr erfüllen (Rn. 130 f.), sodass auch hierfür die Geeignetheit der Altersgrenze anzunehmen ist.
(cc) Erforderlichkeit
Die Regelung muss weiterhin auch erforderlich sein. Die Erforderlichkeit ist zu verneinen, wenn ein gleich wirksames Mittel zur Verfügung steht und dieses den Grundrechtsträger weniger und Dritte sowie die Allgemeinheit nicht stärker belastet.
Als milderes Mittel könnte eine allgemein auf das fünfundsiebzigste oder achtzigste Lebensjahr angehobene Altersgrenze in Frage kommen. Aufgrund der später eintreten Altersgrenze, wäre der Eingriff in die subjektive Berufswahlfreiheit geringer. Jedoch würde
„sich die Zahl der für den Berufsnachwuchs freiwerdenden Stellen jedenfalls in den Gebieten mit noch bestehendem Bewerberüberhang merklich verringerte. Ebenso verringerte sich die Zahl der altersbedingt nicht mehr ausreichend leistungsfähigen Notare, die von der Regelung erfasst werden“ (Rn. 134).
Auch eine Anknüpfung an die individuelle Leistungsfähigkeit könnte ein milderes Mittel darstellen (Rn. 135), denn das Erlöschen des Amtes anhand einer Leistungsüberprüfung wäre weniger eingriffsintensiv als ein genereller Ausschluss aufgrund einer starren Altersgrenze.
Allerdings:
„Eine Leistungsfähigkeitsprüfung im Einzelfall wäre jedoch in ihrer Wirksamkeit nicht gleichwertig, was die Zwecke der geordneten Altersstruktur im Interesse funktionstüchtiger Rechtspflege und der gerechten Verteilung der Berufschancen zwischen den Generationen betrifft. Denn legt man die Stellungnahmen des Deutschen Zentrums für Altersfragen und der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie zugrunde, wäre der Anteil der altersbedingt nicht mehr ausreichend leistungsfähigen Notare in der Altersgruppe ab dem vollendeten siebzigsten Lebensjahr eher gering. Dementsprechend führte die Regelung – ähnlich wie Maßnahmen nach § 50 Abs. 1 Nr. 7 BNotO – voraussichtlich nur zum Ausscheiden einer relativ kleinen Zahl von Notaren. Dies verringerte die Zahl der freiwerdenden Stellen im Vergleich zur jetzigen starren Altersgrenze“ (Rn. 136).
Auch eine örtliche Beschränkung auf Amtsbezirke, die einen Bewerberüberhang verzeichnen, jedoch würde dies nicht zu einer dauerhaften und verlässlichen Festlegung der Altersgrenze führen und mit erheblichen Unsicherheiten sowohl für die älteren Notare als auch für Rechtssuchende verbunden und zu einem erheblichen Verwaltungsaufwand führen (Rn. 139).
Gleiches gilt für eine Herabsetzung der Zugangsvoraussetzungen, die ebenfalls die verminderte Leistungsfähigkeit im Alter unberücksichtigt ließen und möglicherweise zu Qualitätseinbußen für Rechtssuchenden führen würden (Rn. 142).
Somit ist die Erforderlichkeit der Regelung gegeben.
(dd) Verhältnismäßigkeit i.e.S.
Maßgeblich für die Verhältnismäßigkeit ist eine Abwägung der sich widerstreitenden Interessen. Es bedarf hierbei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere der Belastung und dem verfolgten Zweck. Dabei darf der Zweck nicht außer Verhältnis zur Schwere des Eingriffs stehen.
Fraglich ist aber zunächst, welche Anforderungen an den Zweck zustellen sind. Zwingend zu beachten ist hierfür die vom BVerfG entwickelte Drei-Stufen-Lehre, die vorgibt, welche Anforderungen an den Zweck zu stellen sind (BeckOK/Ruffert, Art. 12 GG, Rn. 93). Die Anforderungen, die an die Rechtfertigung gestellt werden, hängt somit von der Eingriffsintensität ab.
Es bedarf somit einer Einordnung, ob die gesetzliche Altersgrenze eine Berufsausübungsreglung oder eine subjektive oder objektive Berufswahlregelung darstellt.
Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG (BVerfG, Beschl. v. 16.6.1959 – 1 BvR 71/57, BVerfGE 9, 338 (345); BVerfG, Beschl. v. 21.6.1989 – 1 BvR 32/87, BVerfGE 80, 257 (264)) handelt es sich bei der Festlegung einer Altersgrenze um eine subjektive Berufswahlbeschränkung (Dürig/Herzog/Scholz/Remmert, Art. 12 Abs. 1 GG, Rn. 204). Begründet wird dies damit, dass die Leistungsfähigkeit und damit individuelle Fähigkeiten mit dem Alter verbunden ist und somit in der Verantwortungssphäre des Berufstätigen liegt (Dürig/Herzog/Scholz/Remmert, Art. 12 Abs. 1 GG, Rn. 204).
Es bedarf somit im Rahmen der Rechtfertigung des Schutzes eines besonders wichtigen Gemeinschaftsgutes (BeckOK/Ruffert, Art. 12 GG, Rn. 97).
Berücksichtigung verdienen hierbei aber insbesondere die Schutzdimensionen des Art. 12 I GG, die sich einerseits auf die Entfaltung der Persönlichkeit bezieht, andererseits aber auch – natürlich – einen wirtschaftlichen Bezug aufweist (Rn. 103, 146).
Voraussetzung ist somit zunächst, dass die vom Gesetzgeber durch die Regelung verfolgten Ziele, Gemeinwohlbelange von erheblichem Gewicht schützen.
Die Funktionsfähigkeit der vorsorgenden Rechtspflege ist im Hinblick auf bestimmte Rechtsgeschäfte, die dem materiellen Recht folgend eine bestimmte Form erfordern, durchgeführt werden können. Dadurch wird sichergestellt, dass Rechtssuchende ihre durch das Grundgesetz – namentlich Art. 6 I, Art. 9 I, Art. 12 I und Art. 14 I GG – geschütztes Rechtsposition auch sicher wahrnehmen können (Rn. 161). Ein wichtiges Gemeinwohl liegt damit vor. Gleiches gilt für die ebenfalls bezweckte Generationengerechtigkeit, denn Art. 12 I GG schützt auch die Möglichkeit potenzieller Berufsträger einen Beruf – den Notarberuf – zu ergreifen (Rn. 162).
Einerseits dient die Regelung der Verwirklichung und Aufrechterhaltung schützenswerter Gemeinwohlbelange. Andererseits bedarf es einer genauen Bestimmung der Eingriffsqualität, um eine interessensgerechte Abwägung durchführen zu können.
Fest steht, das es sich um eine subjektive Berufswahlregelung handelt. Die Regelung führt zu einem zwingenden Erlöschen des Amtes, das aufgrund der Unverfügbarkeit des Alters auch alternativlos ist. Es bestehen zudem keine Ausnahmereglungen, die eine Möglichkeit der Anpassung vorsehen. Mitunter sind beide Schutzdimensionen des Art. 12 I GG, sowohl die Sicherung der wirtschaftlichen Lebensgrundlage als auch die Persönlichkeitsentfaltung erfasst. Es handelt sich dementsprechend um einen erheblichen Eingriff.
Fraglich ist, welche Rechtsposition nun überwiegt. Dafür ist auch von erheblicher Bedeutung, inwiefern die Altersgrenze – momentan – die Altersgrenze zu einer Verwirklichung der Gemeinschaftsgüter führt.
Für die Altersgrenze kann zunächst aufgeführt werden, dass sie weiterhin die Gefahren der sinkenden altersbedingten Leistungsfähigkeit berücksichtigt (Rn. 180, 184). Dagegen spricht aber, dass die abnehmende Leistungsfähigkeit nicht die Regel ist und ein Großteil der Amtsträger auch empirisch nachweisbar noch mit siebzig in der Lage ist, die Aufgaben des Amtes den Ansprüchen gemäß durchzuführen. Der Grad der Verwirklichung dieses Ziels ist somit gering.
Des Weiteren besteht in der Mehrzahl der Oberlandesgerichtsbezirke ein Mangel an Bewerbungen für das Anwaltsnotariat. Das basiert einerseits an der gesellschaftlichen Veränderung aufgrund des demographischen Wandels, aufgrund dessen ein Rückgang von niedergelassenen Rechtsanwälten festzustellen ist, die maßgeblich für das Amt in Betracht kommen (Rn. 170). Andererseits sind auch veränderte berufliche Präferenzen der jüngeren Generation – 2023/24 strebten nur 18% perspektivisch die Tätigkeit des Anwaltsnotars an – ausschlaggebend für den erhöhten Bewerbermangel (Rn. 172). Damit verbunden besteht nur eine geringe Zweckerreichung, die sich aus der Regelung der Altersgrenze ergibt.
„Konnte die Altersgrenze zum Zeitpunkt ihrer Einführung infolge einer zunehmenden Zahl von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, die ins Anwaltsnotariat strebten, jedenfalls die mit ihr verfolgten Zwecke, im Interesse funktionstüchtiger Rechtspflege eine geordnete Altersstruktur innerhalb des Notarberufs und eine gerechte Verteilung der Berufschancen zu erreichen, erheblich fördern, so ist dies heute nicht mehr der Fall. Die tatsächlichen Umstände haben sich gewandelt. Zwar gilt weiterhin, dass mit der Altersgrenze schützenswerte Gemeinwohlbelange von erheblichem Gewicht verfolgt werden, die zu erreichen sie auch im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet ist. Ein im Verhältnis zur Altersgrenze milderes Mittel ist nicht ersichtlich. Jedoch ist ihre Bedeutung für die Erreichung der Zwecke der funktionstüchtigen Rechtspflege und der gerechten Verteilung der Berufschancen aufgrund des fast flächendeckenden Bewerbermangels im Anwaltsnotariat evident geschwunden. Der Bewerbermangel ist zeitlich nachhaltig; er hat sich – wie oben dargestellt – über Jahre verstetigt und ist auch dem Gesetzgeber schon länger bekannt“ (Rn. 183).
Zwar bestehen grds. wichtige Gemeinwohlbelange, die durch die Altersgrenze erreicht werden sollen, allerdings steht das Maß der Belastung nicht mehr in einem tragfähigen Verhältnis zu der geringen Zweckerreichung, die zum hiesigen Zeitpunkt aus der Regelung erwachsen.
Die Reglung erweist sich somit nicht als Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne.
(ee) Zwischenergebnis
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist nicht gewahrt worden.
(c) Zwischenergebnis
Die Regelung ist materiell verfassungswidrig.
(3) Zwischenergebnis
Der Eingriff ist nicht gerechtfertigt.
dd) Ergebnis
Die Verfassungsbeschwerde ist bezüglich der § 47 Nr. 2 Var. 1, § 48a BNotO begründet.
b) BGH-Urteil
„Das mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Urteil des Bundesgerichtshofs hat trotz der hier festgestellten Unvereinbarkeit der Regelung der Altersgrenze mit Art. 12 Abs. 1 GG Bestand, weil die Regelung mit den genannten Maßgaben weiter anzuwenden ist (vgl. BVerfGE 158, 282 <388 Rn. 261>; 166, 196 <289 Rn. 247> – Gefangenenvergütung II). Die Verfassungsbeschwerde bleibt deshalb ohne Erfolg, soweit sie sich gegen diese Entscheidung richtet (vgl. BVerfGE 115, 276 <319>.“ (Rn. 191).
3. Endergebnis
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und (teilweise) begründet und hat somit (teilweise) Aussicht auf Erfolg.
IV. Einordnung der Entscheidung
Die Entscheidung zur Altersgrenze bei Anwaltsnotaren ist seit längerer Zeit mal wieder eine, die zum Berufsrecht ergangen ist. Zwar wird die Altersgrenze für das Anwaltsnotariat als verfassungswidrig erklärt, dennoch bleibt die Regelung bis zum 30. Juni 2026 in Kraft. Danach muss der Gesetzgeber tätig werden, möchte er weiterhin auch eine Regelung für Anwaltsnotare normiert haben. Wie er darauf reagieren wird, ist noch unklar. Jedenfalls ist das Urteil eine Absage an eine harte Altersgrenze. Darin kann aber keine Versagung grundsätzlicher Art gesehen werden. Vielmehr besteht wohl die Möglichkeit eine Altersgrenze zu schaffen, die Ausnahmeregelungen vorsieht. Zudem besteht auch die Möglichkeit, dass sich die Bundesländer, in denen es noch das Anwaltsnotariat gibt, von diesem abwenden und auch das Nur-Notariat einführen.
Gleichzeitig könnte die Entscheidung – das bleibt jedoch abzuwarten – ein Startschuss für die gerichtliche Überprüfung weiterer gesetzlicher Altersgrenzen, z.B. von Piloten sein. Allerdings sind Notare anders als z.B. Piloten primär nicht auf eine schnelle kognitive Informationsverarbeitung angewiesen, sodass hier keine automatische Gleichsetzung gegeben ist (Rn. 179). Außerdem gilt dies wohl nicht für Berufe, bei denen ein rein öffentliches Amt ausgeübt wird, denn die Entscheidung bezieht sich doch eindeutig auf die Altersgrenzen bei freien Berufen.